Die okuläre Myasthenie ist eine Form der Myasthenia gravis, die sich hauptsächlich auf die Augenmuskulatur auswirkt. Dieser Artikel bietet einen umfassenden Überblick über die Diagnose, Symptome und Behandlungsmöglichkeiten dieser Erkrankung.
Einführung
Die Myasthenia gravis (MG) ist eine erworbene Autoimmunerkrankung, bei der Autoantikörper die Reizübertragung zwischen Nerven und Muskeln stören. Bei der Myasthenia gravis richten sich Autoantikörper gegen die Acetylcholinrezeptoren prä- und postsynaptischer Strukturen an der neuromuskulären Endplatte. Dies führt zu einer belastungsabhängigen Muskelschwäche. Die okuläre Myasthenie (OMG) ist eine Variante, bei der die Symptome auf die Augenmuskulatur beschränkt sind.
Ursachen und Pathophysiologie
Die Myasthenie ist eine erworbene Autoimmunerkrankung, die meist durch die Bildung von Autoantikörpern gegen prä- oder postsynaptische Acetylcholinrezeptoren (AChR-Antikörper) entsteht. Weitere bisher bekannte Antikörper richten sich gegen die muskelspezifische Kinase (MuSK-Antikörper) oder gegen das Lipoportein-related Protein 4 (LRP4-Antikörper). Als Auslöser der Antikörperbildung werden vor allem Infektionen durch Viren und Bakterien diskutiert, bei ca. 15% der klinisch eindeutig Betroffenen können keine Antikörper gefunden werden (sog. seronegative Myasthenie).
Die Autoantikörper blockieren oder zerstören Acetylcholinrezeptoren an den motorischen Endplatten, wodurch die neuromuskuläre Übertragung gestört wird. Physiologischerweise fusionieren bei der neuromuskulären Übertragung an motorischen Endplatten mit Acetylcholin gefüllte Vesikel mit der präsynaptischen Membran. Die nun in den synaptischen Spalt ausgeschütteten Transmitter binden reversibel an postsynaptische nikotinerge Rezeptoren, woraufhin sich Rezeptorenkanäle für Ionen öffnen. Ein postsynaptischer Natriumeinstrom führt zu einer Depolarisation und Erregungsübertragung im Muskel. Zur Wiederaufnahme in die Synapse wird Acetylcholin durch die Cholinesterase gespalten und der Prozess kann erneut beginnen.
Neben autoimmunen, iatrogenen und genetischen Faktoren scheinen Thymusveränderungen bei der multifaktoriellen Genese der Myasthenie eine Rolle zu spielen: Bei den meisten Betroffenen finden sich Thymushyperplasien (in 85%) oder Thymome (10-15%).
Lesen Sie auch: Was Sie über okuläre Myasthenie wissen sollten
Epidemiologie
Die Inzidenz der Myasthenia gravis liegt zwischen 0,2 und 3,5 pro 100 000 Menschen pro Jahr. Die Prävalenz der Erkrankung liegt in Deutschland bei 10-36 pro 100 000 Personen. Mit ca. 16.000 Betroffenen deutschlandweit gehört die Myasthenie zu den seltenen neurologischen Erkrankungen.
Ca. Betroffen sind also vor allem Frauen im Alter zwischen 20 und 40 Jahren, während sich die Erkrankung bei Männern eher im höheren Alter zwischen dem 50. Und 80. Lebensjahr manifestiert. Prinzipiell kann die Autoimmunerkrankung jedoch bei beiden Geschlechtern in jedwedem Alter auftreten.
Symptome der okulären Myasthenie
Die okuläre Myasthenie betrifft hauptsächlich die Muskeln, die für die Augenbewegung und die Augenlidhebung verantwortlich sind. Typische Symptome sind:
- Ptosis: Ein oder beidseitiges Herabhängen der Augenlider. Patienten mit CPEO entwickeln meist eine Ptosis als Erstsymptom, initial häufig erst einseitig oder asymmetrisch ausgeprägt.
- Diplopie: Doppelbilder, die durch eine Schwäche der Augenmuskeln entstehen. Die Beschwerden nehmen im Laufe des Tages zu und sind abends dementsprechend meist stärker ausgeprägt.
- Verschwommensehen: Erste Beschwerden im Bereich der Augen können aber auch Verschwommensehen, „müde Augen“, schwere Oberlider sowie verstärkte Anstrengung beim Lesen, Fernsehen, bei Bildschirmarbeit oder greller Beleuchtung sein.
- Ermüdbarkeit der Augenmuskulatur: Die Symptome verstärken sich bei längerer Beanspruchung der Augen, z. B. beim Lesen oder bei Bildschirmarbeit. Die allgemeine Schwäche nimmt oft im Tagesverlauf und bei Belastung zu und kann im Verlauf von Stunden, Tagen und Wochen stark schwanken.
Diagnose
Die Diagnose der okulären Myasthenie basiert auf einer Kombination aus klinischer Untersuchung, spezifischen Tests und dem Ausschluss anderer Erkrankungen. Zu den diagnostischen Verfahren gehören:
Klinische Untersuchung:
Lesen Sie auch: Behandlung okulärer Myasthenie mit Medikamenten
- Anamnese: Erhebung der Krankengeschichte und Beschreibung der Symptome. Die Patientinnen und Patienten werden gezielt nach Doppelbildern, Kau- und Schluckbeschwerden, Gewichtsabnahme und der Verschlechterung der Symptomatik unter Belastung bzw.
- Neurologische Untersuchung: Beurteilung der Muskelkraft und der Reflexe. Bei Merkmalen wie „Ermüdung unter Belastung“ und „Erholung unter Ruhe“ ist das „Daran Denken“ des behandelnden Arztes, dass eine neuromuskuläre Übertragungsstörung vorliegen könnte, von großer Bedeutung.
- Simpson-Test: Ein klinischer Test, der eine abnorme Ermüdbarkeit der Muskulatur bestätigen kann, ist der „Simpson-Test“. Hierbei werden Betroffene darum gebeten, lange nach oben zu blicken - bei Myasthenie-patienten nimmt die Ptose innerhalb einer Minute deutlich zu. Klinische Auffälligkeiten zeigen sich zudem im Arm-, Bein- und Kopfhalteversuch: Die Testungen sind positiv, wenn die Extremitäten oder der Kopf vorzeitig absinken.
Pharmakologische Tests:
- Edrophonium-Test (Tensilon-Test): Die intravenöse Gabe von Edrophonium, einem Cholinesterasehemmer, führt zu einer kurzzeitigen Verbesserung der Symptome. Ähnlich funktioniert der Pyridostigmintest, bei dem ein langwirksamer Cholinesterasehemmer 45-60 min. nach oraler Gabe zu einer Verbesserung der Symptomatik führt.
- Eisbeutel-Test: Bei oberer Lidschwäche den sogenannten Eisbeutel-Test vornehmen.
Elektrophysiologische Untersuchungen:
- Repetitive Nervenstimulation: Elektromyographisch können über eine Oberflächenelektrode Potentiale bei repetitiver Stimulation eines Muskels abgelesen werden. Es zeigt sich ein sog. „Decrement“, d. h. eine Abnahme des Muskelsummenaktionspotentials.
- Einzelfaser-Elektromyographie (SFEMG): Diese sensitive Methode kann Störungen der neuromuskulären Übertragung aufdecken.
Blutuntersuchungen:
- Acetylcholinrezeptor-Antikörper (AChR-AK): Bei etwa 85 % der Myasthenie-Patienten ist ein Antikörper gegen den Acetylcholinrezeptor (anti-AChR-AK) im Blut nachweisbar. Bei passender Symptomatik sichert ein positiver AChR-Test die Diagnose. Allerdings sind bei 50 % der Betroffenen mit ausschließlich Augensymptomen und bei 15 % der Betroffenen mit einer generalisierten Myasthenie-Symptomatik keine AChR-Antikörper nachweisbar.
- Muskelspezifische Tyrosinkinase-Antikörper (MuSK-AK): Können diese trotz klinischem Verdacht nicht gefunden werden, sollte nach Antikörpern gegen die muskelspezifische Tyrosinkinase (Anti-MuSK-AK), Antikörper gegen spannungsgesteuerte Calciumkanäle (Anti-VGCC-AK), Antikörper gegen Lipoprotin-related Protein 4 (Anti-LRP4-AK) und Antikörper gegen Agrin (Anti-Agrin-AK) gefahndet werden.
- Weitere Antikörper: Anti-VGCC-AK, Anti-LRP4-AK und Anti-Agrin-AK. Getestet wird zum Beispiel auf Anti-Acetylcholinrezeptor-AK, Anti-MuSK-AK, Anti-LRP4-AK und Anti-Titin-AK. Auf Letztere wird das Blut untersucht, wenn der Verdacht auf Tumore der Thymusdrüse besteht, sogenannte Thymome.
Bildgebung:
- CT oder MRT des Thorax: Bei Verdacht auf eine Myasthenie sollte eine Bildgebung des Thorax durchgeführt werden, um etwaige Thymusveränderungen aufzuzeigen. Diagnostisch wichtig ist auch ein CT mit Kontrastmittel des vorderen oberen Brustkorbs zum Nachweis einer bei der Myasthenie bedeutsamen möglichen Vergrößerung der Thymusdrüse bzw.
Differenzialdiagnosen
Okuläre Symptome, die einer Myasthenie ähneln, können auch auf eine okulopharyngeale Muskeldystrophie oder die Affektion einzelner Hirnnerven hinweisen. Die wichtigsten Differentialdiagnosen sind jedoch andere Störungen der neuromuskulären Übertragung, z.B. dasLambert-Eaton-Syndrom.
Lesen Sie auch: Einblicke in die okuläre Myasthenie Gravis
Die Differenzialdiagnose der CPEO umfasst endokrine Orbitopathie, chronische orbitale (Pan)Myositis, okuläre Manifestation einer Myasthenia gravis, okulopharyngeale Muskeldystrophie, myotone Dystrophie Typ 1, Abetalipoproteinämie sowie die Refsum-Krankheit. In seltenen Fällen können HIV-Erkrankte, die eine antiretrovirale Therapie erhalten, ein CPEO-ähnliches Syndrom entwickeln.
Therapie
Eine kausale Therapie für die Myasthenia gravis steht derzeit nicht zur Verfügung. Die Behandlung zielt darauf ab, die Symptome zu lindern und die Lebensqualität der Patienten zu verbessern. Die wichtigsten Therapieansätze sind:
Medikamentöse Therapie:
- Cholinesterasehemmer: Diese Medikamente (z. B. Pyridostigmin) verbessern die neuromuskuläre Übertragung, indem sie den Abbau von Acetylcholin verzögern. Die wichtigste symptomatische Basistherapie der Myasthenia gravis sind Cholinesterasehemmer. In der aktuellen Leitlinie wird als Medikament der Wahl für die Langzeitbehandlung Pyridostigmin-Bromid empfohlen, welches auch als retardiertes Präparat zur Verfügung steht.
- Immunsuppressiva: Corticosteroide (z. B. Prednisolon) und Azathioprin werden eingesetzt, um die Autoimmunreaktion zu unterdrücken. Sie dämpfen als körpereigene Hormone die Überaktivität des Immunsystems und erzielen rasch eine deutliche Symptomverbesserung. Vor allem bei unzureichender Therapie durch Cholinesterasehemmer, aber auch zur Verhinderung des Übertretens einer okulären in eine generalisierte Myasthenie sollten Immunsuppressiva eingesetzt werden. Mittel der Wahl sind hierfür Glukokortikoide in Kombination mit Azathioprin.
- Weitere Immuntherapien: In schweren Fällen können intravenöse Immunglobuline (IVIG) oder eine Plasmapherese eingesetzt werden, um die Autoantikörper zu entfernen. Im Falle einer myasthenen Krise können die pathogenen Antikörper durch intravenöse Immunglobuline oder eine Plasmapherese neutralisiert werden.
Thymektomie:
- Die operative Entfernung der Thymusdrüse kann bei Patienten mit einem Thymom oder einer generalisierten Myasthenie in Erwägung gezogen werden. Kann ein Thymom nachgewiesen werden, sollte unabhängig vom Schweregrad der Myasthenia gravis eine Thymektomie erfolgen. Bei generalisierter Myasthenie kann dieser Eingriff auch unabhängig von einem Thymomnachweis erfolgen, bei Myastheniepatienten mit Nachweis von MuSK-Antikörpern wird eine Thymektomie hingegen nicht empfohlen.
Symptomatische Behandlung:
- Ptosis-Korrektur: Bei hängenden Augenlidern können operative Maßnahmen oder spezielle Brillen mit Lidstützen helfen. Zusätzlich können aber bei hängenden Lidern Hilfsmittel wie etwa ein Lidretraktor an der Brille, ein durchsichtiges Klebeband oder auch eine Raffung des betroffenen Augenlids zu einer verbesserten Sicht führen.
- Diplopie-Behandlung: Doppelbilder können mit Prismenbrillen oder durch das Abdecken eines Auges korrigiert werden. Doppelbilder können vorübergehend durch wechselseitiges Abdecken eines Auges bzw. langfristig beispielsweise durch Prismenfolien für Brillengläser behandelt werden. In manchen Fällen kann auch eine Schielkorrekturoperation angezeigt sein.
- Allgemeine Maßnahmen: Regelmäßige Ruhepausen, Vermeidung von Stress und ausreichender Schlaf können die Symptome lindern.
Verlauf und Prognose
Die okuläre Myasthenie kann einen variablen Verlauf haben. Bei einigen Patienten bleiben die Symptome auf die Augen beschränkt, während sich bei anderen eine generalisierte Myasthenie entwickelt. Bei 70-80 % der Patientinnen und Patientin mit initial okulärer Symptomatik kommt es in den ersten 2 - 3 Jahren zu einer Generalisierung der Erkrankung. Dank moderner Behandlungsmethoden ist die Prognose jedoch in der Regel gut.
Alltag mit okulärer Myasthenie
Patienten mit okulärer Myasthenie können ihren Alltag durch folgende Maßnahmen erleichtern:
- Anpassung des Arbeitsplatzes: Ergonomische Gestaltung des Arbeitsplatzes, um die Augenmuskulatur zu entlasten.
- Regelmäßige Pausen: Einlegen von regelmäßigen Pausen bei Tätigkeiten, die die Augen stark beanspruchen.
- Vermeidung von Stress: Stress kann die Symptome verstärken, daher sollten Stressoren vermieden werden.
- Ausgewogene Ernährung: Eine gesunde Ernährung kann das allgemeine Wohlbefinden verbessern.
- Unterstützung suchen: Der Austausch mit anderen Betroffenen kann hilfreich sein.
tags: #okuläre #Myasthenie #diagnostik