Einführung
Psychogene Lähmung, im ICD-10-Katalog unter F44.4 als dissoziative Bewegungsstörung klassifiziert, ist ein komplexes Phänomen, das durch den teilweisen oder vollständigen Verlust der willkürlichen Bewegungsfähigkeit gekennzeichnet ist. Dieser Artikel beleuchtet die verschiedenen Aspekte dieser Störung, von ihrer Einordnung im ICD-10 über mögliche Ursachen und Symptome bis hin zu Therapieansätzen und Prognose.
ICD-10 Klassifikation und Definition
Die psychogene Lähmung fällt unter die dissoziativen Störungen (Konversionsstörungen) (F44.-) im ICD-10. Diese Kategorie umfasst Störungen, bei denen es zu einem teilweisen oder vollständigen Verlust der normalen Integration von Erinnerungen an die Vergangenheit, des Identitätsbewusstseins, der Wahrnehmung unmittelbarer Empfindungen sowie der Kontrolle von Körperbewegungen kommt.
Innerhalb der dissoziativen Störungen wird die psychogene Lähmung genauer als dissoziative Bewegungsstörung (F44.4) klassifiziert. Hierbei ähneln die Symptome verschiedenen neurologischen Erkrankungen wie Ataxie, Apraxie, Akinesie oder Lähmungen. Es handelt sich um Störungen der körperlichen Funktionen, die normalerweise willentlich kontrolliert werden.
Abgrenzung zu anderen Störungen
Es ist wichtig, die psychogene Lähmung von anderen Erkrankungen abzugrenzen, die ähnliche Symptome verursachen können. Dazu gehören:
- Neurologische Erkrankungen: Erkrankungen des Nervensystems, die zu Lähmungen führen können (z.B. Multiple Sklerose, Schlaganfall).
- Somatoforme Störungen (F45.-): Hierbei werden körperliche Symptome erlebt, die nicht vollständig durch organische Befunde erklärt werden können. Im Unterschied zu dissoziativen Störungen liegt hier jedoch keine Störung der willentlichen Kontrolle von Körperbewegungen vor.
- Simulation (Z76.8): Hierbei werden Symptome bewusst vorgetäuscht.
- Organische psychische Störungen (F00-F09): Psychische Störungen, die durch eine Hirnerkrankung, Hirnverletzung oder andere Schädigung des Gehirns verursacht werden.
Ursachen und Entstehung
Die Ursachen der psychogenen Lähmung sind komplex und multifaktoriell. Es gibt kein einzelnes Erklärungsmodell, das alle Fälle vollständig abdeckt. Häufig werden psychodynamische und lerntheoretische Ansätze herangezogen.
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Mögliche Faktoren, die zur Entstehung einer psychogenen Lähmung beitragen können:
- Traumatische Erlebnisse: Belastende Ereignisse in der Vergangenheit können eine Rolle spielen.
- Unlösbare Konflikte: Innere oder zwischenmenschliche Konflikte, die nicht bewältigt werden können.
- Gestörte Beziehungen: Schwierigkeiten in Beziehungen zu anderen Menschen.
- Lernerfahrungen: Beobachtung von Krankheitsverhalten in der Familie oder im sozialen Umfeld.
- Krankheitsgewinn: Die Symptome können unbewusst dazu dienen, Aufmerksamkeit oder Entlastung zu erhalten (primärer Krankheitsgewinn) oder materielle Vorteile zu erlangen (sekundärer Krankheitsgewinn).
- Familiäre Faktoren: Enge Mutterbindung, überprotektive Eltern oder ein überangepasstes Kindverhalten.
- Schulischer Druck und Konflikte: Konflikte mit der Familie oder mit Gleichaltrigen sowie schulischer Druck.
- Körperliche Faktoren: Infekterkrankungen und körperliche Traumata wie Verletzungen oder Sportunfälle können eine körperliche Grundlage für die Entstehung der Symptome bieten.
- Iatrogene Faktoren: Diagnostische und therapeutische Eingriffe können bei der Fixierung und Entstehung der Symptome einflussreich sein.
Es wird vermutet, dass ein Zusammenspiel dieser Faktoren zur Entstehung der psychogenen Lähmung führt.
Symptome
Die Symptome der psychogenen Lähmung können vielfältig sein und ähneln oft neurologischen Erkrankungen. Die häufigsten Symptome sind:
- Schwäche oder Lähmung: Vollständiger oder teilweiser Verlust der Bewegungsfähigkeit eines oder mehrerer Körperglieder.
- Gangstörungen: Humpeln, Stolpern, Hinken.
- Bewegungseinschränkung: Schwierigkeiten bei der Ausführung von Bewegungen.
- Koordinationsstörungen: Ataxie, Schwierigkeiten beim Stehen oder Gehen (Astasie, Abasie).
- Zittern oder Schütteln: Unwillkürliche Bewegungen der Extremitäten.
- Sensibilitätsstörungen: Verlust oder Veränderung der Empfindungen wie Berührung, Schmerz oder Temperatur.
- Krampfanfälle: Anfälle, die epileptischen Anfällen ähneln können, aber keine neurologische Ursache haben.
- Sprachstörungen: Aphonie (Verlust der Stimme) oder Dysphonie (Stimmstörung).
- Sehstörungen: Gesichtsfeldeinschränkung (Tunnelsehen) oder Verlust der Sehschärfe.
Ein wichtiges Merkmal der psychogenen Lähmung ist, dass die Symptome oft nicht mit den erwarteten Mustern neurologischer Erkrankungen übereinstimmen. Die Grenzen anästhetischer Hautareale entsprechen oft eher den Vorstellungen des Patienten über Körperfunktionen als medizinischen Tatsachen. Es kann auch unterschiedliche Ausfälle der sensorischen Modalitäten geben, die nicht Folge einer neurologischen Läsion sein können. Sensorische Ausfälle können von Klagen über Parästhesien begleitet sein.
Zudem ist oft ein geringer Leidensdruck im Kontrast zur Schwere der Symptomatik zu beobachten ("la belle indifférence"). Die Patienten nehmen die Hilfe zur Bewältigung der Funktionseinschränkungen oft an und die Symptomatik kann in Abhängigkeit von belastenden oder entlastenden Umgebungseinflüssen oder durch Beobachtung stark fluktuieren.
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Diagnose
Die Diagnose der psychogenen Lähmung ist oft eine Herausforderung, da die Symptome denen neurologischer Erkrankungen ähneln können. Eine sorgfältige Anamnese, körperliche Untersuchung und gegebenenfalls neurologische Diagnostik sind erforderlich, um organische Ursachen auszuschließen.
Die Diagnose basiert auf folgenden Kriterien:
- Vorliegen von Symptomen: Schwäche, Lähmung, Gangstörungen, Sensibilitätsstörungen oder andere neurologische Symptome.
- Ausschluss organischer Ursachen: Keine Hinweise auf eine neurologische Erkrankung durch körperliche Untersuchung, neurologische Tests und Bildgebung (z.B. MRT, CT).
- Psychische Faktoren: Hinweise auf psychische Belastungen, Konflikte oder traumatische Erfahrungen, die mit dem Beginn oder der Aufrechterhaltung der Symptome in Zusammenhang stehen könnten.
- Inkonsistente Symptomatik: Die Symptome entsprechen nicht den erwarteten Mustern neurologischer Erkrankungen.
- Geringer Leidensdruck: "La belle indifférence".
Es ist wichtig zu betonen, dass die Diagnose der psychogenen Lähmung eine Ausschlussdiagnose ist. Das bedeutet, dass organische Ursachen für die Symptome ausgeschlossen werden müssen, bevor die Diagnose einer psychogenen Lähmung gestellt werden kann.
Therapie
Die Behandlung der psychogenen Lähmung ist multimodal und umfasst in der Regel psychotherapeutische und physiotherapeutische Ansätze.
Psychotherapie
Die Psychotherapie zielt darauf ab, die zugrunde liegenden psychischen Konflikte und Belastungen zu identifizieren und zu bearbeiten. Dabei können verschiedene Therapieformen eingesetzt werden:
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- Verhaltenstherapie: Fokus auf die Veränderung von maladaptiven Verhaltensmustern und Denkmustern.
- Psychodynamische Therapie: Exploration unbewusster Konflikte und deren Auswirkung auf das Verhalten.
- Traumatherapie: Bearbeitung traumatischer Erfahrungen, die zur Entstehung der Symptome beigetragen haben könnten.
- Familientherapie: Einbeziehung der Familie in die Behandlung, um dysfunktionale Beziehungsmuster zu erkennen und zu verändern.
Physiotherapie
Die Physiotherapie zielt darauf ab, die körperliche Funktion wiederherzustellen und die Symptome zu lindern. Dabei können verschiedene Techniken eingesetzt werden:
- Krankengymnastik: Übungen zur Verbesserung der Kraft, Koordination und Beweglichkeit.
- Ergotherapie: Training von Alltagsaktivitäten, um die Selbstständigkeit zu fördern.
- Entspannungstechniken: Methoden zur Reduktion von Stress und Anspannung.
Weitere Behandlungsansätze
- Medikamentöse Behandlung: In einigen Fällen können Medikamente eingesetzt werden, um begleitende Symptome wie Angst oder Depression zu behandeln.
- Stationäre Behandlung: Bei schweren Fällen kann eine stationäre Behandlung erforderlich sein, um eine intensive psychotherapeutische und physiotherapeutische Betreuung zu gewährleisten.
Behandlung im Kindes- und Jugendalter
Bei Kindern und Jugendlichen mit psychogener Lähmung ist es besonders wichtig, die Eltern in die Behandlung einzubeziehen. Zudem spielen Lernerfahrungen und Identifikationsmodelle eine wichtige Rolle. Die Behandlung erfolgt meist stationär durch verhaltenstherapeutisch orientierte Psychotherapie und individuelle Physiotherapie. Dabei steht zunächst die Annahme der Symptome als Erkrankung und die primäre Beseitigung der Symptomatik im Vordergrund. Im Verlauf der Behandlung wird auch konflikt- und problemorientierte Psychotherapie sowie Gruppentherapie eingesetzt. Daneben ist die stationäre Situation und der Umgang mit Gleichaltrigen wichtig.
Prognose
Die Prognose der psychogenen Lähmung ist variabel und hängt von verschiedenen Faktoren ab, wie z.B. der Schwere der Symptome, der Dauer der Erkrankung, dem Vorliegen begleitender psychischer Störungen und der Compliance des Patienten zur Behandlung.
Im Allgemeinen gilt:
- Günstige Prognose: Bei frühzeitiger Diagnose und Behandlung, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen.
- Ungünstige Prognose: Bei chronischem Verlauf, Vorliegen schwerer psychischer Störungen oder mangelnder Compliance zur Behandlung.
Studien zeigen, dass bei multimodaler Therapie Remissionsraten von 85 bis 95 Prozent erreicht werden können. Die Behandlungsdauer erstreckt sich bei etwa der Hälfte der Patienten über weniger als einen Monat, nur jeder sechste Betroffene muss über drei Monate therapiert werden.
Es ist wichtig zu beachten, dass die psychogene Lähmung eine hohe Rezidivrate aufweisen kann. Das bedeutet, dass die Symptome nach erfolgreicher Behandlung wieder auftreten können. Eine langfristige psychotherapeutische Betreuung kann helfen, Rückfälle zu vermeiden.
Psychogene Lähmung im Kindes- und Jugendalter
Die psychogene Lähmung äußert sich bei Kinder und Jugendlichen durch Gangstörungen wie Humpeln, Stolpern und Hinken, durch Bewegungseinschränkung, Hüftschmerzen und Lähmungen. Bei kinder- und jugendpsychiatrischen Patienten beträgt die psychogene Lähmung zwischen ein und zwei Prozent. Die pädiatrischen Patientenkollektive zeigen Häufigkeiten dieser Symptomatik zwischen 0,3 und 0,4 Prozent. Betroffen sind vor allem Kinder im Alter zwischen elf und dreizehn Jahren. Bei Symptombeginn sind die Erkrankten durchschnittlich 10,5 Jahre alt. Mädchen sind etwas häufiger betroffen als Jungen. Die psychogene Lähmung wird meist stationär durch verhaltenstherapeutisch orientierte Psychotherapie und individuelle Physiotherapie behandelt. Dabei steht zunächst die Annahme der Symptome als Erkrankung und die primäre Beseitigung der Symptomatik im Vordergrund. Bedeutsam ist, dass die Betroffenen aus ihrer Umgebung herausgenommen werden. Im Verlauf der Behandlung wird auch konflikt- und problemorientierte Psychotherapie sowie Gruppentherapie eingesetzt. Daneben ist die stationäre Situation und der Umgang mit Gleichaltrigen wichtig. Die Eltern der Patienten sollten in die Behandlung einbezogen werden. Bei multimodaler Therapie zeigt die Lähmung einen günstigen Verlauf und hat eine gute Prognose. Die Remissionsraten liegen bei 85 bis 95 Prozent. Die Behandlungsdauer erstreckt sich bei etwa der Hälfte der Patienten über weniger als einen Monat. Nur jeder sechste Betroffene muss über drei Monate therapiert werden.
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