Vitamin D, ein fettlösliches Hormon, das durch UV-Strahlung in der Haut gebildet wird, spielt eine wichtige Rolle im Calcium- und Phosphatstoffwechsel, stärkt die Knochengesundheit und beeinflusst Immunzellen. Angesichts dieser vielfältigen Funktionen stellt sich die Frage, inwieweit Vitamin D mit Multipler Sklerose (MS) in Verbindung steht. Kann ein Vitamin-D-Mangel die MS beeinflussen? Welche Empfehlungen gibt es für die Einnahme von Vitamin D bei MS?
Multiple Sklerose: Eine Krankheit mit vielen Gesichtern
Multiple Sklerose (MS) ist eine Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems, von der weltweit etwa 2,8 Millionen Menschen betroffen sind. Bei MS greift das Immunsystem die Myelinscheiden an, die die Nervenbahnen (Axone) umhüllen und schützen. Diese Schädigung beeinträchtigt die Nervenleitgeschwindigkeit, was zu einer Vielzahl von Symptomen führen kann. MS wird auch als die Krankheit der 1.000 Gesichter bezeichnet, da sich die Symptome von Patient zu Patient stark unterscheiden können. Häufige Symptome sind Koordinationsprobleme, Sehstörungen, Lähmungen, Gefühlsstörungen der Haut und Fatigue, ein Zustand massiver Erschöpfung. Der EDSS (Expanded Disability Status Scale) bewertet den Schweregrad der Behinderung bei Patienten mit Multipler Sklerose. Die Skala reicht von null (keine Symptome) bis zehn (Tod durch MS) und bewertet Störungen in verschiedenen Funktionellen Systemen (FS) des Körpers: Pyramidenbahn, Kleinhirn, Hirnstamm, Sensorium, Blasen- und Mastdarmfunktion, Sehfunktion und zerebrale Funktionen.
Vitamin D als Risikofaktor für MS
Studien haben gezeigt, dass Vitamin D als Risikofaktor für das Auftreten von MS bestätigt werden kann. Es wurde festgestellt, dass MS in Ländern, die weiter vom Äquator entfernt liegen, häufiger auftritt. In diesen Ländern führt die geringere UV-Strahlung zu einem durchschnittlich niedrigeren Vitamin-D-Spiegel. Huntemann betont, dass eine geringe UV-Exposition, insbesondere im Kindesalter, einen Einfluss haben kann.
Eine Untersuchung aus den USA analysierte Daten von 469 MS-Patienten über einen Zeitraum von fünf Jahren. Zu Studienbeginn hatten alle Patienten entweder eine Verdachtsdiagnose (klinisch isoliertes Syndrom; CIS) oder einen schubförmigen MS-Verlauf. Die Ergebnisse zeigten, dass eine Zunahme der Vitamin-D-Konzentration im Blut um 10 ng/ml mit einem um 15 % reduziertem Risiko für neue T2-Läsionen einherging. Das Risiko für neue Kontrastmittel-anreichernde Läsionen war sogar um 32 % niedriger. Höhere Vitamin-D-Spiegel gingen auch mit einem geringeren Risiko für neue Schübe einher. Die Arbeit zeigt sehr eindrücklich, dass Patienten mit niedrigen Vitamin-D-Spiegeln im Blut ein deutlich höheres Risiko für das Auftreten von neuen Läsionen im Gehirn haben. Ähnliche, aber nicht so ausgeprägte Effekte wurden auch für das Auftreten von neuen Schüben beobachtet.
Einfluss von Vitamin D auf den Krankheitsverlauf
Für MS-Betroffene ist besonders interessant, welchen Einfluss die Einnahme von Vitamin D auf den Krankheitsverlauf haben kann. Kann das Risiko für neue Schübe und Läsionen reduziert werden? Huntemann stellt Studien vor, die den Effekt von Vitamin D zusätzlich zu einer Basistherapie untersuchten. Der Effekt lässt sich anhand der Studien jedoch nicht eindeutig bestimmen. Es gibt keine eindeutige Beweislage in Studien für die hochdosierte Einnahme von Vitamin D bei MS.
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Eine randomisierte, placebokontrollierte Studie untersuchte die Wirkung von oralem Vitamin D3 (Cholecalciferol) bei Menschen mit klinisch isoliertem Syndrom (KIS). Die Studienteilnehmer bekamen zwei Jahre lang eine Dosierung von 100.000 IU alle zwei Wochen oder Placebo. Die Vitamin-D-Gabe reduzierte dabei die Krankheitsaktivität, definiert als Auftreten von MS-Schüben und/oder neuen oder Kontrastmittel-aufnehmenden Läsionen in der Magnetresonanztomografie (MRT).
Eine aktuelle randomisierte, placebokontrollierte, multizentrische Studie aus Frankreich untersuchte die Wirkung von oralem Vitamin D3 (Cholecalciferol) in einer Dosierung von 100.000 IU alle 2 Wochen auf die Krankheitsaktivität bei Patient*innen mit klinisch isoliertem Syndrom, dem mutmaßlich ersten Symptom einer MS. Die Vitamin-D-Gabe über 2 Jahre führte zu einer geringeren Krankheitsaktivität. Die Krankheitsaktivität wurde definiert durch das Auftreten von MS-Schüben und/oder neuen oder Kontrastmittel-aufnehmenden Läsionen im MRT.
In einer Doppelblindstudie mit Placebokontrolle bei RRMS-Patienten mit niedrigen Vitamin-D-Konzentrationen wurde zu Interferon beta-1a ergänzend Vitamin D über 96 Wochen mit Placebo verglichen. Obwohl das vorrangige Ziel der Studie nicht erreicht wurde, legen die Daten einen möglichen Behandlungseffekt von Cholecalciferol bei Patienten mit RRMS unter Interferon beta-1a und mit niedrigen 25OHD-Serumwerten nahe.
Hochdosiertes Vitamin D bei CIS
Eine Studie untersuchte, ob eine höhere Vitamin-D-Dosis bei Patienten mit Multipler Sklerose (MS) hilfreich sein kann. 316 Patienten mit einem klinisch isolierten Syndrom (CIS) erhielten entweder hochdosiertes Vitamin D (100.000 I.E. alle zwei Wochen) oder Placebo. Nach zwei Jahren hatte bei 94 Patienten (60,3 %) in der Vitamin-D-Gruppe und bei 109 Patienten (74,1 %) in der Placebogruppe die Krankheitsaktivität zugenommen. Mit einer Hazard Ratio (HR) von 0,66 hatten Patienten mit hochdosiertem Vitamin D ein um 34 % geringeres Risiko für eine Krankheitsprogression als Patienten mit Placebo. Die Number needed to treat (NNT) geben die Studienautoren mit 7,2 an, was bedeutet: Man müsste sieben CIS-Patienten Vitamin D in der untersuchten Dosis verabreichen, um bei einem das Fortschreiten der Erkrankung zu verhindern. Unter Vitamin D dauerte es etwa sieben Monate länger, bis es zur Progression (gemessen als Schub und/oder MRT-Aktivität) der Erkrankung kam (Vitamin D: 432 Tage vs. Placebo: 224 Tage).
Am meisten profitierten CIS-Patienten von Vitamin D, wenn sie bei der Diagnosestellung einen schweren Vitamin-D-Mangel aufwiesen. Auch war Vitamin D effektiver bei CIS-Patienten, die bei Studienbeginn keine Rückenmarksläsionen zeigten und keine Glucocorticoide zur CIS-Behandlung erhielten.
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Das Coimbra-Protokoll: Vorsicht geboten
Bei dem so genannten COIMBRA-Protokoll werden exzessiv hohe Dosierungen von Vitamin D zur Behandlung von Autoimmunerkrankungen wie Multipler Sklerose (MS) angewendet. Die Vitamin-D-Dosen sind so hoch (beispielsweise bei MS bis zu 150.000 I.E./Tag), dass gleichzeitig eine strikte kalziumarme Diät eingehalten werden muss und eine tägliche Trinkmenge von mindestens 2,5 l vorgeschrieben wird. Angesichts fehlender aussagekräftiger Evidenz für einen Nutzen und gravierender Sicherheitsbedenken raten wir von der Anwendung des „COIMBRA-Protokolls“ dringend ab.
Empfehlungen und Vorsichtsmaßnahmen
Die aktuelle S3-Leitinie zur Diagnose und Therapie der MS empfiehlt derzeit die Vitamin-D-Supplementierung nur, wenn ein Mangel besteht. Bei Normalwerten könne aber die Gabe bis in den hochnormalen Bereich von 50-125 nmol/l erwogen werden. Die tägliche Dosis sollte 4000 IU nicht überschreiten.
Es gibt Patient*innen, die sog. Ultra-Hochdosis-Therapien von bis zu 100.000 IU Vitamin D pro Tag einnehmen. Von solchen hohen Dosen raten wir ab, da sie zu schweren Folgekrankheiten wie Nierenversagen oder Herzrhythmusstörungen führen können. Er warnt ausdrücklich davor, Vitamin D in hoher Dosierung ohne ärztliche Verschreibung einzunehmen.
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