Musiktherapie bei Alzheimer: Eine umfassende Betrachtung

Die Musiktherapie hat sich als vielversprechender Ansatz in der Behandlung von Menschen mit Alzheimer und anderen Demenzformen etabliert. Sie zielt darauf ab, das Wohlbefinden zu steigern, die Kommunikationsfähigkeit zu verbessern und positive Emotionen hervorzurufen. Dieser Artikel beleuchtet die verschiedenen Aspekte der Musiktherapie bei Alzheimer, von den wissenschaftlichen Grundlagen bis hin zu praktischen Anwendungen und zukünftigen Forschungsrichtungen.

Einleitung

Demenz ist eine fortschreitende neurodegenerative Erkrankung, die Gedächtnis, Denken, Verhalten und Emotionen beeinträchtigt. In Deutschland leben derzeit rund 1,84 Millionen Menschen mit Demenz. Da die Bevölkerung immer älter wird, wird diese Zahl voraussichtlich auf 2,7 Millionen im Jahr 2050 ansteigen, wenn kein Durchbruch in Prävention oder Therapie gelingt. Die nicht-medikamentöse Behandlung von Demenz umfasst eine Vielzahl von Therapien, die das Wohlbefinden der Erkrankten stärken und ihre Selbstständigkeit so lange wie möglich erhalten sollen. Im Mittelpunkt steht, den Erkrankten die Teilhabe am Alltag und am sozialen Leben zu ermöglichen. Gleichzeitig können diese Ansätze dazu beitragen, herausfordernde Verhaltensweisen zu mildern und für mehr Ausgeglichenheit zu sorgen. Eine dieser Therapieformen ist die Musiktherapie.

Wissenschaftliche Grundlagen der Musiktherapie bei Demenz

Positive Einflüsse von Musik auf Demenzkranke

Dass Musik auf viele Menschen mit Demenz einen positiven Einfluss hat, ist aus der musiktherapeutischen Praxis zwar schon lange bekannt. Musik kann beleben, aktivieren und die Stimmung aufhellen. Menschen mit einer Demenz, deren Gedächtnis stark eingeschränkt ist, können sich plötzlich wieder an Liedtexte und Situationen erinnern, wenn sie Lieder aus ihrer Jugendzeit hören.

Empirische Quantifizierung der Wirkungen

Frankfurter Psychologen haben ein methodisches Vorgehen entwickelt, diese aus der Erfahrung bekannten Wirkungen empirisch zu quantifizieren. Arthur Schall, Musikwissenschaftler und Psychologe im Arbeitsbereich Altersmedizin der Goethe-Universität, untersuchte in einer zweijährigen Pilotstudie mit Musiktherapeuten der Fachhochschule Frankfurt am Main die Auswirkungen von Musik auf Menschen mit fortgeschrittener Demenz, die im häuslichen Umfeld gepflegt wurden. Die Forscher konnten nachweisen, dass sich nonverbale Kommunikationsfähigkeit, Wohlbefinden und emotionaler Ausdruck der demenzkranken Menschen während einer Musiktherapie signifikant verbessern. „Menschen haben ein elementares Bedürfnis, sich mitzuteilen. Wenn die Sprachfähigkeit nachlässt, gewinnen nonverbale Kommunikationsformen zunehmend an Bedeutung und ermöglichen insbesondere auch die Äußerung von Emotionen“, erklärt Schall.

Studienlage

Die publizierte wissenschaftliche Evidenz zur therapeutischen Bedeutung von Musik bei demenziellen Erkrankungen ist im Vergleich zu medikamentösen Therapieansätzen bei Demenz gering. Trotzdem: Gab es zum Thema Musik und Demenz im Jahr 2000 noch insgesamt 16 wissenschaftliche Beiträge pro Jahr (PubMed: Suchworte „music“ und „dementia“), ist deren Anzahl im Jahr 2021 auf 123 angestiegen. Leider sind davon nur 9 Publikationen als „klinische Studien“ klassiert, was die Hauptherausforderung in dieser „jenseits des Mainstreams“ gelegenen Thematik unterstreicht: Planung und Durchführung guter randomisierter, kontrollierter Interventionsstudien sind extrem anspruchsvoll.

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Aktive und passive Musikinterventionen

In einer kürzlich veröffentlichten randomisierten, kontrollierten spanischen Interventionsstudie [1] unter Einschluss von 90 Pflegeheimbewohnern mit leichter bis mittelschwerer Alzheimer-Erkrankung wurde eine aktive musikalische Gruppenintervention mit passivem Musikhören (ebenfalls im Gruppensetting) verglichen - als Kontrolle diente eine Gruppe ohne Musikintervention. Die aktive Musikgruppenintervention bestand in einem Willkommenslied, Rhythmik, Tanzen, einem Musikquiz und einem Abschiedslied. Die Musikhörgruppe bekam in sitzender Position Musikaufzeichnungen aus dem Computer zu hören, wobei jeweils Sänger wie Titel der gespielten Musik vom Gruppenanimator bekannt gegeben wurden und auch die Möglichkeit für die Pflegeheimbewohner bestand, ihre Erinnerungen und Gefühle zur gehörten Musik auszudrücken und zu diskutieren. Die Wahl der gespielten Musikstücke wurde mit den vorher mittels Fragebogen ermittelten Musikpräferenzen der Studienteilnehmer abgestimmt. Der Kontrollgruppe wurden dokumentarische Naturvideos gezeigt, die vor allem von der afrikanischen Tierwelt handelten und akustisch lediglich Naturgeräusche und keine Musik beinhalteten. Jede Intervention dauerte rund 45 min und fand 2‑mal wöchentlich über 3 Monate statt.

Effekte von aktivem Musikmachen

Eine ebenfalls kürzlich veröffentlichte systematische Übersicht und Metaanalyse [2] untersuchte die Effekte von aktivem Musikmachen bei Patienten mit leichter kognitiver Beeinträchtigung und Demenz. Dabei wurden 21 randomisierte, kontrollierte Studien mit insgesamt 1472 Teilnehmern in die Analyse eingeschlossen. Alle Studien nutzten entweder die Reproduktion von Musik mit Singen bzw. Spielen eines Musikinstruments oder Musikimprovisation aus dem Moment heraus. Über alle Studien zeigte die Musikintervention einen kleinen, aber signifikanten positiven Effekt auf die Kognition der Studienteilnehmer.

Musikalisches Langzeitgedächtnis

Jacobsen et al. [3] zeigten im Jahr 2015 eindrücklich auf, dass das Hirnareal des musikalischen Langzeitgedächtnisses (Abb. 1) im Verlauf einer Alzheimer-Erkrankung - verglichen mit dem restlichen Hirn - lediglich eine minimale kortikale Atrophie und Disruption des Glukosemetabolismus aufweist. Dies erklärt die immer wieder gemachte klinische Beobachtung, dass Patienten in fortgeschrittenen Demenzstadien mit Sprachverlust beim Hören von bekannten Liedmelodien fehlerfrei ganze Liedstrophen mitsingen können.

Stärkung des verbalen Gedächtnisses

Dass Musik das verbale Gedächtnis von Patienten mit Alzheimer-Erkrankung stärken kann, wurde in einer anderen, im selben Jahr publizierten Interventionsstudie [4] gezeigt. Kognitiv Gesunde wie auch Menschen mit leichter Alzheimer-Demenz konnten sich an gesungene Texte im Vergleich zu den gleichen, aber gesprochenen Texten signifikant besser erinnern. Dreimonatige musikalische Gruppeninterventionen bei Patienten mit früher Alzheimer-Erkrankung führten unmittelbar und auch 6 Monate nach Intervention zu signifikanten kognitiven, emotionalen und sozialen Verbesserungen [5].

Wirkungsweise der Musiktherapie

Aktivierung von Erinnerungen und Emotionen

Musik kann bei Menschen mit Demenz Erinnerungen an Kindheit und Jugend wachrufen, da musikalische Fertigkeiten im prozeduralen Gedächtnis gespeichert werden. Selbst wenn kognitive Fähigkeiten bereits eingeschränkt sind, lassen sich über vertraute Musik emotionale Reaktionen hervorrufen. Dadurch können alte Erlebnisse wieder erzählt und die Kommunikationsfähigkeit angeregt werden. Auch die äußere Beweglichkeit und wichtige Vitalfunktionen profitieren von der Aktivierung durch Musik.

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Linderung von Begleiterscheinungen

Bei Demenz kann Musiktherapie zwar nicht die Ursache des Gedächtnisverlustes beheben. Doch sie kann positive Emotionen auslösen, Begleiterscheinungen wie Depression mildern, soziale Teilhabe ermöglichen und so den Krankheitsverlauf positiv beeinflussen. Auch die Lebensqualität pflegender Angehöriger verbessere sich, so die Bundesinitiative "Musik und Demenz".

Verbesserung der Lebensqualität

Die Musik knüpft hier also an schwergewichtige Ressourcen an. Diese alten musikalischen Erfahrungen erweisen sich als “resistent” gegen das Vergessen. Ein altersdementer Patient, der die Orientierung zu sich selbst verloren hat und seinen einen Namen nicht mehr aussprechen kann, kann aber mühelos ein vier-strophiges Volkslied singen. Die Erfahrung, dies noch zu können, trägt zum Identitätserhalt, zum Angstabbau und somit zu einem großen Stück Lebensqualität bei, aber auch zur Bewunderung durch die soziale Umwelt. Demenzerkrankte verfügen zudem noch sehr lange über emotionale Fähigkeiten, auch wenn die kognitiven schon weitgehend eingeschränkt sind. Diese emotionalen Fähigkeiten können mit Hilfe vertrauter Musik gezielt angeregt werden. Das mündet nicht selten in erhöhte Wachheit und Verbalisierungsfähigkeit: Erlebnisse aus dem Altgedächtnis können wieder erzählt werden.

Individuelle Musikpräferenzen

Die Wahl der gespielten Musikstücke wurde mit den vorher mittels Fragebogen ermittelten Musikpräferenzen der Studienteilnehmer abgestimmt.

Musik als Erinnerungsträger

Musik aktiviert Assoziationen an - meist positiv besetzte - Erlebnisse der Vergangenheit und kann helfen, Lebensbilanzen besser zu bewerten und die brüchig gewordene Identität zu stabilisieren.

Praktische Anwendung der Musiktherapie

Musik im Alltag

Wie es gelingt, Musik im Alltag so einzusetzen, dass sie ihre positive Wirkung entfalten kann, zeigt die Broschüre „Musik in der Begleitung von Menschen mit Demenz“, die sich vorrangig an An- und Zugehörige richtet.

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Verschiedene Wege der Musiktherapie

„Musik hören, singen, selbst musizieren oder sich zu Musik bewegen und tanzen - es gibt ganz unterschiedliche Wege, auf denen Musik wirken kann“, sagt Swen Staack, 1. Vorsitzender der Deutschen Alzheimer Gesellschaft.

Individualisierte Musikintervention

In unseren Forschungsprojekten wird die persönliche Lieblingsmusik über Fragebögen und Interviews mit den Angehörigen und, wenn möglich, auch den Menschen mit Demenz erfragt und von uns als Musikliste zusammengestellt. Nach der erfolgreichen Umsetzung einer Pilotstudie mit 20 teilnehmenden Menschen mit Demenz in einem Pflegeheim im Jahr 2016 wurde von Januar 2018 bis April 2021 in der Abteilung Klinisch-psychologische Intervention der Universität Jena unter Leitung von Prof. Dr. In diesem vom GKV-Spitzenverband der Pflege- und Krankenkassen geförderten Projekt (Fördervolumen: 342.514,33 Euro) wurde untersucht, wie Menschen mit Demenz aller Schweregrade, die in einem Pflegeheim leben, das regelmäßige Hören von individualisierter Musik annehmen. Beobachtet wurde, wie sich die Musikintervention auf die Lebensqualität und das Wohlbefinden sowie das soziale Miteinander und herausfordernde Verhalten von Menschen mit Demenz auswirkt. Es handelte sich um eine randomisiert-kontrollierte Studie mit einer Interventions- und Kontrollgruppe und einem Prä-Post-Follow-up-Design. Dies bedeutet, dass die teilnehmenden Menschen mit Demenz zufällig einer von zwei Gruppen zugeteilt wurden. In der Vergleichsgruppe erhielten die Menschen mit Demenz keine Musikintervention und bestritten ihren Alltag im Pflegeheim wie gehabt. In der Interventionsgruppe hörten die Menschen mit Demenz über 6 Wochen hinweg alle zwei Tage über ein tragbares Abspielgerät (MP3-Player) und Kopfhörer ihre Lieblingsmusik. Alle Schritte der Umsetzung wurden detailliert dokumentiert.

Unterstützung beim Musikhören

Menschen mit Demenz werden beim Musikhören begleitet von Mitarbeitenden des Projektteams oder des Pflegeheims, Angehörigen oder Ehrenamtlichen.

Beispiel einer Musikliste

Die Angehörigen und Teilnehmenden mit Demenz werden nach Lieblingsliedern und Lieblingsinterpretierenden gefragt, aber auch, welche Musik auf besonderen Ereignissen wie beispielsweise Familienfeiern gehört wurde. So entstehen sehr individuelle, jeweils ca. 20 min. lange Musiklisten.

Musiktherapie in verschiedenen Stadien der Demenz

Musiktherapie kann in allen Krankheitsstadien eine förderliche Wirkung haben. Musik zu machen oder zu hören weckt positive Erinnerungen und Gefühle. Das gilt besonders für das Musizieren oder Musik hören in der Gruppe.

Weitere Therapieformen

Auch die Tanztherapie kann in allen Krankheitsstadien eine förderliche Wirkung haben. Tanzen ist Bewegung und wirkt befreiend. Dadurch werden positive Gefühle geweckt. Die Mal- und Kunsttherapie kann auch Verbesserungen des Wohlbefindens liefern.

Musiktherapie in der Geriatrie und Gerontopsychiatrie

Für die häufigsten psychischen bzw. psychiatrischen Erkrankungen im Alter - Depression und Altersdemenz - bietet Musiktherapie grundlegende Hilfen. Aber auch bei Schlaganfall und Parkinson leistet Musiktherapie unersetzliche Dienste.

Musikmachen fördert die Bereitschaft zu experimentieren

Musikmachen fördert darüber hinaus die Bereitschaft zu experimentieren, sich probehalber auf neue Erfahrungen einzulassen und neue Lösungswege zu suchen.

Einbeziehung aller an der Pflege beteiligten Menschen

Die Forschenden um Naomi Thompson vom Institut für Musiktherapieforschung an der Anglia Ruskin University in Cambridge empfehlen, dass alle an der Pflege beteiligten Menschen in die Musiktherapie mit einbezogen werden und etwa individuelle Wiedergabelisten erstellen.

Herausforderungen und Zukunftsperspektiven

Fehlende Anerkennung in Deutschland

In Deutschland ist die Musiktherapie allerdings noch nicht flächendeckend etabliert. Es gibt sie nur punktuell in Pflegeeinrichtungen oder als Modellprojekt - obwohl der Bedarf durch die alternde Bevölkerung steigt. "Die Musiktherapie grundsätzlich kämpft derzeit sehr stark um ihre gesundheitspolitische Anerkennung", sagt Musiktherapeut Sonntag. Anders als in Deutschland ist der Beruf des Musiktherapeuten in Österreich gesetzlich geschützt. Auch in Großbritannien gelten berufsrechtliche Standards für sämtliche kreativtherapeutischen Tätigkeiten. Der internationale Vergleich zeigt: Deutschland hinkt bei der strukturellen und finanziellen Umsetzung von Kreativtherapien hinterher.

Organisatorische und finanzielle Aufwendungen

Nichtmedikamentöse Therapieformen bei Demenz haben im Vergleich zu medikamentösen Therapien den großen Vorteil fehlender medikamentöser Interaktionen und Nebenwirkungen. Allerdings sind sie organisatorisch wie auch hinsichtlich der Finanzierung aufwendiger in der Umsetzung.

Bedarf an weiterer Forschung

Weitere Forschung zu den Langzeiteffekten von Musiktherapie ist erforderlich.

Europäischer Musiktherapie-Kongress

Aus diesem Grund diskutieren die Teilnehmenden des Europäischen Musiktherapie-Kongresses in Hamburg vom 23. bis zum 27. Juli 2025 unter anderem über musiktherapeutische Ansätze bei Demenz und darüber, wie kreative Therapien künftig besser verankert und internationaler gedacht werden können.

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