Schlaganfallrisiko bei Osteopathie und manueller Therapie: Eine kritische Betrachtung

Die manuelle Therapie, einschließlich der Osteopathie und Chiropraktik, erfreut sich großer Beliebtheit zur Behandlung von Nacken- und Kopfschmerzen. Ein gängiges Verfahren ist das sogenannte "Hals einrenken", bei dem Wirbel durch gezielte Handgriffe zurechtgerückt werden. Obwohl viele Patienten auf die vermeintliche Harmlosigkeit dieser Behandlung vertrauen, gibt es zunehmend Berichte und wissenschaftliche Erkenntnisse, die auf ein potenzielles Schlaganfallrisiko hinweisen.

Der Fall Vera Milaszewski: Wenn eine Lappalie zum Albtraum wird

Vera Milaszewski suchte aufgrund eines steifen Nackens, verursacht durch das Autofahren mit offenem Fenster, einen Chirotherapeuten auf. Während der Behandlung, bei der ihr Kopf nach links und rechts gedreht wurde, verspürte sie sofort Schwindel, Übelkeit und Sprachstörungen. Die Diagnose im Krankenhaus lautete: schwerer Schlaganfall. Durch das Einrenken waren ihre Halsschlagadern eingerissen. Für die damals 34-jährige Mutter von zwei Kindern bedeutete dies ein Leben im Rollstuhl und weitreichende Veränderungen in ihrem Familienleben.

Schlaganfall-Experten schlagen Alarm

Prof. Gerhard Hamann, Schlaganfall-Experte am Klinikum Großhadern in München, beobachtet mit Besorgnis, dass immer häufiger Patienten nach chirotherapeutischen Manipulationen am Hals behandelt werden müssen. Laut seinen Angaben erleiden jährlich etwa 50 bis 60 Patienten Schlaganfälle aufgrund von Gefäßeinrissen im Zusammenhang mit solchen Behandlungen. Besonders betroffen sind junge, zuvor gesunde Menschen.

Wie kommt es zum Schlaganfall?

Durch das Ziehen und Rucken beim Einrenken können vor allem die hinteren Halsschlagadern verletzt werden. Diese verlaufen durch Knochen und sind daher besonders empfindlich. Ein Riss in der Arterie kann zur Bildung eines Blutgerinnsels führen, das ins Gehirn wandert und dort eine Ader verstopft - die Folge ist ein Schlaganfall.

Weitere Betroffene: Alexandra Weber

Auch Alexandra Weber erlitt nach einer chirotherapeutischen Behandlung wegen Nackenverspannungen einen Schlaganfall. Sprachstörungen und Lähmungen traten unmittelbar nach dem Einrenken auf. Bis heute kämpft sie mühsam darum, wieder schreiben zu lernen, und die Aussicht, ihren Beruf als Lehrerin nicht mehr ausüben zu können, belastet sie sehr.

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Verharmlosung seitens der Berufsverbände?

Der Berufsverband der Chirotherapeuten scheint das Risiko eines Schlaganfalls durch Hals einrenken herunterzuspielen. Dr. Thomas Hartmann von der Deutschen Gesellschaft für Manuelle Medizin äußert die Ansicht, dass es durch die Manipulation an einer gesunden Halswirbelsäule und gesunden Arterien nicht zu einem Schlaganfall kommen könne. Diese Aussage steht jedoch im Widerspruch zu den Erkenntnissen von Schlaganfall-Experten und den Erfahrungen betroffener Patienten.

Studie der Berliner Charité bestätigt Risiko

Eine Untersuchung der Berliner Universitätsklinik Charité unter der Leitung von Eva Schielke ergab einen deutlichen Zusammenhang zwischen chirotherapeutischen Eingriffen und nachfolgenden Schlaganfällen. In 36 dokumentierten Fällen wurde ein solcher Zusammenhang festgestellt, was die Befürchtungen bestätigte, dass das Risiko größer ist als bisher angenommen.

Mangelnde Aufklärung der Patienten

Ein weiteres Problem ist die mangelnde Aufklärung der Patienten über das potenzielle Schlaganfallrisiko. Viele Therapeuten führen den gefährlichen Griff am Hals durch, ohne ihre Patienten ausreichend zu informieren. Auch Alexandra Weber wurde von ihrem Arzt nicht aufgeklärt und war völlig überrascht, als er unvermittelt Hand anlegte.

Stichproben in Praxen zeigen Defizite bei der Aufklärung

Ein Test in mehreren Praxen ergab, dass das Risiko eines Schlaganfalls bei der Aufklärung der Patienten oft nicht erwähnt wird. In einer Praxis wurde das Risiko zwar auf einem Formular erwähnt, das der Patient unterschreiben sollte, doch dieser gab an, kein solches Formular unterschrieben zu haben und nichts von einem Schlaganfallrisiko zu wissen. In einer anderen Praxis wich der Arzt der Frage nach Risiken aus und behauptete sogar, dass bei jüngeren Patienten "eigentlich nichts passieren" könne.

Informationsblatt des Berufsverbandes ohne Hinweis auf Schlaganfallrisiko

Selbst das Informationsblatt des Berufsverbandes der Chirotherapeuten für Patienten enthält keinen Hinweis auf die Gefahr eines Schlaganfalls. Auf Nachfrage reagierte Dr. Thomas Hartmann überrascht und versprach, die Information zu überprüfen.

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Die Pflicht zur Aufklärung

Ärzte sind gesetzlich verpflichtet, Patienten über die Risiken von Eingriffen aufzuklären. Auch wenn nicht jeder Chiropraktiker unseriös ist und nicht jede Manipulation zu einem Schlaganfall führt, haben Patienten das Recht auf umfassende Informationen, um eine informierte Entscheidung treffen zu können.

Ursachen und Prävention von Schlaganfällen

Der Schlaganfall gehört zu den häufigsten Erkrankungen in Deutschland. Hauptursachen sind Blutgerinnsel, Gefäßverengungen oder -risse. Risikofaktoren sind Bluthochdruck, Nikotinkonsum, Übergewicht und unausgewogene Ernährung. Ein gesunder Lebensstil mit Nikotinabstinenz, Vermeidung von Übergewicht, ausgewogener Ernährung und regelmäßiger Bewegung kann das Schlaganfallrisiko deutlich verringern.

Expertenmeinungen und Studienlage zur HWS-Manipulation

In einem Blogbeitrag wurde eine Expertenmeinung zum Schlaganfallrisiko nach Manipulationstechniken an der Halswirbelsäule vorgestellt. Demnach besteht nach Ausschluss wichtiger Kontraindikationen nur bei vorgeschädigten Gefäßen ein tatsächliches Risiko für einen Schlaganfall nach Manipulation. Vor einer HVLA-Technik (High Velocity Low Amplitude) werden die darüber- und darunterliegenden Wirbelsäulenabschnitte verriegelt, sodass nur ein sehr leichter Impuls mit geringer Amplitude ausreicht, um gezielt eine Blockade zu lösen.

Ein systematisches Review von Michael J. Haynes und Kollegen analysierte fünf klinische Studien zum Thema Schlaganfall und Manipulation. Aufgrund von Schwächen im Studiendesign konnte keine verlässliche Aussage über eine starke oder fehlende Assoziation zwischen HWS-Manipulation und zervikaler Arteriendissektion getroffen werden. Die Autoren empfehlen eine Aufklärung der Patienten über das seltene Risiko von Schlaganfällen durch Manipulationen an der Halswirbelsäule, das jedoch auch bei anderen Bewegungen des Nackens auftreten könnte. Eine präzise Risiko-Nutzen-Analyse für die HWS-Manipulation fehlt weiterhin. Dennoch bewerten die Wissenschaftler das Risiko einer Arteriendissektion als gering, sofern alle bekannten Risikofaktoren und Kontraindikationen vor der Behandlung beachtet werden. Die Rotation in der Halswirbelsäule setzt die Vertebralarterien stärker unter Stress als andere Bewegungen, weshalb die Vermeidung endgradiger Rotation des Kopfes das Risiko verringern kann. Eine vorangegangene Dopplersonografie der Vertebralarterien wäre hilfreich, ist jedoch in der Praxis nicht standardmäßig durchführbar.

Osteopathie als alternative Behandlungsmethode

Die Osteopathie ist ein ganzheitlicher Ansatz, der den Körper als Einheit betrachtet und Funktionsstörungen im Zusammenspiel von Muskeln, Knochen, Organen und Nerven behandelt. Osteopathen ertasten das Gewebe, spüren Spannungsmuster auf und suchen nach den Ursachen von Beschwerden.

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Die Osteopathie umfasst vier große Behandlungsfelder:

  • Parietale Osteopathie: Behandlung des Bewegungsapparates (Knochen, Gelenke, Bänder, Muskeln) bei Verspannungen und Überlastungen.
  • Viszerale Osteopathie: Konzentration auf Funktionsstörungen der inneren Organe.
  • Cranio-sakrale Osteopathie: Verbesserung des Flusses von Blut und Gehirnflüssigkeit im Gehirn durch sanften Händedruck auf die Schädeldecke.
  • Psychische Faktoren: Berücksichtigung von Depressionen, Einsamkeit und Trauer als Ursache für Schwindel im Alter.

Die Osteopathie kann eine sinnvolle Ergänzung zur Physio- oder Ergotherapie sein. Die Patienten erhalten in der Regel kaum zusätzliche Übungen für zu Hause. Je nach Symptomatik werden osteopathische Therapien in Abständen von 4-6 Wochen empfohlen.

Wissenschaftliche Bewertung osteopathischer Verfahren

Die Bundesärztekammer hat 2009 eine wissenschaftliche Bewertung osteopathischer Verfahren veröffentlicht. Darin wird festgestellt, dass Begrifflichkeiten wie „Osteopathie“ und „osteopathische Medizin“ keine klare, weltweit akzeptierte Definition besitzen. Dennoch haben verschiedene osteopathische Verfahren Eingang in die Medizin gefunden und können als Bestandteil und Erweiterung der Manuellen Medizin betrachtet werden. Die Notwendigkeit einer ärztlichen Differenzialdiagnostik wird betont.

Osteopathie bei Schwindel

Eine osteopathische Behandlung kann bei Schwindel helfen, wenn ein mechanischer Hintergrund als Ursache vermutet wird, z.B. ein HWS-Syndrom oder Verhärtungen der Muskeln am Hinterkopf. Auch das Kiefergelenk kann eine Rolle spielen. Im Rahmen der körperlichen Untersuchung werden die möglichen Ursachen begutachtet. In der Anamnese werden Fragen zum Schwindel selbst, den Lebensgewohnheiten, Grunderkrankungen und der Medikation gestellt.

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