Vor 30 Jahren veröffentlichte Samuel P. Huntington seinen Aufsatz "The Clash of Civilizations?", der später zu einem weltweiten Bestseller wurde. Huntingtons These vom "Kampf der Kulturen" sorgte für viel Ärger und Widerspruch. Dieser Artikel untersucht die Kritik an Huntingtons Werk und beleuchtet die verschiedenen Aspekte der Debatte.
Wer war Samuel P. Huntington?
Samuel P. Huntington wurde 1927 in New York geboren und lehrte fast 60 Jahre an der Harvard University. Er beschäftigte sich vor allem mit Militär- und Außenpolitik im globalen Rahmen. Als Professor der Politikwissenschaften an der Eliteuniversität war er seit 1978 Direktor mehrerer Institute für internationale Beziehungen und strategische Studien. Huntington wurde im Kreis der Friedens- und Konfliktforscher dem Lager der "Realisten" zugeordnet, die als Grundlage der Durchsetzungskraft eines Staates die maximale Entfaltung wirtschaftlicher und militärischer Potenz ansehen. Einem breiten Publikum wurde Huntington 1996 durch "The Clash of Civilizations" bekannt.
Huntingtons Thesen im Überblick
Huntington provozierte die Fachwelt in seinem Aufsatz mit mehreren Hypothesen. Er schrieb, dass die wesentlichen Quellen für Konflikte nicht länger ideologischer oder wirtschaftlicher Natur seien, sondern kulturelle Differenzen zwischen Nationen oder Gruppen verschiedener Zivilisationen. Die "Frontlinien der Zukunft" verlaufen nach Huntington dort, wo zwei Zivilisationen aufeinanderprallen. Huntington unterschied acht Zivilisationen oder "Kulturkreise" auf der Welt, darunter den westlichen, den orthodoxen, den islamischen, den hinduistischen und den sinischen (chinesischen) Kulturkreis. Manche Kulturkreise seien aufsteigend, andere absteigend - ein Konzept, das Anklänge an Oswald Spenglers "Untergang des Abendlandes" verrät.
Kritik an Huntingtons Konzept
Viele Wissenschaftler haben Huntington vorgeworfen, dass er seine Kulturkreise in ungeschichtlicher, konservativer Weise festschreibt. Über die Zuordnungen vieler Länder oder Landesteile (etwa der Ukraine) zu dieser oder jener "Zivilisation" lässt sich streiten. Auch seine Vorstellungen von Feindschaft und Unverständnis zwischen den Zivilisationen wurden häufig infrage gestellt.
Ein weiterer Kritikpunkt ist Huntingtons Definition von Kultur. Er definiert Kultur in einem umfassenden Sinn als "die gesamte Lebensweise eines Volkes", meint damit aber vor allem "Werte, Normen, Institutionen und Denkweisen", insbesondere Religion. Kulturen sind definiert durch ihre geistig-weltanschauliche Dimension, während die technisch-naturwissenschaftliche Entwicklung als Prozess der Modernisierung bezeichnet wird. Nur der Modernisierungsprozess ist ein weltweiter, singulärer Prozess: Es gibt nur eine Naturwissenschaft und Technik. Die Kulturen dagegen definieren sich über verschiedene Weltbilder - nur sie sind identitätsbildend.
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Der "Kampf der Kulturen" als Übersetzungsproblem
In der deutschen Fassung wurde aus "The Clash of Civilizations" ein "Kampf der Kulturen" - eine zweifelhafte, wenn nicht gar falsche Übersetzung, wie auch Bassam Tibi, ein früherer Wegbegleiter Huntingtons, zu Recht anmerkt. Huntington spricht in seinem Buch von einem "Clash" - also einem "Zusammenprall" - sieben bis acht großer Zivilisationen. Weltpolitische Konflikte, prophezeit er, werden sich in Zukunft vor allem entlang kultureller Grenzlinien bewegen.
Der Begriff "Kampf" im deutschen Buchtitel habe leider dazu beigetragen, dass Huntington in Deutschland als "kalter Krieger" wahrgenommen worden sei, erläutert Tibi.
Huntington und die Globalisierung
Mit manchen Globalisierungstheorien teilt die Formel vom „Kampf der Kulturen“ die Auffassung, dass die Bedeutung der Nationalstaaten im Schwinden begriffen ist. Huntington hat zwar unstrittig erkannt, dass in einer Zeit der Globalisierung Menschen verstärkt ihre Identität im Rückbezug auf Religion, Herkunft, Sprache und Traditionen suchen und sichern wollen. Aber die Weise, wie er Identitätsbildung bestimmt, ist problematisch. Huntington schreibt: "Wir wissen, wer wir sind, wenn wir wissen, wer wir nicht sind." Aber stimmt das denn? Braucht man tatsächlich die scharfe Abgrenzung vom Anderen, um die eigene Identität, um sich selber zu finden?
Huntington nach dem 11. September
Viele Menschen glaubten, dass mit dem Ende des Kalten Krieges ein neues, goldenes Zeitalter des globalen Friedens anbrechen würde. Doch die Vision der „einen Welt“ wurde schnell als Illusion entlarvt. Die Attentate des 11. September schienen Huntingtons Theorie zu bestätigen. Die These vom "Kampf der Kulturen" wurde zum Schlagwort. Doch je populärer eine Theorie wird, desto ärmer wird sie, desto verkürzter gerät ihr Inhalt. Bald assoziierte man bei Huntingtons Zivilisationstheorie nur noch den Gegensatz zwischen dem Westen und dem Islam.
Allerdings hat Huntington die Konfliktlinien falsch gezogen. Osama bin Laden spielte sich zwar immer als Rächer aller Muslime auf, aber er hat die Muslime von Marokko bis Indonesien nie zu einer Einheit, noch weniger zu einer geostrategischen Macht geformt. Die jüngsten Kriege in Afghanistan und im Irak waren keine Kulturkriege. Der erste war Vergeltung für den 11. September, der zweite entsprang der Inkompetenz und Paranoia der Regierung von George W. Bush.
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Huntingtons Vermächtnis
Huntington sei kein Prophet gewesen, sagt sein deutscher Kollege Bassam Tibi, der ihn seit 1982 kannte und ebenfalls in Harvard lehrte. Die ungeheure Wirkung seiner Thesen und den gewaltigen Erfolg des Buches habe Huntington nicht erwartet, so Tibi: Er habe lediglich geglaubt, die Analyse einer post-bipolaren Welt nach 1990 vorzulegen.
Huntington sei sehr klug, wenn er sagt, dass das, was der Westen als universelle Werte ausgibt, für andere in der Welt oftmals nichts anderes sei als westlicher Imperialismus. Huntington sei mit dem "Clash"-Buch kein Wissenschaftsautor gewesen, urteilt der Essayist Florian Felix Weyh, sondern ein polternder Pamphletist der alten US-Machtpragmatiker-Schule. Samuel P. Huntington wurde von seinen Kritikern als "kalter Kultur-Krieger" missverstanden, meint Peter Sawicki.
Die Aktualität von Huntingtons Thesen
Zwanzig Jahre nach Erscheinen des „Clash of Civilizations“ haben wir deshalb eine Reihe führender Fachleute befragt, was aus heutiger Sicht von Huntingtons Thesen zu halten ist. Sind sie ein Schlüssel zum Verständnis bestehender und kommender Konflikte?
Die Teilnehmer der Tagung waren sich weitgehend einig, dass Huntingtons Paradigmenwechsel - weg vom Primat der Ideologie und Ökonomie hin zu Kultur und Religion - große Bedeutung hat. Seine konservative Festschreibung von Kulturkreisen teilte jedoch kaum jemand.
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