Gehen ist eine Fähigkeit, die wir oft als selbstverständlich betrachten. Doch nach einer Operation, einem Schlaganfall oder durch altersbedingten Muskelabbau kann sich das Gangbild verändern, unsicher werden oder ganz aus dem Gleichgewicht geraten. Hier setzt die Gangschule in der Physiotherapie an, ein zentraler Bestandteil der Rehabilitation, um die Gehfähigkeit wiederzuerlangen oder zu verbessern.
Was ist Gangschule?
Die Gangschule in der Physiotherapie ist ein umfassendes Programm, das darauf abzielt, die Gehfähigkeit nach einer Erkrankung oder Verletzung wiederherzustellen oder zu verbessern. Sie bietet ein breites Spektrum an Übungsformen, von der klassischen Krankengymnastik bis hin zu spezialisierten Gangtrainings.
Unsere Gehfähigkeit ist ein komplexes Zusammenspiel aus Kraft, Koordination, Gleichgewicht, Reaktion und Wahrnehmung. Wenn auch nur einer dieser Bereiche gestört ist, kann sich das sofort negativ auf den Gang auswirken. Ein falsches Gangmuster kann auf Dauer nicht nur schmerzhaft sein, sondern auch neue Probleme verursachen, zum Beispiel im Rücken oder in anderen Gelenken.
Bedeutung in der neurologischen Physiotherapie
Besonders in der neurologischen Physiotherapie spielt die Gangschule eine zentrale Rolle. Nach einem Schlaganfall, bei Multipler Sklerose oder Parkinson ist der Bewegungsablauf oft gestört. Die Muskulatur kann nicht mehr so wie vorher, das Gleichgewicht ist beeinträchtigt, und auch die Körperwahrnehmung verändert sich. Aber auch bei orthopädischen Diagnosen - etwa nach einer Sprunggelenksfraktur oder Knie-OP - geht es darum, das Gangbild zu normalisieren und Fehlbelastungen zu vermeiden.
Bei neurologischen Erkrankungen sind die Übungen oft kleinschrittiger, repetitiver und stärker auf bestimmte Bewegungsabläufe fokussiert. Gerade nach einem Schlaganfall ist eine Körperhälfte häufig schwächer, daher liegt ein Fokus auf der Förderung symmetrischer Bewegungen.
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Die Gangbildanalyse
Am Anfang steht immer eine genaue Gangbildanalyse. In der Physiotherapie bedeutet das: Deine Therapeutin oder Dein Therapeut schaut sich sehr genau an, wie Du gehst. Dabei geht es nicht nur um die Geschwindigkeit, sondern um viele Details: Setzt Du Deine Füße symmetrisch auf? Wie bewegt sich Dein Becken? Ist der Oberkörper aufrecht? Diese Beobachtungen sind essenziell, um die richtigen physiotherapeutischen Übungen auszuwählen.
Übungen in der Gangschule
Zu den typischen Übungen in der Gangschulung gehören sowohl dynamische als auch statische Trainingsformen. Dabei wird nicht nur das Gehen selbst geübt, sondern auch alle beteiligten Funktionen wie Gleichgewicht, Kraft und Koordination.
- Gleichgewichtstraining: Das Training auf weichen Matten, unebenen Flächen oder Wackelbrettern schult Deine Tiefensensibilität und das Gleichgewicht. Übungen auf einem Balance-Board oder einer weichen Unterlage verbessern die Standfestigkeit und Koordination.
- Koordinationstraining: Hierbei gehst Du bewusst über Linien, kleine Hindernisse oder Bodenmarkierungen. Diese Bewegungsmuster sind ungewohnt, aber sehr effektiv. Versuche, zwei verschiedene Bewegungen gleichzeitig auszuführen, wie z.B. einen Ball hin und her werfen und dabei auf der Stelle laufen.
- Gangtraining: Gezielte Gehübungen verbessern Gangbildstörungen und Mobilität. Rollatoren, Stöcke oder spezielle Gehtrainer kommen zum Einsatz, wenn das freie Gehen (noch) nicht möglich ist. Gehe entlang einer gedachten Linie und hebe die Knie bei jedem Schritt oberhalb der Hüfteebene hoch (wie ein „Storch im Salat"). Denke dir eine Linie und balanciere in dem du einen Fuß vor den anderen setzt. Gehe entlang einer gedachten Linie und drehe den Kopf bei jedem dritten Schritt abwechselnd nach rechts und links.
- Krafttraining: Gezielter Muskelaufbau ist besonders wichtig - vor allem in den Beinen, im Becken und im Rumpf. Stärkungsübungen für die Rumpfmuskulatur verbessern Stabilität und Haltung.
- Reaktionsfähigkeit: Reaktionsspiele, bei denen du auf visuelle oder akustische Signale schnell reagieren musst.
- Sensibilitätstraining: Bei neurologischen Erkrankungen können auch Ihre Sensibilität und Wahrnehmung beeinträchtigt sein.
Übungen für zu Hause
Die regelmäßige Teilnahme an physiotherapeutischen Sitzungen ist ein wichtiger Bestandteil der Gangschule. Doch mindestens genauso entscheidend ist das eigenständige Üben zwischen den Terminen - vor allem dann, wenn Du langfristige Erfolge erzielen möchtest. Viele Übungen aus der Gangschulung lassen sich problemlos in den eigenen vier Wänden durchführen. Im Folgenden findest Du ausgewählte Übungen aus der Physiotherapie, die sich besonders gut für zuhause eignen. Diese sind bewusst einfach gehalten, erfordern keine speziellen Geräte und lassen sich individuell an Dein Leistungsniveau anpassen.
- Zehenspitzenstand: Stell Dich aufrecht hin, die Füße hüftbreit auseinander. Hebe langsam die Fersen an, sodass Du auf den Zehenspitzen stehst.
- Überwinden eines Hindernisses: Spanne ein Fitnessband (oder ein auf den Boden gelegtes Seil) etwa auf Knöchelhöhe zwischen zwei festen Punkten. Gehe nun langsam darüber - erst vorwärts, dann seitlich.
- Zielsicheres Auftreten: Lege Dir farbige Klebepunkte, Kreppband-Streifen oder flache Objekte auf den Boden - in unterschiedlichen Abständen. Versuche, bei jedem Schritt gezielt auf ein Ziel zu treten.
- Linienlaufen: Zeichne mit Kreide oder Klebeband eine Linie auf den Boden. Versuche, auf dieser Linie zu balancieren und geradeaus zu gehen.
- Aufstehen vom Stuhl: Setze Dich auf einen stabilen Stuhl (möglichst ohne Armlehnen) und stelle die Füße flach auf den Boden. Stehe nun langsam auf und setze Dich wieder hin. Wiederhole diese Übung mehrmals. Der Übergang vom Sitzen zum Stehen ist ein kritischer Moment im Alltag und eng mit dem Gangbeginn verbunden.
- Seitliches Aufstehen vom Stuhl: Stellen Sie sich seitlich neben den Stuhl und halten Sie sich mit einer Hand fest. Das dem Stuhl zugewandte Bein ist nun das Standbein. Das freie Bein macht nun abwechselnd einen Schritt nach vorne und nach hinten. Wenn Sie sich sicher fühlen, erhöhen Sie ein wenig das Tempo (Dauer 60 sec).
- Einbeinstand: Stellen Sie sich seitlich neben den Stuhl und versuchen Sie so lange wie möglich auf einem Bein zu stehen. Wechseln Sie nach mehreren Wiederholungen die Seite und schließen wenn möglich die Augen und vergleichen den Stand. Wenn Sie sich sicher fühlen, versuchen Sie ohne Festhalten so lange wie möglich auf einem Bein zu stehen.
- Fersen-Zehen-Gang: Stellen Sie beiden Füße auf einer Linie voreinander, sodass sich die Zehenspietzen und die Ferse berühren. Wenn Sie sicher stehen, schließen Sie die Augen und beobachten wie sich Ihr Stand verändert. Wechseln Sie die Fußstellung und wiederholen Sie die Übung mit geöffneten und geschlossenen Augen (je Seite 60 Sekunden). Wiederholen Sie diese Übung nun ohne sich festzuhalten und sowohl mit dem rechten als auch dem linken Fuß vorne. Versuchen Sie einen Durchgang mit geöffneten und geschlossenen Augen durchzuführen (je Seite 60 Sekunden).
Tipps für ein effektives Training
Die besten Übungen helfen wenig, wenn sie nicht regelmäßig angewendet werden. Deshalb ist es sinnvoll, die Gangschule nicht als „Extra“ zu betrachten, sondern als festen Bestandteil Deines Tages.
- Regelmäßigkeit: Setze Dir feste Zeitfenster - am besten morgens und abends - in denen Du Deine Übungen machst.
- Dokumentation: Notiere, was Dir heute leichter gefallen ist als gestern.
- Sicherheit: Übe nur in sicherer Umgebung. Entferne Stolperfallen, trage rutschfeste Schuhe und halte Dich anfangs gerne an Möbeln oder Wänden fest.
- Alltagsintegration: Statt lange Trainingseinheiten zu planen, kannst Du Übungen gezielt in alltägliche Abläufe integrieren: Mach z. B. beim Zähneputzen Dehnübungen oder balanciere beim Warten auf den Bus.
- Alltagsnahe Übungen: Integriere alltagsnahe Übungen in deinen Alltag, um kontinuierlich deine neurologischen Fähigkeiten zu stärken. Alltagsnahe Übungen werden oft übersehen, sind aber entscheidend, um eine Brücke zwischen theoretischem Wissen und praktischen Fähigkeiten zu schlagen. Diese Übungen unterstützen nicht nur die motorischen Fähigkeiten, sondern auch die kognitive Flexibilität und Problemlösungsfähigkeiten, die im Alltag unerlässlich sind.
- Fingerübungen: Versuche, Fingerbewegungen zu üben, wie zum Beispiel das Spielen eines Instruments oder das Formen von Knete.
- Gedächtnisübungen: Spiele Memory oder versuche, dir eine Liste von Gegenständen oder Namen zu merken.
- Entspannungsübungen: Meditation und Atemübungen können dir helfen, Stress abzubauen und deine Konzentrationsfähigkeit zu verbessern.
Ergotherapie als ergänzende Maßnahme
Ergotherapie spielt eine zentrale Rolle in der Rehabilitation von neurologischen Patienten. Neurologie Übungen in der Ergotherapie zielen darauf ab, motorische, kognitive und sensorische Fähigkeiten zu verbessern. Feinmotorik Übungen sind ein entscheidender Bestandteil der Ergotherapie bei neurologischen Patienten. Diese Übungen helfen dabei, die Fingerfertigkeiten und Koordination zu verbessern. Beispiele hierfür sind Knöpfe zuknöpfen und aufknöpfen, Schreiben und Zeichnen mit verschiedenen Stiften oder kleine Gegenstände aufheben und sortieren.
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Techniken, die in der Ergotherapie Neurologie Übungen verwendet werden, sind vielfältig und individuell auf die Bedürfnisse der Patienten abgestimmt. Sie umfassen sowohl klassische Methoden als auch innovative Ansätze wie Spiegeltherapie, kognitives Training und sensomotorische Übungen. Neue Techniken wie virtuelle Realität und Robotik finden zunehmend Eingang in die Ergotherapie.
Physiotherapie bei speziellen Erkrankungen
Physiotherapeutische Übungen können eine wertvolle Unterstützung bei der Behandlung vieler Krankheiten sein. Sie können Schmerzen lindern, die Beweglichkeit verbessern und den Heilungsprozess beschleunigen.
- Rückenschmerzen: Es gibt eine Vielzahl von Übungen, die Schmerzen lindern, die Rückenmuskulatur kräftigen und die Beweglichkeit verbessern können.
- Gelenkschmerzen: Wie bei Rückenschmerzen gibt es eine Vielzahl von Übungen, die Schmerzen lindern und die Beweglichkeit verbessern können.
- Atemwegserkrankungen: Atemwegserkrankungen wie Asthma oder COPD können den Alltag stark beeinträchtigen. Physiotherapeutische Übungen können hier wertvolle Unterstützung leisten. Wichtig ist, dass diese Übungen nur unter Anleitung eines erfahrenen Physiotherapeuten durchgeführt werden.
- Neurologische Erkrankungen: Neurologische Erkrankungen wie Multiple Sklerose oder Schlaganfall können zu Einschränkungen der Beweglichkeit und Koordination führen. Physiotherapeutische Übungen können dazu beitragen, diese Einschränkungen zu verbessern und den Alltag zu erleichtern.
- Muskeldystrophie: Auch wenn Muskeldystrophie bisher als unheilbar gilt, so kann eine gezielte Physiotherapie dazu verhelfen, die Funktionalität und Mobilität der Muskeln deutlich zu verbessern und die noch funktionierenden Muskeln möglichst zu erhalten. Werden die Muskeln regelmäßig und mit bestimmten Übungen in Bewegung gebracht, so werden die Kraft und Flexibilität trainiert und der Krankheitsprozess wird verlangsamt oder im besten Fall stagniert.
Ansätze der neurologischen Physiotherapie
Die Physiotherapie ist konkret auf Ihre individuellen Bedürfnisse und die zu bewältigenden Herausforderungen Ihres Alltags zugeschnitten. Zu Beginn der Therapie wird gemeinsam mit Ihnen ein Plan erstellt, der die, in Ihrem Fall, wirksamsten Ansätze beinhaltet. Grundsätzlich gibt es folgende Ansätze in der neurologischen Physiotherapie:
- Bewegungsübungen und Mobilisation: Bei den Bewegungsübungen und Mobilisation werden gezielte Übungen und Techniken eingesetzt, um Ihre Kraft, Ausdauer, Koordination und Beweglichkeit zu verbessern. Dies kann den Einsatz von physikalischen Hilfsmitteln wie Therapiebällen, Balancegeräten oder Gehhilfen beinhalten.
- Ganganalyse und Gangschulung: Insbesondere bei neurologischen Erkrankungen, welche die Bewegungskontrolle und das Gleichgewicht beeinflussen, wird besonderes Augenmerk auf das Gehen gelegt. Durch Gangschulungen und gezielte Übungen werden Gangmuster verbessert und eine möglichst normale und sichere Gangfunktion angestrebt.
- Neuromuskuläre Stimulation: Im Rahmen der neuromuskulären Stimulation werden elektrische Impulse genutzt, um gezielt Muskeln zu stimulieren und deren Funktion zu verbessern. Dieser Ansatz der neurologischen Physiotherapie kann beispielsweise bei Lähmungserscheinungen oder Muskelverkürzungen eingesetzt werden.
- Sensibilitätstraining: Bei neurologischen Erkrankungen können auch Ihre Sensibilität und Wahrnehmung beeinträchtigt sein.
- Neurologische Krankengymnastik (KG ZNS): Die Neurologische Krankengymnastik für das Zentrale Nervensystem (ZNS) ist eine spezielle Form der Gymnastik, die speziell für Menschen mit neurologischen Erkrankungen entwickelt wurde. Durch die Krankengymnastik wird das ZNS stimuliert und es können sich neue Nervenverbindungen bilden.
- KG ZNS nach PNF: Die KG ZNS nach PNF ist eine spezielle Form der Neurologischen Krankengymnastik, bei der die Verbesserung der Propriozeption im Vordergrund steht. Die PNF-Technik nutzt die natürlichen Bewegungsmuster des Körpers, um die Muskulatur gezielt anzusprechen und zu trainieren. Dadurch können neue Nervenverbindungen entstehen, die zu einer verbesserten Motorik und Wahrnehmung führen.
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