Nervensystem Neustarten: Methoden für mehr Balance und Wohlbefinden

So einfach die Überschrift klingt, so komplex ist der Weg zu einem ausgeglichenen Nervensystem, besonders nach traumatischen Erfahrungen. Ein „angeknackstes“ Nervensystem braucht Zeit und Geduld, um sich wieder zu stabilisieren. Dieser Artikel bietet Ihnen Übungen, die Ihnen helfen können, kritische Momente im Alltag zu überwinden und Ihr Nervensystem dauerhaft zu regulieren. Um das Ganze besser zu verstehen, geben wir Ihnen zunächst einen Überblick über die neurologischen Zusammenhänge im Körper.

Die neurologischen Grundlagen verstehen

Oft werde ich in meiner Praxis gefragt: „Aber das ist doch alles schon so lange her.“ Auch wenn überwältigende Erlebnisse (Schocktrauma) oder belastende Kindheitserfahrungen (Entwicklungstrauma) emotional und kognitiv verarbeitet wurden, bleiben sie im Körper (Körpergedächtnis) und im Gehirn (neuronale Verankerung) verankert. Traumata hinterlassen Spuren und Symptome, die man nicht sofort damit in Verbindung bringt. Je früher und häufiger ein Trauma aufgetreten ist, desto tiefer sind die Spuren und Folgen. Ein verändertes Erleben und Bewerten der Gegenwart führt dazu, dass heutige Erlebnisse mit den Erfahrungen „von damals“ gefühlt und interpretiert werden. Das Grundgefühl von Sicherheit verändert sich, was zu einer Überlastung und Veränderungen der Gedächtnisleistung führt. Das autonome Nervensystem verliert an Anpassungsfähigkeit, und das Stresstoleranzfenster sinkt. Dies sind nur einige der Auswirkungen auf das Nervensystem.

In diesem Artikel konzentrieren wir uns auf den Teil des Nervensystems, der für unser Thema besonders wichtig ist: das autonome (oder zentrale) Nervensystem.

Das autonome Nervensystem: Sympathikus und Parasympathikus

Das autonome Nervensystem hat zwei Hauptkomponenten: den Sympathikus und den Parasympathikus. Der Sympathikus mobilisiert uns, aktiviert unsere Kräfte und steigert unsere Leistungsfähigkeit, wenn wir gefordert werden. Im Falle von Gefahr dient er als Erregungs-, Kampf- oder Fluchtnerv. Der Parasympathikus hingegen fährt uns zurück in die Ruhe und Erholung.

Ein traumatisiertes Nervensystem wird überwiegend vom Sympathikus gesteuert und steht somit unter Dauerstress. Es passt sich nicht mehr automatisch den realen Gegebenheiten an und ist in einer Schleife aus erhöhter Wachsamkeit gefangen. Betroffene leiden unter den Auswirkungen, auch wenn „eigentlich alles in Ordnung“ ist. Es gibt keine Entwarnung, und so kommt der Mensch nicht zur Ruhe, selbst wenn die äußeren Bedingungen günstig sind. Die Psyche ist chronisch beunruhigt durch alltägliche Situationen. Menschen, Bindungen und gesellschaftliche Kontakte können als gefährlich eingestuft werden, insbesondere bei Bindungstraumata. Bei Schocktraumata können alltägliche Situationen als Trigger wirken, wenn ein einströmender Reiz einen Bezug zum traumatisierenden Ereignis hat. Diese Reaktionen sind kognitiv nicht so schnell steuerbar, wie es sein müsste, um die prompte Arbeitsreaktion des Sympathikus zu unterbinden.

Lesen Sie auch: Enterisches Nervensystem vs. Vegetatives Nervensystem: Ein detaillierter Vergleich

Die Rolle des Vagusnervs

Ein wichtiger Teil des parasympathischen Nervensystems ist der Vagusnerv, der längste Hirnnerv des Körpers. Er wirkt wie eine Bremse für das vegetative Nervensystem. Wenn er aktiviert wird, sendet er Signale an Herz, Lunge und andere Organe, um den Körper zu beruhigen. Das Besondere ist, dass Sie den Vagusnerv durch gezielte Übungen wie Atemtechniken, Kältereize oder Summen bewusst aktivieren können. Eine gute Vagotonie (ein Nervensystem im Ruhemodus) ist essenziell für Entspannung und Wohlbefinden.

Praktische Übungen zur Beruhigung des Nervensystems

Zum Glück können wir aktiv Einfluss auf unsere körperlichen Erregungsreaktionen nehmen, indem wir mit dem Parasympathikus arbeiten. Im Folgenden stelle ich Ihnen einige Übungen vor, die Ihnen helfen können, Ihr Nervensystem zu regulieren.

Es mag überraschend sein, aber diese Übungen erfordern Geduld und regelmäßige Anwendung. Wenn Ihr Ziel jedoch ist, dauerhaft wieder stabiler und regulierbarer zu sein, empfiehlt es sich, die Übungen so lange durchzuführen, wie sie nötig sind - möglicherweise jahrelang oder sogar dauerhaft. Einige dieser Übungen sind mir selbst in Fleisch und Blut übergegangen, sodass ich sie im Alltag unauffällig, aber permanent einsetze.

Allgemeine Tipps vorab

Übung macht den Meister: Wenn Sie die Übungen täglich als „Trockenübungen“ anwenden, sinkt der Grundpegel an Stress, und im Bedarfsfall funktioniert alles gleich viel schneller. Die Atmung läuft im Normalfall rund um die Uhr ohne unsere bewusste Steuerung ab.

Konkrete Übungen für den Alltag

  1. Längere Ausatmung: Atmen Sie länger aus als ein. Das ist das ganze Geheimnis! Je länger Sie ausatmen, desto mehr dämpfen Sie. Sie können dabei variieren. Mehrfach hintereinander durchgeführt, beruhigt diese Übung und tut unfehlbar ihren Dienst. Vergessen Sie nicht: Sie haben einen Verbündeten an Bord - Sie haben den Parasympathikus aktiviert.

    Lesen Sie auch: Wie das vegetative Nervensystem die Blase beeinflusst

  2. Pusten in einen Strohhalm: Bilden Sie sich beim Ausatmen ein, in einen Strohhalm pusten zu müssen. Führen Sie diese Übung 3-5 Mal hintereinander aus, bei Bedarf auch gerne länger. Mit der Zeit werden Sie die Ausatmungszeit verlängern können. Anfangs kann Ihnen sogar leicht schwindlig werden.

  3. Vokalübung: Atmen Sie langsam durch die Nase ein, wobei Sie sich das rechte Nasenloch leicht zuhalten. Atmen Sie dann mit einem langgezogenen Vokal aus (z.B. „aaaaaa…“). Diese Übung wird hintereinander mit allen Vokalen durchgeführt. Auch wenn Sie sich lächerlich vorkommen, diese Übung ist sehr wirksam.

  4. Füße am Boden spüren: Diese Übung kann den ganzen Tag als völlig nebenher laufende Selbstverständlichkeit durchgeführt werden. Setzen Sie sich bequem entspannt in den Stuhl oder Sessel. Richten Sie nun Ihre innere Aufmerksamkeit ganz absichtslos auf die Füße. Stellen Sie sicher, dass beide Füße ganz auf dem Fußboden sind, sofern das noch nicht Ihre normale Haltung ist. Fühlen Sie, wie es sich anfühlt, den rechten Fuß auf dem Boden zu spüren. Sitzt er ganz auf? Bewegen Sie die Zehen und spüren Sie die Unterlage durch die Schuhe hindurch. Wie ist die Temperatur des Fußes? Kalt oder warm? Wechseln Sie nun mit der Aufmerksamkeit auf den linken Fuß und wiederholen Sie die aufmerksamen Schritte. Vergleichen Sie das Gefühl beider Füße auf dem Boden. Manchmal ist einer schwerer als der andere. Stellen Sie sich vor, dass die Schwerkraft Ihre Füße am Boden hält und wie angenehm es sein kann, sich ganz auf den sicheren Fußboden zu verlassen und sich wie „verwurzelt“ damit zu fühlen. Wenn diese Übung einmal in Fleisch und Blut übergegangen ist, greift sie sehr schnell bei äußerem Stress und wenn man bemerkt, dass das Nervensystem hochfährt. Der Stress passiert im Kopf, und die Füße sind der am weitesten entfernte Punkt dazu - das alleine verlagert schon die Energie und balanciert schnell. Dieser feste Stand hilft auch dabei, wenn Sie mit Menschen zusammen sind, die selbst sehr gestresst sind.

  5. 5-4-3-2-1 Übung (Orientierungsübung): Diese Übung stammt aus der Traumatherapie und wurde von Yvonne Dolan entwickelt. Sie hilft, ins Hier und Jetzt zurückzukehren bei großer Aufregung, Erschütterung oder Unruhe. Sehen Sie sich aufmerksam im Raum um und drehen Sie auch gerne den ganzen Körper dabei. Benennen Sie laut und bewusst Gegenstände, die Sie wahrnehmen. Beispiel: Ich sehe eine grüne Lampe, die über dem Tisch hängt, ich sehe einen roten Sessel, der vor dem Fenster steht, ich sehe eine Wasserflasche auf dem Tisch. Wechseln Sie nun zum Hören. Schließen Sie die Augen und hören aufmerksam auf die Geräusche Ihrer Umgebung, benennen Sie auch diese laut. Beispiel: Ich höre den Kühlschrank brummen, ich höre eine Fliege summen, ich höre mein Herz pochen. Wechseln Sie ins Spüren und benennen Sie alles, was Sie im Körper oder um den Körper herum spüren. Beispiel: Ich spüre den kalten Luftzug, ich spüre den Stuhl unter mir, ich spüre kalte Füße. Bestimmen Sie erneut Ihren Stresslevel. Manchmal ist es gar nicht nötig, die Übung bis zu 1 zu machen. Wenn Sie eine ausreichende Entlastung schon vorher verspüren, hören Sie einfach damit auf.

  6. Abwandlung der 5-4-3-2-1 Übung für die Öffentlichkeit: Wenn man sich in der Öffentlichkeit bewegt und sich hoher Stress einstellt, ist die obige Übung zu auffällig und deshalb nicht durchführbar. Entscheiden Sie selbst und geben Sie sich einen kleinen Auftrag. Beispielsweise: „Zähle alle Brillenträger im jetzigen Umfeld“. „Suche 5 rote Gegenstände, die dich jetzt umgeben“. „Finde ein Wolkenbild mit Gesicht“. Auch diese Übung zielt darauf ab, sich zu re-orientieren und den Bezug zur Gegenwart herzustellen. Das funktioniert selbst an der Kasse im Supermarkt, weil es völlig unauffällig durchzuführen ist.

    Lesen Sie auch: Sympathikus und Parasympathikus detailliert erklärt

  7. Nah- und Fernsicht-Übung (Brainspotting-Technik): Diese Übung stammt aus dem Brainspotting von David Grand. Halten Sie den Zeigefinger oder einen Stift in angenehme Entfernung vor sich und fixieren Sie den Blick darauf („Nahsicht“). Zählen Sie innerlich bis 3. Dann stellen Sie den Blick auf „Weitsicht“, schauen durch den Stift hindurch und fixieren Sie einen weit entfernten Punkt an der Wand hinter Stift oder Finger. Zählen Sie dort innerlich bis 3. Kommen Sie zurück auf Nahsicht und wiederholen Sie diese Übung im Wechsel etliche Male.

  8. Zungenentspannung: Auch diese Übung lässt sich völlig unauffällig durchführen. Wenn Sie auf der Parkbank sitzen und sich ausruhen wollen, aber wegen innerem Stress nicht können, probieren Sie diese Übung. Das Einzige, was Sie tun müssen, ist… Sie entspannen jetzt Ihre Zunge und konzentrieren sich ganz darauf, dass sie in Ihrem Mund ganz leicht an den oberen Zähnen liegt. Sie darf nicht oben am Gaumen kleben, aber auch nicht unten an die Zähne stoßen. Ich versichere Ihnen, dass Sie bald tief ausatmen werden und sich das System beruhigt.

  9. Augendruck: Nehmen Sie bequem Platz und wenn möglich, stützen Sie beide Ellenbogen auf einen Tisch. Dann drücken Sie leicht gegen die Augen und üben einen sanften, aber wahrnehmbaren Druck aus. Am besten funktioniert es, wenn Sie die Handballen dazu benutzen. Die Entspannung lässt sich immer daran messen, wenn der so genannte „Shift“ zu hören ist.

Weitere effektive Methoden

  • Atemtechniken: Die 4-7-8-Atemtechnik (4 Sekunden einatmen, 7 Sekunden halten, 8 Sekunden ausatmen) kann schnell beruhigend wirken und den Parasympathikus aktivieren. Auch die Zwerchfellatmung (tiefe Bauchatmung) ist sehr effektiv zur Stressreduktion.
  • Körperliche Aktivität: Sport hilft, das ausgeschüttete Adrenalin und Cortisol abzubauen und signalisiert dem Gehirn, dass die Gefahr vorüber ist. Dies kann langfristig auch einem Burnout vorbeugen.
  • Soziale Interaktion: Lockere, freundliche und liebevolle soziale Interaktionen vermitteln dem Gehirn, dass die Welt ein sicherer Ort ist.
  • Meditation und Achtsamkeit: Regelmäßige Meditation und Achtsamkeitsübungen können den Geist und das Nervensystem beruhigen und die Stressresilienz stärken.
  • Schlafhygiene: Sorgen Sie für ausreichend Schlaf, um Ihr Nervensystem zu unterstützen.
  • Emotionen zulassen: Erlauben Sie sich, Ihre Emotionen herauszulassen, um angestaute Spannungen abzubauen.
  • Feldenkrais-Methode: Diese Lernmethode betont die Zusammenhänge zwischen Körper und Psyche und hilft, neue Bewegungs- und Denkmuster zu entwickeln.

Das Nervensystem langfristig stärken

Neben der kurzfristigen Beruhigung ist es wichtig, das Nervensystem langfristig zu stärken.

Was tun bei chronischem Stress?

Chronischer Stress kann zu einer dauerhaften sympathischen Dominanz führen. In solchen Fällen ist es wichtig, den Stresszyklus bewusst zu beenden und das Nervensystem wieder in Balance zu bringen.

Der Einfluss von Trauma

Trauma kann sich direkt auf das Nervensystem auswirken und zu einem Zustand innerer Alarmbereitschaft oder Erstarrung führen. Traumasensitive Methoden wie somatische Übungen, die Polyvagal-Theorie oder körperorientierte Therapien können helfen, gespeicherte Spannung im Körper sanft zu lösen.

tags: #Nervensystem #neu #starten #Methoden