Impfungen sind ein Eckpfeiler der öffentlichen Gesundheit und bieten Schutz vor einer Vielzahl von Infektionskrankheiten. Wie bei allen medizinischen Interventionen können jedoch auch nach Impfungen unerwünschte Ereignisse auftreten. In seltenen Fällen können neurologische Symptome nach einer Impfung auftreten, die von leichten Beschwerden bis hin zu schwerwiegenden Erkrankungen reichen können. Dieser Artikel beleuchtet verschiedene neurologische Symptome, die im Zusammenhang mit Impfungen berichtet wurden, untersucht mögliche Ursachen und bewertet die Kausalität.
Fallberichte: Neurologische Symptome nach Impfung
Die AkdÄ (Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft) erhielt Berichte über zwei Patientinnen, bei denen nach einer Impfung neurologische Symptome auftraten:
- Fall 1: Eine 66-jährige Patientin entwickelte neun Tage nach der ersten Impfung mit Shingrix® Kribbelparästhesien in Füßen und Unterschenkeln, gefolgt von Missempfindungen in den Fingerspitzen und zunehmender Schwäche der Beine. Eine MRT-Untersuchung zeigte eine Signalsteigerung der Cauda-Fasern, und es wurde ein Guillain-Barré-Syndrom (GBS) diagnostiziert. Die Patientin wurde zunächst mit intravenösen Immunglobulinen und anschließend mit Plasmapherese behandelt, woraufhin sich ihre Symptomatik deutlich besserte.
- Fall 2: Ein 15-jähriges Mädchen entwickelte etwa einen Monat nach einer Auffrischimpfung mit Encepur® distale Gefühlstörungen mit Parästhesien und langsam zunehmenden distal betonten Lähmungen. Eine Lumbalpunktion zeigte eine zytoalbuminäre Dissoziation, und der elektrophysiologische Befund war typisch für GBS. Im MRT der Wirbelsäule zeigte sich eine vermehrte piale Anreicherung des Conus medullaris und der Vorderwurzeln. Die Patientin erhielt Immunglobuline, woraufhin sich ihr Zustand und ihre Mobilität verbesserten.
Arzneimittel im Fokus
- Shingrix®: Ein rekombinanter, adjuvantierter Herpes-Zoster-Impfstoff zur Vorbeugung von Herpes Zoster und postzosterischer Neuralgie bei Erwachsenen ab 50 Jahren sowie bei Erwachsenen ab 18 Jahren mit erhöhtem Risiko für HZ.
- Encepur®: Ein inaktivierter Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME)-Impfstoff zur aktiven Immunisierung von Personen ab 12 Jahren gegen FSME.
Das Guillain-Barré-Syndrom (GBS)
Das GBS ist eine idiopathische Polyneuritis der spinalen Nervenwurzeln und peripheren Nerven mit einer Inzidenz von etwa 1-2 pro 100.000 Einwohner. Hirnnerven sind seltener betroffen. Es kann in jedem Lebensalter auftreten, wobei Männer häufiger betroffen sind als Frauen. Die genaue Ätiologie ist unklar, es wird jedoch eine Autoimmunerkrankung angenommen, bei der Autoantikörper gegen Ganglioside oder Myelin bzw. gegen die Zellmembranen der Axone des peripheren Nervensystems gebildet werden. Auslösende Faktoren können Infektionen und Impfungen sein.
Bewertung der Kausalität
In den berichteten Fällen ist der Verlauf der Erkrankung gut mit einem GBS vereinbar. Immunologische Stimuli wie Infekte und Impfungen sind bekannte Trigger eines GBS. Die Fachinformation von Shingrix® weist darauf hin, dass in einer Beobachtungsstudie nach der Markteinführung bei Personen ab 65 Jahren ein erhöhtes Risiko für GBS innerhalb von 42 Tagen nach der Impfung beobachtet wurde. Die vorliegenden Informationen reichten jedoch nicht aus, um einen kausalen Zusammenhang mit der Impfung zu bestimmen. Für Encepur® ist GBS weder als mögliche Nebenwirkung in der Fachinformation gelistet, noch finden sich weitere Hinweise auf ein mögliches Risiko.
Daten aus der EudraVigilance-Datenbank
Die EudraVigilance-Datenbank meldet bis zum 12.10.2023 206 Verdachtsfälle von GBS nach Impfung mit Shingrix® sowie 117 Meldungen zu GBS nach Impfung gegen FSME. Es ist wichtig zu berücksichtigen, dass Meldungen von Verdachtsfällen nicht identisch mit Nebenwirkungen sind und keinen Rückschluss auf die tatsächliche Häufigkeit der gemeldeten Reaktion in der geimpften Population zulassen. Ein ursächlicher Zusammenhang kann allein aufgrund dieser Daten nicht festgestellt werden.
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COVID-19-Impfstoffe und GBS
Eine Studie von Goud et al. untersuchte die Fälle, die an die US-Nebenwirkungsdatenbank VAERS gemeldet wurden und ergab, dass der COVID-19-Impfstoff Ad26.COV2-S (Jcovden) von Johnson & Johnson mit einem erhöhten Risiko für das Guillain-Barré-Syndrom (GBS) assoziiert sein könnte. Die GBS-Melderaten innerhalb von 21 und 42 Tagen nach der Janssen-Impfung waren neun- bis zwölfmal höher als nach einer mRNA-Impfung mit den Covid-19-Vakzinen von BioNTech/Pfizer (Comirnaty) und Moderna (Spikevax). Für die beiden mRNA-Impfstoffe konnte kein entsprechender Zusammenhang ermittelt werden.
Die retrospektive Kohortenstudie wertete die von Dezember 2020 bis Januar 2022 beim Vaccine Adverse Event Reporting System (VAERS) eingegangenen Meldungen über Erkrankungen am Guillain-Barré-Syndrom nach einer Covid-19-Impfung aus. Als Vakzine kamen Ad26.COV2.S (Johnson & Johnson), BNT162b2 (BioNTech/Pfizer) und mRNA-1273 (Moderna) zum Einsatz. Die Forschenden verglichen die Meldemuster in den 21 und 42 Tagen nach der Coronaimpfung. In Summe umfasste die Analyse 487.651.785 Covid-19-Impfdosen.
Bei den Impfdosen entfielen 3,7% auf den Janssen-Impfstoff, 54,7% auf die mRNA-Vakzine von BioNTech/Pfizer und 41,6% auf den mRNA-Impfstoff von Moderna. Insgesamt verzeichnete das VAERS 295 GBS-Fälle nach einer Covid-19-Impfung; in 275 Berichten (93,2%) war eine Hospitalisierung dokumentiert.
Innerhalb von 21 Tagen nach der Covid-19-Impfung gingen 209 gemeldete Fälle von Guillain-Barré-Syndrom ein, innerhalb von 42 Tagen waren es 253.
Die 21-Tage-Raten an Meldungen pro 1.000.000 Impfdosen betrugen 3,29 für Ad26.COV2.S (Johnson & Johnson), 0,29 für BNT162b2 (BioNTech/Pfizer) und 0,35 für mRNA-1273 (Moderna). Die entsprechenden Raten in den 42 Tagen nach der Impfung lagen bei 4,07 (Johnson & Johnson), 0,34 (BioNTech/Pfizer) und 0,44 (Moderna).
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In den 21 Tagen nach der Impfung mit der Covid-19-Vakzine Janssen gab es mehr GBS-Meldungen als nach der Impfung mit den mRNA-Impfstoffen von BioNTech/Pfizer (RRR 11,40, 95%-KI 8,11-15,99) oder Moderna (RRR 9,26, 95%-KI 6,57-13,07]). Ähnliche Ergebnisse wurden innerhalb von 42 Tagen nach der Impfung beobachtet (BNT162b2: RRR 12,06, 95%-KI 8,86-16,43; mRNA-1273: RRR 9,27, 95%-KI 6,80-12,63).
Die Rate von beobachteten zu erwarteten (OE-Ratio) Fällen an Guillain-Barré-Syndrom betrug 3,79 (95%-KI 2.88-4.88) für das 21-Tage- und 2,34 (95%-KI 1.83-2.94) für das 42-Tage-Intervall nach der Janssen-Impfung. Nach der mRNA-Impfung mit BNT162b2 und mRNA-1273 lag die OE-Ratio in beiden Zeiträumen unter 1 (nicht signifikant).
Die Forschenden kamen zu dem Schluss, dass der Janssen-Impfstoff mit einem erhöhten Risiko für GBS verbunden zu sein scheint, das absolute GBS-Risiko nach der Janssen-Covid-19-Impfung jedoch nur in einer Größenordnung von einigen Fällen pro Million Impfdosen liegt.
Ein Erklärungsversuch für den Zusammenhang zwischen dem Janssen-Impfstoff und GBS könnte in der Verwendung eines Adenovirus-Vektors liegen. Es ist möglich, dass durch den Janssen-Impfstoff induzierte Antikörper mit Glykoproteinen auf der Myelinscheide der Axone peripherer Nerven kreuzreagieren und ein Guillain-Barré-Syndrom auslösen. Ebenso gab es Berichte über ein erhöhtes GBS-Risiko nach der Impfung mit der ChAdOx1 nCov-19 Vakzine (Vaxzevria von AstraZeneca).
Weitere neurologische Komplikationen nach COVID-19-Impfung
Nach einer Impfung gegen COVID-19 kann es in extrem seltenen Fällen zu neurologischen Komplikationen kommen. Ein ursächlicher Zusammenhang ist belegt zwischen der Anwendung von Vektorimpfstoffen und der Auslösung einer immuninduzierten thrombotischen Thrombozytopenie mit Sinus- und Hirnvenenthrombosen. Weitere mögliche neurologische Komplikationen nach COVID-19-Impfung mit Vektorimpfstoffen sind ischämische Hirninfarkte und Hirnblutungen, Fazialisparesen und Enzephalomyelitiden.
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Studie aus Deutschland zu zerebrovaskulären Ereignissen nach COVID-19-Impfung
Eine in Deutschland durchgeführte Studie unter der Projektleitung der Klinik für Neurologie an der Uniklinik RWTH Aachen beschreibt das Auftreten von zerebrovaskulären Ereignissen, insbesondere Sinus- und Hirnvenenthrombosen im Gehirn, nach Impfung gegen SARS-CoV-2. Die DGN-Studie „Cerebral venous thrombosis associated with vaccination against COVID-19“ zeigt, dass es nach Impfung mit dem SARS-CoV-2-AstraZeneca-Impfstoff zu signifikant mehr zerebralen Sinus- und Hirnvenenthrombosen (CVT) kam als nach Impfung mit den mRNA-Impfstoffen. Die Rate der aufgetretenen CVT-Ereignisse war nach einer Erstimpfung mit Vakzinierung mit ChAdOx1 um mehr als neunmal höher als nach Impfung mit den mRNA-Impfstoffen.
Insgesamt gingen im Rahmen der Abfrage 87 Meldungen ein, von denen 62 durch das Expertenteam bestätigt wurden. In 95,2 Prozent der Fälle waren die unerwünschten Ereignisse nach erster Gabe des Impfstoffs aufgetreten: bei 45 Fällen handelte es sich um zerebrale Venenthrombosen, bei neun um ischämische Schlaganfälle, bei vier um Hirnblutungen und bei weiteren vier um andere thrombotische Ereignisse. 53 der insgesamt 62 bestätigten Fälle (85,5 Prozent) waren nach Impfung mit dem AstraZeneca-Impfstoff ChAdOx1 aufgetreten, neun Fälle (14,5 Prozent) nach Impfung mit dem BioNTech-Vakzin BNT162b2. Es wurden keine Ereignisse nach Gabe des Impfstoffs mRNA-1273 von Moderna beobachtet.
Bei Frauen unter 60 Jahren, die eine Impfung mit dem AstraZeneca-Vakzin erhalten hatten, betrug die Ereignisrate für CVT innerhalb eines Monats nach der Erstimpfung 24,2/100.000 Personenjahre, bei gleichaltrigen Männern 8,9/100.000. Bei unter 60-Jährigen, die den BioNTech-Impfstoff erhalten hatten, betrug die Ereignisrate 3,6/100.000 Personenjahre bei Frauen und 3,5/100.000 bei Männern. Die Inzidenzrate der Hirnvenenthrombosen bei Frauen unter 60 nach Gabe des AstraZeneca-Impfstoffs betrug 24,2/100.000 Personenjahre, die von Frauen über 60 nach Gabe des gleichen Impfstoffs 20,5/100.000 Personenjahre.
Die Studie kommt zu dem Schluss, dass auch ältere Frauen ein erhöhtes Risiko haben, Hirnvenenthrombosen nach Gabe des AstraZeneca-Vakzins zu erleiden. Nach der Impfung mit dem AstraZeneca-Vakzin ChAdOx1 kann es in sehr seltenen Fällen zu einer Vakzine-induzierten immunogenen thrombotischen Thrombozytopenie (VITT) kommen.
Post-Vac-Syndrom
Die Coronapandemie hat die Gesundheitssysteme vor immense Herausforderungen gestellt und immer noch binden die protrahierten, postinfektiösen Beschwerden, welche als Long-COVID (LC) bezeichnet werden, viele Kapazitäten. Bereits im ersten Jahr der Impfkampagne gab es Berichte über Patientinnen und Patienten, die an einer LC-ähnlichen Symptomatik leiden, ohne zuvor an COVID-19 erkrankt zu sein. Die Symptome stehen bei diesen Betroffenen im Zusammenhang mit einer Coronaimpfung, weswegen diese Impfkomplikation unter anderem als Post-Vac-Syndrom (PVS) bezeichnet wird. Typisch ist, dass die Beschwerden mit mehreren Wochen Latenz nach der Impfung ihren Höhepunkt erreichen und jahrelang persistieren. Das Krankheitsbild ist, ähnlich wie LC, mit einer Vielzahl an Symptomen verbunden, bei denen häufig Fatigue, kardiovaskuläre und neurologische Symptome im Vordergrund stehen. Oft führen körperliche oder geistige Beanspruchung zur Beschwerdezunahme, der sogenannten Post-Exertional-Malaise. Phasenweise bestehen zudem Gelenk-, Glieder- und Kopfschmerzen.
Neurologische Impfkomplikationen durch Astrazeneca und Biontech/Pfizer
Eine Studie im Fachmagazin "Nature Medicine" hat seltene neurologische Impfkomplikationen durch die Covid-Wirkstoffe von Astrazeneca und Biontech/Pfizer untersucht. Die Forscher konnten einen Zusammenhang zwischen der Impfung mit dem Vakzin von AstraZeneca und einem höheren Risiko für das Guillain-Barré-Syndrom feststellen. Außerdem haben sie beim Impfstoff von Pfizer/Biontech gesehen, dass damit ein erhöhtes Risiko für Schlaganfälle durch Gehirnblutungen assoziiert ist.
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