Das Vestibularorgan, ein Teil des Innenohrs, spielt eine zentrale Rolle bei der Steuerung des Gleichgewichts. Es besteht aus den drei Bogengängen, die für die Wahrnehmung von Drehbewegungen zuständig sind, und den Maculaorganen (Sacculus und Utriculus), die lineare Beschleunigungen erfassen. Die Sinnesinformationen werden über den VIII. Hirnnerven (Nervus vestibulocochlearis) an das Gehirn weitergeleitet.
Was ist Neuritis vestibularis?
Die Neuritis vestibularis ist eine Entzündung des Nervus vestibularis (VIII. Hirnnerv, Gleichgewichtsnerv), die zu einem akuten, meist einseitigen Ausfall des Vestibularorgans führt. Sie ist nach dem benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel und Morbus Menière die dritthäufigste Ursache des peripher vestibulären Schwindels. Die Erkrankung tritt mit einer Inzidenz von 3,5 pro 100.000 auf und betrifft meist Erwachsene zwischen dem 30. und 60. Lebensjahr.
Infolge der Entzündung gelangen die normalen Informationen des Organs nicht mehr zum Gehirn, was quasi zu einem Ausfall führt. So dominieren die Informationen von der gesunden Seite, was ein Ungleichgewicht zur Folge hat.
Ursachen der Neuritis vestibularis
Die genaue Ätiologie der Neuritis vestibularis ist nicht vollständig geklärt. Es wird jedoch vermutet, dass virale Infektionen, insbesondere eine Reaktivierung des Herpes-simplex-Virus (HSV), eine Rolle bei der Entzündung des Nervus vestibularis spielen könnten. Als Auslöser der idiopathischen Erkrankung, bei der ein Infekt der oberen Atemwege im Vorfeld nicht selten ist, werden Viren diskutiert.
Die Pathogenese der Neuritis vestibularis ist derzeit noch unklar. Es wird eine Durchblutungsstörung angenommen. Als wahrscheinlich gilt eine Einschränkung der Mikrozirkulation im Rahmen einer Infektion mit neurotropen Viren. Hierfür spricht, dass in 60% der Fälle eine Reaktivierung der Herpes simplex Typ 1 Viren im Bereich des N. vestibularis nachweisbar ist.
Lesen Sie auch: Vestibularis-Neuritis: Alternative Behandlungsmethoden
Stress begünstigt die Entwicklung dieser Erkrankung.
Symptome der Neuritis vestibularis
Patienten mit Neuritis vestibularis erleben einen plötzlichen Drehschwindel, der oft von Übelkeit, Erbrechen und Gleichgewichtsstörungen begleitet wird. Typische Prodromi oder Auslöser fehlen. Aus völliger Gesundheit heraus kommt es zu einem über Tage anhaltenden Drehschwindel mit Übelkeit und Erbrechen. Die Beschwerden verstärken sich jedoch bei Kopfbewegung. Die Patienten suchen intuitiv die Ruhe. Zudem können Scheinbewegungen der Umwelt, sogenannte Oszillopsien auftreten.
Die akute Symptomatik dauert selten länger als ein paar Tage, manchmal bis zu ein paar Wochen.
In der klinischen Untersuchung zeigt sich eine Gangabweichung und Fallneigung des Patienten zur betroffenen, kranken Seite. Zudem ist meist schon ein horizontal-rotierender Spontannystagmus ohne Frenzelbrille zu sehen.
Zur differentialdiagnostischen Abklärung ist es wichtig zu wissen, dass das Krankheitsbild mit keiner akuten Hörminderung oder Tinnitus einhergeht. Bei einer Neuritis vestibularis ist das Hörvermögen normal.
Lesen Sie auch: Dosierung von Kortison bei Neuritis vestibularis
Anamnese bei Schwindelbeschwerden
Jede Schwindeldiagnostik sollte mit einer ausführlichen Anamnese beginnen. Im Rahmen der Anamnese sollten die vier Hauptkategorien erfasst werden:
- Art des Schwindels
- Zeitdauer des Schwindels
- Modulierende Faktoren
- Zusätzliche Faktoren
Nach Abfragen der wichtigsten Schwindelsymptome ist eine Einordnung des Schwindels meist schon gut möglich.
Typische Anamnese bei einer Neuritis vestibularis:
Der von einer Neuritis vestibularis betroffene Patient berichtet typischerweise vom plötzlichen Auftreten eines Drehschwindels mit starker Übelkeit und Erbrechen. Zum Teil treten Oszillopsien auf. Der Schwindel wird meist durch Bewegung verstärkt, ist aber nicht lageabhängig. Typischerweise halten die Schwindelbeschwerden bei einem einseitigen Vestibularisausfall tagelang an.
Klinische Untersuchung bei Schwindel
Die Leitlinie bezieht sich auf die hausärztliche Untersuchung und empfiehlt die Erhebung eines allgemeinen Status des Patienten, eine Beurteilung der Kreislaufsituation inklusive der Messung des Blutdrucks sowie eine Herzauskultation. Es sollte auf Zeichen der Herzinsuffizienz und Stauung geachtet werden.
Der Hausarzt sollte zudem eine Untersuchung der Halswirbelsäule durchführen. Auch eine klinisch-neurologische Untersuchung sollte bei dem Leitsymptom Schwindel erfolgen. Diese sollte mindestens die Erhebung eines Reflexstatus, eine Sensibilitätsprüfung an den Beinen sowie die Durchführung eines Romberg Stehversuchs und Unterberg Tretversuchs enthalten. Auch sollte überprüft werden, ob der Patient in der Lage ist eine Diadochokinese und den Finger-Nase Versuch und Knie-Hacken Versuch durchzuführen.
Lesen Sie auch: Symptome der Vestibularisneuritis erkennen
Eine HNO-ärztliche Untersuchung sollte neben der Spiegeluntersuchung gemäß der Leitlinie eine Untersuchung auf einen Nystagmus einschließlich einer Lagerungs-Provokation enthalten. Zudem sollte ein horizontaler Kopfimpulstest durchgeführt werden.
Der Kopfimpulstest ist ein klinischer Funktionstest, der den vestibulo-okulären Reflex (VOR) überprüft. Ist dieser pathologisch, spricht dies mit hoher Wahrscheinlichkeit für eine peripher vestibuläre Ursache des Schwindels. Der Patient kann dann aufgrund des einseitig reduzierten VOR bei Fixation die Blickrichtung während passiver, rascher Kopfbewegung in Richtung der betroffenen Seite nicht halten. Die Augen bewegen sich zusammen mit dem Kopf vom Ziel weg. Durch das retinale Fehlsignal wird dann eine Korrektursakkade, eine sogenannte Catch-up-Sakkade, ausgelöst.
Untersuchungsbefunde bei der Neuritis vestibularis:
Die HNO-Spiegeluntersuchung zeigt bei einer Neuritis vestibularis keinen für die Erkrankung spezifischen pathologischen Befund. Insbesondere zeigt die Ohrmikroskopie einen reizlosen Trommelfellbefund.
Es sollte eine Untersuchung des Patienten mit Hilfe einer Frenzelbrille erfolgen. Hier zeigt sich in der Regel ein horizontaler oder auch rotatorischer Spontannystagmus zur gesunden Seite. Der Nystagmus lässt sich meist durch visuelle Fixation unterdrücken und verstärkt sich, wenn die Fixierung aufgehoben wird. Eine Frenzelbrillenuntersuchung ist daher notwendig. Die Intensität des Nystagmus nimmt beim Blick in die Bewegungsrichtung des Nystagmus zu.
Der Kopfimpulstest ist pathologisch bei einer Neuritis vestibularis.
Es sollte zudem die vestibulospinale Funktion geprüft werden. In der Romberg Untersuchung fällt eine Fallneigung zur kranken Seite auf.
Apparative Untersuchungen
Die Leitlinie empfiehlt, wenn beim Kopfimpulstest kein sicherer Befund erhoben werden konnte, die Durchführung einer Elektronystagmographie mit kalorischer Prüfung. In dieser zeigt sich bei einer Neuritis vestibularis eine Un- bzw. Untererregbarkeit des ipsilateralen horizontalen Bogenganges.
Finden sich Hinweise auf eine zentrale Genese des Schwindels, so ist eine Bildgebung wie beispielsweise eine MRT-Untersuchung des Schädels oder auch eine Liquorpunktion bei Verdacht auf eine Hirnstammenzephalitis indiziert.
Vestibulär evozierte myogene Potenziale (VEMPs) des M. sternocleidomastoideus, die die Sakkulusfunktion überprüfen, sind in 30-50% der Fälle pathologisch.
Differentialdiagnosen
Wichtige Differentialdiagnosen zur Neuritis vestibularis sind zentrale Ursachen wie beispielsweise Kleinhirninfarkte aber auch eine multiple Sklerose, ein Akustikusneurinom oder Läsionen der vestibulären Nervenkerne. Beim Vorliegen dieser Krankheitsbilder können unauffällige Kopfimpulstests oder auffällige Abdecktests den Verdacht auf eine zentrale Genese des Schwindels lenken.
Andere Ursachen für einen Schwindel müssen ausgeschlossen werden, insbesondere ein Schlaganfall. Dafür sind teilweise zusätzliche Untersuchungen notwendig. Mögliche weitere Ursachen sind:
- Gutartiger Lagerungsschwindel
- Morbus Menière
- Labyrinthitis
- Akustikusneurinom
- Hörsturz
- Verletzungen
- Schwindel durch Medikamente
- Multiple Sklerose
- Migräne
Therapie der Neuritis vestibularis
Die Therapie der akuten Neuritis vestibularis basiert auf drei Prinzipien: die symptomatische Therapie, die kausale Therapie und die Verbesserung der zentralen vestibulären Komponente.
Symptomatische Therapie
Nur innerhalb der ersten Tage und nur bei schwerer Übelkeit und Erbrechen sollten Antivertiginosa gegeben werden, da sie zur Verzögerung der zentralen Kompensation eines Vestibularausfalls führen. Diese für den Patienten sehr quälenden Symptome werden symptomatisch mit Medikamenten gegen Übelkeit und Unruhe behandelt.
Kausale Therapie
Die kausale Therapie der Neuritis vestibularis erfolgt mittels Glukokortikosteroiden. Eine prospektive, randomisierte, placebokontrollierte Studie konnte hierzu zeigen, dass eine Methylprednisolon Monotherapie zu einer signifikanten Verbesserung der Erholung der peripher vestibulären Funktion führt. Ggf. kurzzeitig hochdosiert mit Glucocorticoiden behandelt.
Verbesserung der zentralen vestibulären Komponente
Die Experten der Leitlinie betonen, dass die Förderung der zentralen Kompensation durch physikalische Therapie ein wichtiges Therapieprinzip darstellt. Eine schnellstmögliche körperliche Aktivität mit bestenfalls physiotherapeutischem Training des Gleichgewichtsorgans führt zu einer Ausheilung innerhalb von wenigen Wochen.
Vestibuläre Trainingsprogramme umfassen beispielsweise willkürliche Augenbewegungen und Fixation. Dies trägt zur Verbesserung der gestörten Blickstabilisation bei. Auch aktive Kopfbewegungen zur Neueinrichtung des vestibulookulären Reflexes sind Teile des vestibulären Trainingsprogramms.
Wichtig ist, frühzeitig ein Rehabilitationsprogramm zu beginnen:
- Mobilisierung mit Schulung der Gleichgewichtsfunktion im Stehen und Gehen auf ebenen und unebenen Flächen
- Training der Fähigkeiten zur Blickfixierung
Diese Aktivitäten verursachen zu Beginn erhöhtes Unwohlsein und Müdigkeit, werden aber auf längere Sicht die Symptome reduzieren, die Funktionsfähigkeit verbessern und zu einer schnelleren Heilung beitragen.
Eine Mobilisation der Patienten ohne Erbrechen sowie Gehen ohne Hilfestellung ist meist innerhalb von 3-4 Tagen möglich. Die Beschwerden klingen nach 2-4 Wochen langsam ab. Die Patienten benötigen oft 1-2 Monate Zeit, bis sie wieder voll arbeitsfähig sind und eine Beschwerdefreiheit erreicht wird.
Prognose der Neuritis vestibularis
Die Prognose ist im Allgemeinen sehr gut, die meisten Patient*innen erhalten ihren normalen Gleichgewichtssinn zurück.
In 40-50% der Fälle tritt eine vollständige Restitution der Gleichgewichtsfunktion ein. 20-30% der Betroffenen erreichen nur eine partielle Restitution.
In der Regel bilden sich die statischen Symptome wie der Spontannystagmus, Schwindel und die Fallneigung zurück, während die dynamischen Funktionsstörungen bestehen bleiben. Bei raschen Kopfbewegungen können z.B. Oszillopsien auftreten.
Das Auftreten von Rezidiven der Erkrankung ist selten. Wenn es zum Auftreten von Rezidiven kommt, dann kommen sie in der Regel auf der vorher nicht betroffenen Seite vor. Dies betrifft etwa 1,9% der Fälle.
Komplikationen
10-15% der Neuritis vestibularis Patienten erleiden innerhalb von Wochen auf dem betroffenen Ohr einen typischen benignen paroxysmalen Lagerungsschwindel. Eine wichtige Komplikation der Erkrankung ist der Übergang der Neuritis vestibularis in einen phobischen Schwankschwindel.
Vorbeugung
Wie bei so vielen gesundheitlichen Beschwerden gilt auch hier: ein gesunder Lebensstil, Sport und ausgewogene Ernährung wirken sich günstig aus.
Andere vestibuläre Störungen
Neben der Neuritis vestibularis gibt es weitere vestibuläre Erkrankungen, die Schwindel verursachen können:
Bilaterale Vestibulopathie (BV)
Bei der bilateralen Vestibulopathie handelt es sich um eine beidseitige Funktionsminderung oder einen Ausfall des Nervus vestibularis und/oder des Vestibularorgans. Dies führt zu Schwindel, Unsicherheit beim Gehen und Stehen, besonders im Dunkeln oder auf unebenem Boden.
Der zentrale Mechanismus der bilateralen Vestibulopathie ist der Verlust der Funktion beider Labyrinthe (die Bogengänge und die Maculaorgane im Innenohr) oder der Nervus vestibularis auf beiden Seiten. Dieser Funktionsverlust kann entweder vollständig oder unvollständig sein, was zu einer stark beeinträchtigten vestibulären Wahrnehmung führt.
In etwa 50 % der Fälle ist die Ursache der bilateralen Vestibulopathie idiopathisch, das heißt, sie bleibt unbekannt. Ototoxische Medikamente wie Aminoglykosid-Antibiotika können ebenfalls eine Rolle spielen.
Die bilaterale Vestibulopathie führt zu Symptomen wie Unsicherheit beim Gehen, besonders auf unebenem Untergrund oder im Dunkeln, sowie zu einem verminderten Gleichgewichtssinn. Im Verlauf setzt eine zentrale Kompensation ein, bei der das Gehirn versucht, den vestibulären Verlust durch visuelle und propriozeptive Informationen zu kompensieren.
Benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel (BPLS/BPPV)
Der BPPV ist die häufigste Ursache für peripheren Schwindel. Er wird durch Otolithen (kleine Kalziumkarbonatkristalle), die sich aus den Maculaorganen gelöst haben und in die Bogengänge wandern, verursacht.
Der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel (BPLS/BPPV) entsteht durch die Kanalolithiasis oder Kupulolithiasis. Bei der Kanalolithiasis schwimmen die gelösten Otolithen frei in der Endolymphe der Bogengänge und bewegen sich bei bestimmten Kopfbewegungen. Bei der Kupulolithiasis haften die Otolithen an der Cupula (gelartige Struktur innerhalb der Bogengänge).
Die Ablösung der Otolithen wird häufig mit Alterungsprozessen in Verbindung gebracht, die zu einer Degeneration der Otolithmembran führen kann. Andere mögliche Ursachen umfassen Kopfverletzungen, Infektionen oder entzündliche Prozesse im Innenohr.
Das Hauptsymptom des BPPV ist kurzzeitiger Drehschwindel, der durch bestimmte Kopfbewegungen ausgelöst wird. Lagerungsmanöver (z. B. Epley-Manöver) können helfen, die Otolithen aus den Bogengängen zu entfernen und den Schwindel zu beseitigen.
Morbus Menière
Morbus Menière ist durch endolymphatischen Hydrops gekennzeichnet, eine pathologische Flüssigkeitsansammlung im Vestibularorgan. Dies führt zu Schwindel, Hörverlust und Tinnitus.
Der genaue Auslöser des Morbus Menière ist bis heute unbekannt, jedoch geht man von einer multifaktoriellen Störung der Innenohrhomöostase aus. Eine der zentralen Annahmen ist eine Rückresorptionsstörung der Endolymphe, die normalerweise im endolymphatischen Sack reguliert wird. Wenn diese Funktion gestört ist, kommt es zu einem Überdruck im Vestibularsystem und Cochlea.
tags: #neuritis #vestibularis #ursachen #stress