Narkose bei Myasthenie: Risiken und Besonderheiten

Die Myasthenia gravis (MG) ist eine seltene neurologische Erkrankung, die durch Muskelschwäche gekennzeichnet ist, welche sich bei Belastung verstärkt und nach Ruhephasen bessert. Ursächlich ist eine Autoimmunreaktion, bei der Antikörper die Acetylcholin-Rezeptoren an der neuromuskulären Endplatte blockieren und zerstören. Dies beeinträchtigt die Reizübertragung von Nerv zu Muskel. Die Erkrankung kann verschiedene Muskelgruppen betreffen, von kleinen Augenmuskeln bis hin zur Atemmuskulatur, was zu lebensbedrohlichen Notfällen führen kann.

Epidemiologie und Krankheitsverlauf

Mit einer Prävalenz von etwa 1 zu 5000 und einer Inzidenz von 10 Neuerkrankungen pro Million Einwohner ist die Myasthenie eine seltene Erkrankung. Allerdings scheint sie in den letzten Jahren häufiger aufzutreten, was möglicherweise auf verbesserte Diagnosemethoden und eine höhere Lebenserwartung zurückzuführen ist. Die Ausprägung der Symptome variiert stark, von geringfügigen Beeinträchtigungen bis hin zu schwerer Muskelschwäche, die eine Intubation erforderlich macht.

Unbehandelt weiten sich die Muskellähmungen im Laufe der Zeit aus. Zunächst sind häufig die Augen- und Gesichtsmuskeln betroffen, später auch die Nackenmuskulatur, die proximalen Muskeln der Extremitäten und schließlich die Atemmuskulatur. Vor etwa 80 Jahren endeten mehr als 30 % der Fälle tödlich.

Grundsätzlich kann die Myasthenia gravis in jedem Alter auftreten, wobei es zwei Erkrankungsgipfel gibt: um das 30. Lebensjahr (überwiegend Frauen) und um das 70. Lebensjahr (eher Männer). Die Ursache der Autoimmunreaktion ist bis heute unbekannt. Es gibt zwar Hinweise auf eine familiäre Häufung von Autoimmunerkrankungen, aber keine eindeutigen genetischen Beweise für eine Erblichkeit. Die Myasthenia gravis kann auch zusammen mit anderen Autoimmunerkrankungen auftreten.

Merkmale der neuromuskulären Transmission

Acetylcholin (ACh) spielt mit seinen nicotinergen Acetylcholin-Rezeptoren (AChR) an der motorischen Endplatte eine entscheidende Rolle bei der neuromuskulären Übertragung. Das Signal des Motoneurons führt zur Freisetzung von ACh, das an die Rezeptoren der Muskelzelle bindet und dort die Öffnung von Natriumkanälen und die Muskelkontraktion auslöst. ACh wird rasch durch eine Esterase gespalten, und das Cholin wird in die Nervenzelle rückresorbiert und recycelt.

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Bei Myasthenia gravis werden Autoantikörper gegen die AChR gebildet, die deren Zerstörung bewirken. Wenn mehr als 50 % der AChR inaktiviert sind, treten Muskelermüdungserscheinungen bzw. Lähmungen auf. Neben AChR-Antikörpern können auch solche gegen abbauende Folgeprozesse (z. B. Anti-MuSK) vorkommen, sowie eine Komplement-Aktivierung erfolgen. Dies führt zur Zerstörung der postsynaptischen Muskelzellmorphologie und zum Funktionsverlust der Endplatte.

Klinische Merkmale, Symptomatik und Verlauf

Viele Patienten berichten zunächst über okuläre Probleme wie Sehstörungen (Doppelbilder) und/oder Ptosis (hängendes Augenlid). Im weiteren Verlauf können bulbäre Symptome (Kau-, Schluck-, Sprechstörungen) hinzukommen. Die Muskelschwäche breitet sich oft auf weitere Bereiche der Willkürmotorik aus: Nacken, Schulter, Oberarm, Oberschenkel, bis hin zur Atemmuskulatur. In diesem Fall spricht man von einer generalisierten Myasthenia gravis, die sich bei den meisten Betroffenen nach etwa zwei bis drei Jahren entwickelt.

Ein wichtiges diagnostisches Merkmal ist die rasche Ermüdbarkeit beanspruchter Muskeln, die sich nach einer Ruhephase wieder bessert. Auch die Tatsache, dass Muskeltätigkeiten am Morgen weniger beeinträchtigt sind und sich im Tagesverlauf verschlechtern, kann auf eine Myasthenia gravis hinweisen.

Die klinische Situation und der Schweregrad der betroffenen Muskelgruppen werden anhand eines Klassifizierungssystems erfasst. Weitere Klassifikationsmöglichkeiten berücksichtigen den Krankheitsbeginn, die Antikörper-Spezifitäten und die Thymus-Histologie. Der serologische Laborbefund zum Nachweis spezifischer Antikörper gewinnt zunehmend an Bedeutung und kann auf das Vorliegen eines Thymoms hinweisen.

Diagnostik

Grundlage der Diagnostik sind eine gründliche Anamnese, die klinischen Befunde und insbesondere die körperliche Untersuchung. Dabei werden wiederholte Muskelbewegungen durchgeführt, um die rasche Ermüdbarkeit festzustellen (z. B. Augen-Lidschluss, Handöffnen). Auch der Simpson-Test (längeres Nachobenblicken mit Ptosis-Provokation) oder der Einsatz von Kälte-Packs, die eine Verbesserung der Muskelleistung bewirken, können eingesetzt werden.

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Die elektrophysiologische Untersuchung zeigt nach repetitiver Nervenstimulation eine typische Amplitudenabnahme (Dekrement von > 10 %) des Nervs, der den Muskel versorgt. Im Labor ist der Nachweis von Antikörpern im Serum, insbesondere gegen AChR, aufschlussreich. Allerdings ist ein positiver AChR-AK-Nachweis nicht beweisend, da er auch beim Lambert-Eaton-Syndrom, der amyotrophen Lateralsklerose und einigen anderen Erkrankungen vorliegen kann. Bildgebende Verfahren (CT, MRT) des Brustkorbs sind zur Feststellung von Veränderungen am Thymus stets angebracht, da ein eventuell vorliegendes Thymom erkennbar wird.

Therapeutische Möglichkeiten

Die Therapie orientiert sich am Verlauf, am aktuellen Krankheitszustand, der Verträglichkeit und dem Ansprechen auf die Maßnahmen. Wesentliche Ziele sind die Remission von Muskellähmungen, die Verhinderung weiterer Progredienz sowie eine Vorbeugung von lebensbedrohlichen Krisen.

Folgende Therapieprinzipien können grundsätzlich in Betracht gezogen werden:

  • Symptomatische Basis-/Dauermedikation mit Hemmstoffen der Acetylcholinesterase
  • Immunsuppressive Dauertherapie
  • Thymektomie
  • Plasmapherese
  • Gabe von Immunglobulinen
  • Reserve-Optionen (Gabe von Antikörpern bzw. Komplement-Inhibitoren)

Da die Myasthenia gravis überwiegend leicht beginnt, kann sich die Zeit bis zur sicheren Diagnose über Monate oder sogar Jahre hinziehen. In der Regel wird medikamentös zunächst mit Acetylcholinesterase-Inhibitoren behandelt. Im weiteren Krankheitsverlauf wird dann ein Glucocorticoid gebraucht. Bei Bedarf wird ein Immunsuppressivum hinzugefügt, nicht zuletzt, um Glucocorticoide zu sparen, was die Verträglichkeit insgesamt verbessert.

Dennoch kann es infolge besonderer Umstände (z. B. Stress, Infektionen, Medikamente) zu krisenhaften Zuständen kommen, bei denen eine intensivmedizinische Behandlung mit Beatmung erforderlich wird.

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Narkose bei Myasthenie: Risiken und Management

Die Narkose bei Patienten mit Myasthenie erfordert besondere Vorsicht, da verschiedene Medikamente die neuromuskuläre Funktion beeinflussen und das Risiko von Komplikationen erhöhen können.

Präoperative Vorbereitung

  • Sorgfältige Anamnese und Untersuchung: Eine ausführliche klinische Untersuchung ist für die Beurteilung des kardiopulmonalen und neurologischen Status unverzichtbar. Die Stadieneinteilung nach Osserman liefert Informationen zu Dauer und Ausprägung der Erkrankung und ermöglicht eine präoperative Risikoeinschätzung.
  • Medikamentenmanagement: Die Medikation eines gut therapierten Patienten sollte bis zur Narkoseeinleitung im bisherigen Tagesrhythmus fortgeführt werden. Dies gilt insbesondere für die Cholinesteraseinhibitoren. Immunsuppressiva und Steroide können vorübergehend in der Dosis reduziert bzw. pausiert werden, um Wundheilungsstörungen zu vermeiden (cave: kein abruptes Absetzen von Glucocorticoiden).
  • Zusätzliche Untersuchungen: Bei größeren Eingriffen (z. B. Thymektomie) muss präoperativ die Lungenfunktion untersucht werden. Neben den üblichen Laboruntersuchungen muss ein Elektrolytstatus erhoben werden, der auch Kalzium-, Phosphor- und Magnesiumspiegel beinhaltet.
  • Vermeidung von Risikofaktoren: Elektive Operationen sollten nach Möglichkeit dann durchgeführt werden, wenn keine oder nur geringe Symptome der Myasthenie vorliegen. Ansonsten ist zuvor eine medikamentöse Optimierung anzustreben. Abhängig von der Dringlichkeit des Eingriffs und der Schwere der Symptome sind auch Austauschverfahren (IA, PLEX) in Erwägung zu ziehen.

Anästhesieverfahren

  • Regionalanästhesie: Wenn möglich, sollte die Regionalanästhesie (peripher oder rückenmarksnah) bevorzugt werden. Der Vorteil der Regionalanästhesie liegt im Verzicht von Narkotika und Muskelrelaxanzien bei suffizienter Analgesie und verbesserter Ventilation. Das Risiko postoperativer Komplikationen wird dadurch erheblich verringert.
  • Allgemeinanästhesie: Wenn eine Vollnarkose notwendig wird, können Propofol, Opioide und nicht depolarisierende Muskelrelaxantien zur Einleitung und Aufrechterhaltung eingesetzt werden (z. B. Propofol, Remifentanil, Rocuronium). Für Muskelrelaxantien ist häufig eine geringere Dosis als bei Gesunden notwendig. Auf den Einsatz depolarisierender Relaxantien sollte verzichtet werden. Ein Monitoring von Narkosetiefe und Relaxierung ist obligat. Die Extubation darf erst bei ausreichender Spontanatmung und vorhandenem Hustenreflex erfolgen.

Medikamentenauswahl

  • Muskelrelaxanzien: Die Gabe von Muskelrelaxanzien bei Patienten mit Myasthenia gravis ist ein zentrales Thema. Die Zerstörung der neuromuskulären Endplatte macht die Patienten außerordentlich sensibel gegenüber nichtdepolarisierenden Muskelrelaxanzien. Ein TOF-Quotient unter 0,90 vor Einleitung der Narkose weist auf eine erhöhte Sensibilität hin und macht eine vorsichtige Titrierung notwendig. Die Kombination eines steroidalen Muskelrelaxans (Rocuronium, Vecuronium) zur Narkoseeinleitung und -führung und die Gabe des Enkapsulators Sugammadex zur Aufhebung der neuromuskulären (Rest-)Blockade am Ende der Operation erscheint pharmakokinetisch und -dynamisch am sinnvollsten.
  • Opioide und Hypnotika: Patienten mit Myasthenia gravis haben kein verändertes Ansprechen auf Opioide oder Hypnotika. Empfohlen wird, eine total intravenöse Anästhesie mit kurz wirksamen Medikamenten wie Propofol und Remifentanil gegenüber länger wirksamen Substanzen mit potenziellem postoperativem Überhang (z. B. Fentanyl, Dormicum).
  • Inhalationsanästhetika: Auch schnell abflutende inhalative Anästhetika (Desfluran, Sevofluran) eignen sich gut zur Aufrechterhaltung der Narkose. Sie wirken jedoch selbst muskelrelaxierend und verstärken die Wirkung von Muskelrelaxanzien.

Postoperative Überwachung

  • Intensivüberwachung: Patienten mit einer Myasthenia gravis bedürfen postoperativ einer intensiven Überwachung. Bei schweren Krankheitsverläufen, großen Operationen und v. a. nach Thymektomien ist eine intensivmedizinische Behandlung notwendig.
  • Medikamentenmanagement: Die Patienten sollten möglichst bald wieder eine adäquate orale Medikation mit Pyridostigmin erhalten. Die übliche Dosis an Pyridostigmin wird nach einer Thymektomie reduziert.
  • Differenzialdiagnose: Da Über- als auch Unterdosierungen möglich sind und sich myasthene und cholinerge Krisen in ihren wichtigsten Symptomen wie Ateminsuffizienz, Unruhe und Schwitzen sehr ähnlich sind, fällt die klinische Unterscheidung nicht leicht. Mit Hilfe des neuromuskulären Monitorings können sie jedoch anhand des myasthenen Fading unterschieden werden.

Myasthene Krise und cholinerges Syndrom

Eine myasthene Krise ist eine lebensbedrohliche Exazerbation der Erkrankung, die durch Infektionen, fehlerhafte Medikamenteneinnahme oder unzureichende Immunsuppression ausgelöst werden kann. Die gefährlichsten Pathomechanismen sind eine erhöhte Aspirationsgefahr aufgrund einer Dysphagie sowie eine respiratorische Insuffizienz durch Lähmung der muskulären Atempumpe. Die Symptome können eine Atemwegssicherung mit invasiver Beatmung notwendig machen.

Das cholinerge Syndrom entsteht durch eine Überdosierung von Acetylcholinesterasehemmern und führt zu einem starken Überhang des Parasympathikus. Die Patienten sind feucht (ausgeprägte Schweiß-, Tränen und Speichelsekretion, Erbrechen sowie Harn- und Stuhlgang), bradykard und vigilanzgemindert mit stecknadelkopfgroßen Pupillen (Miosis). Die Therapie der Wahl ist hochdosiert Atropin, titriert nach Wirkung.

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