Polyneuropathie unklarer Genese: Ursachen, Diagnose und Therapie

Die Polyneuropathie, eine Erkrankung des peripheren Nervensystems, betrifft viele Menschen. Die Prävalenz liegt bei 2-3 % in der Allgemeinbevölkerung, steigt aber bei den über 55-Jährigen auf bis zu 8 %. Obwohl Diabetes mellitus und alkoholtoxische Polyneuropathie die häufigsten Ursachen sind, bleibt die Genese bei etwa 22 % der Fälle unklar. Dieser Artikel beleuchtet die Ursachen, Symptome, Diagnose und Therapie der Polyneuropathie unklarer Genese.

Einführung in die Polyneuropathie

Das periphere Nervensystem (PNS) umfasst alle Nerven außerhalb des Gehirns und Rückenmarks, die für die Übertragung von Informationen zwischen dem zentralen Nervensystem (ZNS) und dem Rest des Körpers verantwortlich sind. Die Nerven des PNS sind funktionell mit dem zentralen Nervensystem verbunden und leiten Impulse aus dem Gehirn und Rückenmark an die zu versorgenden Organe und Gewebe weiter und sorgen damit für eine physiologische Reaktion an den Zielorganen. Bei einer Polyneuropathie sind diese Nerven geschädigt, was zu einer Vielzahl von Symptomen führen kann.

Die Polyneuropathie gehört zu den häufigsten neurologischen Krankheiten. Trotz aller diagnostischen Fortschritte bleibt die Ursache in vielen Fällen unklar ("idiopathische Neuropathie"). Ärzte können dann nur die Symptome behandeln.

Ursachen der Polyneuropathie

Polyneuropathien können vielfältige Ursachen haben. Neben Diabetes mellitus und Alkoholmissbrauch können auch genetische Faktoren, Vitaminmangel oder -überdosierung, Toxine, immunologische Vorgänge und Medikamente eine Rolle spielen.

Die häufigsten Ursachen sind:

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  • Diabetes mellitus: Eine der Hauptursachen für Polyneuropathie, bei der hohe Blutzuckerwerte die Nerven schädigen.
  • Alkoholmissbrauch: Chronischer Alkoholkonsum kann zu einer alkoholtoxischen Polyneuropathie führen.
  • Genetische Ursachen: Erbliche Formen der Polyneuropathie sind seltener, aber dennoch relevant.
  • Vitaminmangel oder -überdosierung: Insbesondere ein Mangel an Vitamin B12 kann Nervenschäden verursachen.
  • Toxine: Bestimmte Umweltgifte und Chemikalien können Polyneuropathien auslösen.
  • Immunologische Vorgänge: Autoimmunerkrankungen wie die chronisch-inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP) können das Nervensystem angreifen.
  • Medikamente: Einige Medikamente, insbesondere Chemotherapeutika, können als Nebenwirkung eine Polyneuropathie verursachen.

In etwa 20 % der Fälle bleibt die Ursache unklar, was als idiopathische Polyneuropathie bezeichnet wird.

Symptome der Polyneuropathie

Die Symptome einer Polyneuropathie sind vielfältig und hängen davon ab, welche Nerven betroffen sind. Betroffene klagen oft über sensorische Negativ- bzw. Positivzeichen. Erstere sind z. B. Taubheitsgefühle, unsicheres Laufen auf unebenem Untergrund und das Gefühl, wie auf Watte zu gehen. Unter sensorische Positivzeichen fallen Parästhesien wie Kribbeln oder Ameisenlaufen. Oft treten neuropathische Beschwerden in Ruhe, vor allem abends oder nachts deutlicher auf. Geben die Patienten eine motorische Schwäche an, sollte klinisch auf Muskelatrophien, Lähmungen, Reflexabschwächung bzw. -ausfall geachtet werden.

Typische Symptome sind:

  • Sensorische Symptome: Taubheitsgefühle, Kribbeln, Brennen, stechende Schmerzen, Gefühl des Eingeschnürtseins, Schwellungsgefühle, unsicheres Laufen, Gefühl wie auf Watte zu gehen.
  • Motorische Symptome: Muskelschwäche, Muskelzucken, Muskelkrämpfe, Muskelschwund, Lähmungen.
  • Autonome Symptome: Herzrhythmusstörungen, Völlegefühl, Appetitlosigkeit, Aufstoßen, Blähungen, Durchfall, Verstopfung, Inkontinenz, Impotenz, Störung der Schweißregulation, Kreislaufprobleme.

Die Symptome beginnen meist an den Füßen und Händen und breiten sich dann langsam in Richtung Körpermitte aus.

Diagnostik der Polyneuropathie

Die Diagnose einer Polyneuropathie erfordert eine sorgfältige Anamnese, klinische Untersuchung und apparative Diagnostik.

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Anamnese und klinische Untersuchung

Im ersten Schritt erhebt der Arzt eine ausführliche Anamnese, um Informationen über die Krankheitsgeschichte, Symptome, Vorerkrankungen, Medikamenteneinnahme und Risikofaktoren zu sammeln. Anschließend erfolgt eine neurologische Untersuchung, bei der Muskelkraft, Sensibilität, Reflexe und Koordination geprüft werden.

Apparative Diagnostik

Zur Bestätigung der Diagnose und zur Identifizierung der Ursache werden verschiedene apparative Untersuchungen eingesetzt:

  • Nervenleitgeschwindigkeitsmessung (Elektroneurographie, ENG): Mit Stromimpulsen werden periphere Nerven stimuliert und die Antworten von Muskeln oder sensiblen Fasern abgeleitet. Dies ermöglicht die Feststellung der Art der Nervenschädigung.
  • Elektromyographie (EMG): Muskeln werden mit Nadeln untersucht, um das Ausmaß der Schädigung festzustellen.
  • Quantitative Sensorische Testung (QST): Durch verschiedene Gefühlstests an der Haut werden 13 Werte ermittelt, um zu erkennen, welche Nervenfasern genau geschädigt sind und wie stark die Schädigung fortgeschritten ist.
  • Thermode: Computergesteuerte Temperaturreize messen das Temperaturempfinden exakt.
  • Nervenbiopsie: Eine Gewebeprobe aus dem Schienbein wird entnommen und feingeweblich untersucht, um festzustellen, ob der Schaden an der Hüllsubstanz des Nerven (Myelin) oder am Nerven selbst entstanden ist.
  • Hautbiopsie: Bei Verdacht auf Small-Fiber-Neuropathie wird eine Gewebeprobe aus der Haut unter dem Mikroskop untersucht.
  • Laboruntersuchungen: Blut- und Urinuntersuchungen werden durchgeführt, um Stoffwechselstörungen, Entzündungen, Infektionen, Vitaminmangel oder andere Ursachen zu identifizieren.
  • Liquoruntersuchung: Bei Verdacht auf entzündliche oder autoimmune Ursachen wird das Nervenwasser (Liquor) untersucht.

Differenzialdiagnose

Es ist wichtig, andere Erkrankungen auszuschließen, die ähnliche Symptome verursachen können. Dazu gehören beispielsweise Bandscheibenvorfälle,Multiple Sklerose und andere neurologische Erkrankungen.

Therapie der Polyneuropathie

Die Behandlung der Polyneuropathie richtet sich nach der zugrunde liegenden Ursache. Wird diese erkannt und frühzeitig behandelt, können sich die Symptome häufig deutlich bessern. Bei idiopathischen Polyneuropathien, bei denen keine Ursache gefunden wird, konzentriert sich die Therapie auf die Linderung der Beschwerden und die Erhaltung der Lebensqualität. Ziel ist es, Schmerzen zu reduzieren, Beweglichkeit und Kraft zu fördern und den Alltag bestmöglich zu unterstützen.

Behandlung der Grunderkrankung

Die wichtigste Maßnahme ist die Behandlung der Grunderkrankung, falls eine solche identifiziert wurde. Dazu gehören beispielsweise:

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  • Diabetes mellitus: Optimierung der Blutzuckereinstellung.
  • Alkoholmissbrauch: Abstinenz.
  • Vitaminmangel: Substitution des fehlenden Vitamins.
  • Autoimmunerkrankungen: Immunsuppressive Therapie.
  • Infektionen: Behandlung der Infektion.

Symptomatische Therapie

Zusätzlich zur Behandlung der Grunderkrankung können verschiedene Maßnahmen eingesetzt werden, um die Symptome zu lindern:

  • Schmerztherapie: Bei neuropathischen Schmerzen werden spezielle Schmerzmittel eingesetzt, die auf die Nerven wirken. Dazu gehören Antidepressiva (z. B. Amitriptylin, Duloxetin) und Antikonvulsiva (z. B. Gabapentin, Pregabalin). Auch Capsaicin-Pflaster können zur lokalen Schmerzlinderung eingesetzt werden.
  • Physiotherapie: Krankengymnastik und physikalische Therapie können helfen, die Muskelkraft zu stärken, die Beweglichkeit zu verbessern und die Koordination zu schulen.
  • Ergotherapie: Ergotherapie kann helfen, den Alltag trotz Einschränkungen besser zu bewältigen.
  • Hilfsmittel: Je nach Bedarf können Hilfsmittel wie Gehhilfen, orthopädische Schuhe oder spezielle Einlagen eingesetzt werden.
  • Neurotrope Nährstoffe: Für eine ganzheitliche Therapie können Patienten unterstützend neurotrope Nährstoffe ausprobieren. Zu den gängigen Produkten zählt beispielsweise die Kombination aus Uridinmonophosphat, Vitamin B12 und Folsäure. Da Uridinmonophosphat die Proteinbiosynthese fördert, kann es zu einer besseren Versor­gung der geschädigten Neuronen beitragen. Darüber hinaus begünstigt es den schnellen Wiederaufbau wichtiger Membranbestandteile. Die enthaltene Folsäure ist vor allem für die Zellteilung, Zellneubildung und Vervielfältigung des Erbguts wichtig.
  • Elektrotherapie: Die Nerven werden durch Impulse aus einem speziellen Gerät so stimuliert, dass Erkrankte statt Schmerzen ein leichtes Kribbeln spüren. Von außen lässt sich dieses durch ein TENS-Gerät erreichen. Die Therapien müssen dauerhaft durchgeführt werden. Eine Pause beeinträchtigt schnell den Behandlungserfolg.
  • Gleichgewichtstraining: Gegen die fortschreitende Gangunsicherheit wirkt Gleichgewichtstraining in der Physiotherapie.
  • Akupunktur: Wie die gezielten Reize der Akupunktur die Nerven beleben, ist noch ungeklärt.

Immunmodulatorische Therapie

Bei autoimmunvermittelten Polyneuropathien wie der CIDP können immunmodulatorische Therapien eingesetzt werden, um die Entzündung zu reduzieren und die Nervenfunktion zu verbessern. Dazu gehören:

  • Intravenöse Immunglobuline (IVIG): IVIG sind Antikörper, die das Immunsystem modulieren und die Entzündung reduzieren können.
  • Glukokortikosteroide (Kortikoide): Kortikoide sind entzündungshemmende Medikamente, die bei CIDP eingesetzt werden können.
  • Plasmaaustausch (Plasmapherese): Bei der Plasmapherese werden schädliche Antikörper aus dem Blut entfernt.
  • Immunsuppressiva: Bei Versagen der oben genannten Therapien können Immunsuppressiva wie Azathioprin, Methotrexat, Mycophenolat Mofetil oder Ciclosporin A eingesetzt werden.
  • Therapeutische Antikörper: In einigen Fällen können therapeutische Antikörper wie Rituximab eingesetzt werden.

Rehabilitation

In vielen Fällen ist die Polyneuropathie eine langwierige Erkrankung, die vielfältige Auswirkungen auf den Beruf und das Privatleben der Betroffenen hat. In einer stationären oder ambulanten Reha können sich Patient*innen ganz auf ihre Behandlung konzentrieren. Ziele der Rehabilitation bei Polyneuropathie sind:

  • Wiederherstellung gestörter Nervenfunktionen.
  • Erlernen von Strategien zur Bewältigung des Alltags im Rahmen der körperlichen Fähigkeiten.
  • Anpassung und sichere Nutzung von Hilfsmitteln wie Gehhilfen oder Rollstühlen.
  • Heilung chronischer Wunden und Regeneration strapazierter Haut.

Sonderformen der Polyneuropathie

Neben den häufigsten Formen der Polyneuropathie gibt es auch einige Sonderformen, die besondere Merkmale aufweisen:

  • Guillain-Barré-Syndrom (GBS): Eine akute, entzündliche Polyneuropathie, die oft nach einer Infektion auftritt und zu rasch fortschreitenden Lähmungen führen kann.
  • Chronisch-inflammatorische demyelinisierende Polyneuropathie (CIDP): Eine chronische, entzündliche Polyneuropathie, die zu langsam fortschreitenden oder schubförmigen Lähmungen und Sensibilitätsstörungen führt.
  • Multifokale motorische Neuropathie (MMN): Eine seltene, erworbene Erkrankung, die asymmetrisch ohne sensible Störungen auftritt.
  • Vaskulitische Neuropathien: Neuropathien, die durch entzündliche Veränderungen der Blutgefäße verursacht werden.
  • Small-Fiber-Neuropathie: Eine Untergruppe der Neuropathien, bei denen insbesondere die dünnen, kleinen Nervenfasern der Haut betroffen sind.

Prognose und Verlauf

Der Verlauf der Polyneuropathie ist je nach Ursache und Schweregrad unterschiedlich. Akute Formen können sich oft innerhalb weniger Wochen bessern oder vollständig ausheilen. Chronische Formen erfordern meist eine langfristige Behandlung. Erbliche Polyneuropathien können bislang nicht geheilt werden, aber die Beschwerden können gelindert und das Fortschreiten der Neuropathie verlangsamt werden.

Leben mit Polyneuropathie

Eine Polyneuropathie kann den Alltag der Betroffenen erheblich beeinträchtigen. Es ist wichtig, sich über die Erkrankung zu informieren, sich professionelle Hilfe zu suchen und Strategien zu entwickeln, um mit den Symptomen umzugehen. Dazu gehören beispielsweise:

  • Regelmäßige Bewegung und Physiotherapie.
  • Ausgewogene Ernährung.
  • Vermeidung von Risikofaktoren wie Alkohol und Rauchen.
  • Regelmäßige Fußpflege und Kontrolle auf Druckstellen oder Verletzungen.
  • Anpassung des Wohnumfelds, um Stürze zu vermeiden.
  • Psychologische Unterstützung, um mit den psychischen Belastungen der Erkrankung umzugehen.

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