Neuritis vestibularis: Diagnostik, Ursachen und Behandlungsansätze

Schwindel ist ein weit verbreitetes Symptom, das insbesondere bei chronischen Beschwerden eine diagnostische und therapeutische Herausforderung darstellt. Etwa 20-30 % der Weltbevölkerung leiden im Laufe ihres Lebens an Schwindel. Die Ursachen sind vielfältig, und eine systematische Diagnostik ist essenziell, um komplexe chronische vestibuläre Syndrome (CVS) zu verstehen und zu behandeln. Die Neuritis vestibularis, eine Entzündung des Gleichgewichtsnervs, ist eine der möglichen Ursachen für Schwindel. Im Folgenden werden die Diagnostik, Ursachen und Behandlungsansätze dieser Erkrankung detailliert beleuchtet.

Einführung in die Thematik Schwindel

Schwindel wird im Englischen als „vertigo“, „dizziness“ oder auch als „presyncopal faintness“, „dysequilibrium“ und „nonspecific light-headedness“ beschrieben. Die Bárány-Gesellschaft hat 2009 eine internationale Klassifikation der Gleichgewichtserkrankungen (ICVD-1) veröffentlicht, die eine gemeinsame Definition der primären und sekundären Symptome beinhaltet. Diese Klassifikation unterscheidet zwischen akuten, episodischen und chronischen vestibulären Syndromen sowie definierten Erkrankungen und den zugrunde liegenden Pathomechanismen.

Die Diagnostik des akuten vestibulären Syndroms (AVS) ist meist unproblematisch, während die Diagnostik des CVS, das durch länger als drei Monate anhaltende Schwindelbeschwerden definiert ist, oft herausfordernder ist. Chronischer Schwindel beeinträchtigt die Lebensqualität erheblich und führt zu häufigen Arztbesuchen. Studien zeigen, dass Patienten mit vestibulärem Schwindel eine deutliche Einschränkung der Lebensqualität im Vergleich zu schwindelfreien Personen aufweisen.

Die Bedeutung einer systematischen Diagnostik

Schwindel "unklarer Genese" ist mit einer Prävalenz von 4,8 % eine häufige Diagnose. In diesen Fällen sind die therapeutischen Empfehlungen oft eingeschränkt. Multimorbide Patienten mit neurodegenerativen Grunderkrankungen, Polyneuropathien, Sehstörungen oder Verdacht auf funktionellen Schwindel stellen besondere Herausforderungen dar.

Eine multidisziplinäre Beurteilung, sensorspezifische apparative otoneurologische Diagnostik und Schnittbilddiagnostik können bei der Differenzialdiagnostik helfen. Idealerweise findet diese Behandlung in spezialisierten Zentren statt, in denen Fachärzte verschiedener Disziplinen zusammenarbeiten. Da diese Infrastruktur in Deutschland nicht flächendeckend vorhanden ist, wurde an einer Klinik ein stationäres interdisziplinäres diagnostisches Konzept etabliert.

Lesen Sie auch: Vestibularis-Neuritis: Alternative Behandlungsmethoden

Diagnostik der Neuritis vestibularis

Die Neuritis vestibularis, auch bekannt als Entzündung des Gleichgewichtsnervs, ist eine akute Schwindelerkrankung, die durch eine einseitige Entzündung des Nervus vestibularis mit Funktionsausfall des Labyrinths gekennzeichnet ist.

Anamnese und klinische Untersuchung

Der Schlüssel zur Diagnose beim Leitsymptom Schwindel ist eine sorgfältige Anamnese und körperliche Untersuchung. Die apparative Diagnostik ist meist nachrangig. Relevante Aspekte der Anamnese sind:

  • Zeitlicher Verlauf: Attacken, akut einsetzende, über Tage dauernde Symptome oder über > 3 Monate anhaltende Beschwerden.
  • Art der Symptome: Dreh-, Schwank- oder Benommenheitsschwindel.
  • Modulierende Faktoren: Auftreten der Symptome beim Gehen, bei Lageänderungen oder in bestimmten Situationen.
  • Begleitende Beschwerden: "Otogene" Symptome, Hirnstammsymptome, Migräne, Oszillopsien, Übelkeit, Erbrechen.

Die klinische Untersuchung des vestibulären Systems umfasst:

  1. Kopfimpulstest nach Halmagyi-Curthoys oder Video-Kopfimpulstest (Video-HIT).
  2. Untersuchung auf einen peripheren vestibulären Spontannystagmus mittels Frenzelbrille oder der neuen M-Brille.
  3. Lagerungsmanöver zur Frage nach einem BPPV oder einem zentralen Lagerungs-/Lagenystagmus.
  4. Untersuchung auf das Vorliegen der möglichen Komponenten einer „ocular tilt reaction“.
  5. Untersuchung des Standvermögens (Romberg-Test) und Gehvermögens mit verschiedenen Schwierigkeitsgraden.

Apparative Diagnostik

Die apparative Vestibularisdiagnostik sollte immer mit einer konkreten Fragestellung verknüpft sein. Sie kann Aussagen zur Lokalisation (peripher vs. zentral, rechts vs. links) und zur Quantifizierung des Ausmaßes eines vestibulären Defizits liefern. Zur Beurteilung der Kompensation eines vestibulären Defizits kann das Vorhandensein eines Spontan‑, Provokations- und/oder Lagenystagmus dienen.

Zu den apparativen Tests gehören:

Lesen Sie auch: Dosierung von Kortison bei Neuritis vestibularis

  • Video-Nystagmographie (VNG): Erfasst Spontan- und Lagenystagmen sowie die Auswirkungen kalorischer Testung der horizontalen Bogengänge.
  • Drehpendelversuch: Untersucht die Funktion der horizontalen Bogengänge.
  • Zervikal und okulär vestibulär evozierte myogene Potenziale (c- und o‑VEMP): Testen die Funktion der Otolithenorgane (Sacculus und Utriculus).
  • Video-Kopfimpulstest (vKIT) aller sechs Bogengänge: Beurteilung des Vestibulookulären-Reflexes (VOR) einzelner Bogengänge.
  • Okulomotorische Tests: Untersuchen Blickfolge, Blickrichtungen, Sakkadentest und optokinetische Reizung.
  • Halsdrehtest und subjektive visuelle Vertikale (SVV): Ergänzende Tests zur Beurteilung der vestibulären Funktion.
  • Tonschwellenaudiometrie und Impedanzaudiometrie: Standardmäßig durchgeführt, um das Hörvermögen zu überprüfen.

Differenzialdiagnostik

Es ist wichtig, andere Ursachen für Schwindel auszuschließen, insbesondere einen Schlaganfall. Mögliche weitere Ursachen sind:

  • Gutartiger Lagerungsschwindel
  • Morbus Menière
  • Labyrinthitis
  • Akustikusneurinom
  • Hörsturz
  • Verletzungen
  • Schwindel durch Medikamente
  • Multiple Sklerose
  • Migräne

Ursachen der Neuritis vestibularis

Die genaue Ursache der Neuritis vestibularis ist nicht bekannt. Es wird vermutet, dass die Erkrankung durch die Aktivierung eines Virus ausgelöst wird, den die meisten Menschen im Körper haben (Herpes-simplex-Virus). Dies führt zu einer Entzündung des Gleichgewichtsnervs (N. vestibularis) und einer vorübergehenden Störung der Nervensignale zwischen dem Gleichgewichtsorgan im Innenohr und dem Gleichgewichtszentrum im Gehirn.

Symptome der Neuritis vestibularis

Klassischerweise kommt es zu einem Drehschwindel, bei dem sich die Umgebung zu drehen scheint, zu einer Fallneigung in Richtung der betroffenen Seite und Übelkeit, fast immer begleitet von Erbrechen. Unfreiwillige Bewegungen der Augen (Nystagmus) können sichtbar sein. Das Gehör ist bei der Entzündung des Gleichgewichtsnervs nicht beeinträchtigt. Die akute Symptomatik dauert selten länger als ein paar Tage, manchmal bis zu ein paar Wochen.

Therapie der Neuritis vestibularis

Die Behandlungsziele sind:

  • Symptomlinderung
  • Verkürzung des Krankheitsverlaufs
  • Verhindern von bleibenden Folgen

In den ersten Tagen kann die Gabe von Antiemetika (Medikamente gegen Übelkeit) und Antiverginosa (Medikamente gegen Schwindel) in Kombination mit Kortison sinnvoll sein. Anschließend ist es wichtig, frühzeitig ein Rehabilitationsprogramm zu beginnen:

Lesen Sie auch: Symptome der Vestibularisneuritis erkennen

  • Mobilisierung mit Schulung der Gleichgewichtsfunktion im Stehen und Gehen auf ebenen und unebenen Flächen
  • Training der Fähigkeiten zur Blickfixierung

Diese Aktivitäten verursachen zu Beginn erhöhtes Unwohlsein und Müdigkeit, werden aber auf längere Sicht die Symptome reduzieren, die Funktionsfähigkeit verbessern und zu einer schnelleren Heilung beitragen. Manche Patient*innen benötigen eine besondere physiotherapeutische oder gleichgewichtstherapeutische Verlaufskontrolle.

Medikamentöse Therapie

In mindestens sechs Reviews/Metaanalysen wurden die Effekte von Steroiden bei der AUVP analysiert. Eine Publikation bestätigte die Wirksamkeit sowohl in Bezug auf die vollständige Normalisierung als auch auf die Verbesserung der vestibulären Funktion - vor allem im Langzeitverlauf. Die aktuellen Leitlinien der „American Society for Academic Emergency Medicine” empfehlen den Einsatz von Steroiden in der Akutphase der AUVP.

Vestibuläre Rehabilitation

Die vestibuläre Rehabilitation ist ein wichtiger Bestandteil der Therapie der Neuritis vestibularis. Sie umfasst Übungen zur Verbesserung des Gleichgewichts, der Koordination und der Blickstabilisierung. Ziel ist es, die zentralen Kompensationsmechanismen anzuregen und die verbleibende vestibuläre Funktion optimal zu nutzen.

Prognose der Neuritis vestibularis

Die Prognose ist im Allgemeinen sehr gut, die meisten Patientinnen erhalten ihren normalen Gleichgewichtssinn zurück. Die Mehrzahl der Patientinnen hat 1-2 Tage starke Beschwerden mit anschließend allmählicher Besserung. Rückfälle (Rezidive) sind glücklicherweise sehr selten.

Ergebnisse einer stationären interdisziplinären Schwindeldiagnostik

An einer Klinik der Maximalversorgung wurden im Zeitraum von Januar bis Dezember 2018 bei über 450 Patienten mit unklarem Schwindel (ICD-10-GM-2020 - R 42) eine Vorstellung in der ambulanten Schwindelsprechstunde durchgeführt. Bei 150 Patienten wurde elektiv ein standardisiertes stationäres Diagnosekonzept durchgeführt und retrospektiv ausgewertet. In 94,0 % der Fälle wurde nach der stationären interdisziplinären Diagnostik mindestens eine Ursache für die Schwindelbeschwerden gefunden. Eine alleinige Diagnose als Grund für die chronischen Schwindelbeschwerden fand sich in 22,7 % (34/150) der Fälle. In 77,3 % (116/150) der Fälle konnten zwei Diagnosen und in 32,7 % (49/150) sogar drei Diagnosen gestellt werden. Unklar blieb die Ursache des CVS in nur 6,0 % der Fälle. Die periphere Vestibulopathie (PVP) war in 24,0 % der Fälle die am häufigsten gestellte Hauptdiagnose.

tags: #Neuritis #vestibularis #diagnostik