Nervenkampfstoffe sind eine Gruppe chemischer Waffen, die auf die Signalübertragung in und zwischen Nervenzellen wirken. Sie gelangen als Kontakt- oder Atemgifte in den Körper und können bereits in kleinsten Mengen tödlich sein. Ihre Wirkung beruht auf einem Eingriff in die normale Reizübertragung in den Nervenbahnen.
Grundlagen der Nervenreizübertragung und die Wirkung von Nervenkampfstoffen
Normalerweise wird ein Reiz zwischen zwei Nervenzellen durch den Neurotransmitter Acetylcholin übertragen. Acetylcholin gelangt schnell über den Zellzwischenraum zu den Rezeptoren und löst dort wieder einen Reiz aus. Anschließend wird die Substanz durch das Enzym Acetylcholinesterase wieder entfernt und steht für eine neue Reizübertragung zur Verfügung.
Nervenkampfstoffe ähneln dem Acetylcholin von der Struktur her so stark, dass sie die aktiven Stellen am Enzym Acetylcholinesterase besetzen, die eigentlich für den Neurotransmitter vorgesehen sind. Dadurch wird die Acetylcholinesterase blockiert und kann das Acetylcholin nicht mehr abbauen. Als Folge ergibt sich eine Dauerreizung des Nervensystems, die zu Schweißausbrüchen, Erbrechen, Krämpfen und schließlich zu Atemlähmung und Kreislaufkollaps führt, da der angelagerte Nervenkampfstoff nicht oder nur sehr langsam von den Rezeptoren abgelöst werden kann.
Einteilung und Vertreter der Nervenkampfstoffe
Die Einteilung chemischer Waffen ist nicht exakt wissenschaftlich festgelegt, erfolgt aber meist nach der Art der Wirkung. Zu den wichtigsten Nervenkampfstoffen gehören:
- G-Reihe: Tabun (GA), Sarin (GB), Soman
- V-Reihe: VX
Nervenkampfstoffe der G-Reihe wie Tabun (GA) und Sarin (GB) verflüchtigen sich binnen Stunden vollständig, während VX (V-Reihe) unter geeigneten Bedingungen Wochen am Einsatzort verbleiben kann. Weiterhin ist VX wesentlich giftiger als Sarin, Soman oder Tabun.
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Sarin: Entdeckung, Eigenschaften und Wirkung
Sarin ist ein chemischer Kampfstoff mit der systematischen Bezeichnung Methylfluorphosphonsäureisopropylester. Die Substanz wurde 1938 während der Forschung an Phosphorverbindungen für den Einsatz als Insektenvernichtungsmittel von einer Forschungsgruppe um den Chemiker Gerhard Schrader entdeckt. Es gibt eine hohe strukturelle Ähnlichkeit mit den Pflanzenschutzmitteln Parathion (E605) und Malathion einerseits und den Kampfstoffen Tabun, Soman und VX-Gas andererseits. Auftraggeber der Forschung war wie auch bei Tabun die deutsche I.G.
Sarin ist bei Zimmertemperatur flüssig und leicht flüchtig. Die Aufnahme von Sarin ist über die Haut und die Atmung möglich, wobei die Aufnahme über die Atemwege den weit überwiegenden Anteil ausmacht, da Sarin wegen seines Dampfdruckes in unserem Klima als flüchtiger Kampfstoff gilt. Nur ein Ganzkörperschutz verhindert sicher eine Aufnahme des Stoffes. Bereits ein Aufenthalt von einer Minute in mit etwa 100mg/m3 verseuchter Luft kann bereits nach 1-2 Minuten zum Atemstillstand führen.
Im Körper blockiert Sarin die Acetylcholinesterase in den Synapsen des parasympathischen vegetativen Nervensystems, den acetylcholinvermittelten Synapsen des sympatischen Anteils des vegetativen Nervensystems (Sympathikus) und an der neuromuskulären Endplatte (Motorische Endplatte). Daher kommt es je nach Stärke der Vergiftung zu folgenden Symptomen: Nasenlaufen, Sehstörungen, Pupillenverengung, Augenschmerzen, Atemnot, Speichelfluss, Muskelzucken und Krämpfe, Schweißausbrüche, Erbrechen, unkontrollierbarer Stuhlgang, Bewusstlosigkeit, zentrale und periphere Atemlähmung und letztendlich Tod. Die Wirkung am Auge tritt bereits bei geringeren Konzentrationen ein, als die Wirkung im Respirationstrakt. Daher treten Akkomodationsstörungen und eine Miosis bereits bei Konzentrationen und Expositionszeiten auf, bei denen andere Vergiftungszeichen noch nicht zu beobachten sind.
VX: Eigenschaften und Gefahrenpotenzial
Die Substanz VX (O-Ethyl-S-2-diisopropylaminoethylmethylphosphonothiolat) ist der verbreitetste Vertreter der V-Klasse chemischer Kampfstoffe. Es handelt sich um eine farblose bis gelbliche nach verfaultem Fisch riechende Flüssigkeit. VX ist eine ölige, klare und geruchslose Flüssigkeit, die durch Verunreinigungen bei der Herstellung gelblich wie Motoröl aussehen kann.
Das Gift dringt über die Haut, die Augen und die Atemwege in den Körper ein und verursacht zuerst Husten und Übelkeit. Dann lähmt es die Atemmuskulatur und führt innerhalb weniger Minuten unter starken Krämpfen und Schmerzen zum Tod. Über die Haut aufgenommen wirken sechs bis zehn Milligramm in der Hälfte der Fälle tödlich. VX zählt zu den persistenten Kampfstoffen, es kontaminiert über Tage oder sogar Wochen Gebiete, über denen es ausgebracht wurde.
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VX blockiert die Weitergabe von Impulsen im Teil des Nervensystems, der für die unwillkürliche Steuerung der Organe und des Blutkreislaufs verantwortlich ist. Erste Symptome können Speichelfluss, laufende Nase, enge Pupillen und Schweißausbrüche sein, gefolgt von Erbrechen, Muskelzittern, Krämpfen und Atemnot. Der Tod tritt ein durch Atemlähmung oder Kreislaufkollaps, bei höheren Dosen unmittelbar.
Herstellung von Nervenkampfstoffen
Die Herstellung von Nervenkampfstoffen erfordert Kenntnisse der organischen Chemie. Im Prinzip können viele von ihnen noch „perfektioniert“ worden: In den Bomben liegt nicht der endgültige Giftstoff vor, sondern zwei Komponenten, die erst nach der Freisetzung miteinander zum funktionsfähigen Kampfstoff reagieren - sogenannte „binäre Kampfstoffe“. Solche binären Kampfstoffe wurden entwickelt, um Chemiewaffen-Munition besser lagerfähig zu machen und ihre Handhabung zu vereinfachen. Die beiden Substanzen vermischen sich etwa in einem Artillerie-Geschoss erst, nachdem dieses abgefeuert wird.
Die Basis aller Kampfstoffe der V-Reihe ist Phosphonsäurethiocholinester, welches zeitgleich 1950 von dem Schweden L. E. Tammelin und dem Amerikaner Ranaji Goshem entdeckt wurde. 1955 wurde der erste „V-Kampfstoff“ (Amiton) hergestellt. Später wurden noch weit giftigere Substanzen in dieser Gruppe entwickelt. Darunter der bekannteste Vertreter VX, das auch als erstes aus dieser Gruppe militärisch eingesetzt wurde.
Behandlung einer Vergiftung mit Nervenkampfstoffen
Die Behandlung einer Vergiftung mit derartigen Kampfstoffen ist sehr schwierig, da sie abhängig von Zeitpunkt und Stärke der Vergiftung erfolgen muss. Deshalb bietet auch nur ein Ganzkörper-Schutzanzug mit Schutzmaske ausreichenden Schutz. Vor einem Kampfstoffeinsatz können Oxim-Tabletten eingenommen werden.
Bei einer Vergiftung spritzt man Atropin (vgl. Hyoscyamin, Gift der Tollkirsche), ein Parasympatolytikum, das die Wirkung des Überangebotes von Acetylcholin an den Rezeptoren aufheben soll. Es muss ca. alle zehn Minuten in einer Dosis von 2-5 mg gegeben werden. Zusätzlich muss Obidoximchlorid gegeben werden, um die Acetylcholinesterase zu reaktivieren. Dies ist allerdings nur sofort nach Kontakt wirksam, da der Kampfstoff mit der Hydroxylgruppe der Aminosäure Serin im reaktiven Zentrum reagiert und sie im Laufe der Zeit irreversibel denaturiert (Addition/Eliminierung an den pentavalenten Phosphorigsäureester durch Hydroxylgruppe eines Serins im aktiven Zentrum der Acetylcholinesterase). Im Verlauf der wochenlangen Nachbehandlung kann man versuchen, mit einem Oxim die Acetylcholinesterase zu regenerieren. Als Gegenmittel kann bei VX wie bei den meisten Nervenkampfstoffen kontinuierlich Atropin verabreicht werden, dazu das Antidot Obidoximchlorid und Valium.
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Für die Dekontamination können unter anderem Oxidationsmittel (z.B. Chlorkalk oder Calciumhypochlorit), alkalische Lösungen und nichtwässrige Medien, z.B. Aminoalkoholate, verwendet werden, da Nervenkampfstoffe zum einen empfindlich gegenüber Oxidationsmitteln sind und zum anderen ihre Hydrolyse im basischen Milieu beschleunigt abläuft. Bei empfindlichen Oberflächen kann z.B. ↑ a b c d e Eintrag zu Sarin in der GESTIS-Stoffdatenbank des BGIA, abgerufen am 10. Substanzen, die für militärische Zwecke missbraucht werden können.
Historische Einsätze und die Chemiewaffenkonvention
Chemische Waffen sind besonders heimtückisch: Ohnehin unsichtbar, verraten sie sich auch meist nicht durch Geruch oder Geschmack. Menschen, die mit ihnen in Berührung kommen, sterben in der Regel einen qualvollen Tod durch Ersticken. Wer überlebt, kann erblinden oder entstellende Verbrennungen erleiden. Manche Opfer sterben erst nach Jahren an Tumoren, die ihren Körper von innen zerfressen haben.
Im großen Stil eingesetzt wurden chemische Kampfstoffe erstmals im Ersten Weltkrieg. Am 22. April 1915 setzten deutsche Truppen in der Schlacht um Flandern in der Nähe der belgischen Ortschaft Ypern erstmals Giftgas ein, obwohl dies damals bereits international geächtet war. Nach Schätzungen wurden 124.000 Tonnen Chemiewaffen eingesetzt. Dadurch kamen 90.000 Menschen ums Leben, eine Million Opfer erlitten schwere gesundheitliche Schäden.
Der erste militärische Einsatz von Sarin erfolgte 1988 im Irak. Dort wurde Sarin gegen die kurdische Minderheit eingesetzt. Es starben fast 5.000 Kurden. Bei zwei terroristischen Anschlägen in Tokyo (1994/1995) der Aum-Sekte starben nach dem Einsatz von Sarin in der U-Bahn 20 Menschen, hunderte wurden verletzt. Auch im Syrischen Bürgerkrieg wurde mehrfach (2013/2017/2018) Sarin eingesetzt. Es ist umstritten, ob Saddam Hussein 1988 beim Giftgasangriff auf Halabdscha im Nordirak VX gegen die kurdische Bevölkerung eingesetzt hat. Bei dem Angriff wurden etwa 5000 Menschen, meist Kinder, Frauen und alte Männer qualvoll getötet.
Die internationale Chemiewaffenkonvention von 1997 verbietet heutzutage Herstellung, Besitz, Verbreitung und Einsatz solcher Waffen. Bis dato haben sie weltweit zwar noch nicht alle Staaten, so aber doch die große Mehrheit von 188 Nationen, darunter Deutschland und alle Großmächte, unterzeichnet. Die internationale Gemeinschaft überwacht die Einhaltung des Abkommens. Trotz aller Verträge und Richtlinien ist es nicht verboten, Erkennungs- und Abwehrmittel für chemische Waffen zu erforschen und zu entwickeln. In diesem Zusammenhang spielen z.B.
Analytischer Nachweis und Entsorgung
Um chemische Kampfstoffe, von denen nach einem Einsatz oft nur winzige Spuren zurückbleiben, eindeutig zu identifizieren, sind speziell ausgerüstete Labore nötig. Unverzichtbares Hilfsmittel ist das Massenspektrometer, mit dem sich geringste Stoffmengen präzise charakterisieren lassen. Über ein solches buchstäblich hochgerüstetes Labor verfügt auch die Bundeswehr. Der Spürpanzer Fuchs ist ein gepanzertes, geländegängiges und schwimmfähiges Labor und gilt weltweit als eines der modernsten militärischen Systeme zur Kampfmittelaufklärung. Es ist mit Messgeräten ausgerüstet, die in Sekundenschnelle nukleare und chemische Kampfstoffe nachweisen.
Bei vielen der hochgiftigen Chemikalien sind spezielle Verbrennungsöfen erforderlich, um sie unschädlich machen zu können. Bei manchen Kampfstoffen ist es sogar nötig, sie zunächst chemisch aufzuspalten und in weniger gefährliche Substanzen zu zerlegen, bevor sie verbrannt werden können. Solche Anlagen betreibt in Deutschland die Gesellschaft zur Entsorgung von chemischen Kampfstoffen und Rüstungsaltlasten im Auftrag des Bundes im niedersächsischen Munster.
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