Jedes Jahr erleiden in Deutschland etwa 270.000 Menschen einen Schlaganfall. Die Akutbehandlung dieser Patienten stellt das Behandlungsteam vor große Herausforderungen und erfordert eine ständige Anpassung an neue Behandlungsmethoden und Forschungserkenntnisse. In der Frühphase nach einem Schlaganfall können Komplikationen auftreten, zu denen auch das Post-Stroke-Delir (PSD) gehört.
Das Post-Stroke-Delir: Eine akute Hirnfunktionsstörung
Das Post-Stroke-Delir ist eine akut auftretende, sich verändernde Hirnfunktionsstörung, die durch Aufmerksamkeits-, Wahrnehmungs- und Bewusstseinsstörungen, kognitive Beeinträchtigungen sowie Schlafstörungen gekennzeichnet ist. Der Begriff leitet sich aus dem lateinischen "de lira ire" (aus der Spur geraten) ab. Die Symptome des Delirs sind veränderlich und können über wenige Minuten bis zu Tagen auftreten, wobei es meist nachts zu einer Symptomverstärkung kommt. Betroffene sind desorientiert, wissen nicht, wo und wer sie sind. Das Denken und die Sprache sind gestört, und die alltägliche Routine überfordert sie, was zu Verwirrtheit führt. Auch Halluzinationen, Wahnvorstellungen und motorische Unruhe können auftreten, wobei in vielen Fällen eher Apathie beobachtet wird. Laut Definition können die Hirnfunktionsstörungen nicht vollständig durch den Schlaganfall selbst erklärt werden.
Eine Studie zeigte, dass Patienten mit Delir nach einem Schlaganfall eine fast fünffach höhere Sterblichkeit (Mortalität) aufweisen als nicht delirante Patienten und häufiger überdauernde Komplikationen wie kognitive Funktionsstörungen haben. Ein Delir ist verknüpft mit einem schlechteren Behandlungsergebnis (Outcome) und einem längeren Krankenhausaufenthalt. Es kann sowohl mit Unruhe und Wahnvorstellungen ("Hypermotorisches Delir") als auch mit Apathie ("Hypomotorisches Delir") einhergehen. Während das hypermotorische Delir aufgrund der psychomotorischen Unruhe meist erkannt wird, bleibt das hypomotorische Delir häufig unerkannt, da "typische" Symptome wie Unruhe hier fehlen. Dies betrifft vor allem ältere Patienten über 65 Jahre.
Das Alkoholentzugsdelir (Delirium tremens) ist hiervon abzugrenzen. Es ist die Folge von chronischem Alkoholismus und tritt einige Stunden nach dem letzten Alkoholkonsum im Rahmen einer Entzugssymptomatik auf. Die Symptome sind Bewusstseinsstörungen, kognitive Defizite und Rastlosigkeit sowie Unruhe. Aber auch Symptome wie Schwitzen, ein schneller Herzschlag und Zittern, die beim Post-Stroke-Delir nicht auftreten, kommen beim Alkoholentzug vor. Die Therapie unterscheidet sich jedoch von anderen Delirformen.
Besonders bei älteren Patienten wird die Verwirrtheit und Orientierungslosigkeit fälschlicherweise oft als Ausdruck einer Demenz verstanden und kann folglich nicht adäquat behandelt werden. Sowohl eine Demenz als auch ein Delir betreffen die Kognition (allgemeinsprachlich das Denken). Bei einem Delir ist hauptsächlich die Aufmerksamkeit gestört, es tritt plötzlich (akut) auf und nach einigen Monaten kommt es meist zur Wiederherstellung der kognitiven Funktionen. Eine Demenz betrifft eher das Gedächtnis, hat einen schleichenden Beginn und ist meist irreversibel. Die Demenz gilt jedoch als wichtiger Risikofaktor für die Entstehung eines Delirs im Krankenhaus.
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Risikofaktoren und Auslöser für ein Delir
Delirien sind relevante Komplikationen nach einem akuten Schlaganfall, deren Auftreten durch mehrere Faktoren begünstigt wird. Häufiger tritt ein Delir bei älteren Patienten im Laufe eines stationären Aufenthalts auf, doch auch bei jüngeren Patienten kann zum Beispiel durch Drogengebrauch oder -entzug ein Delir auftreten. Die häufigsten Risikofaktoren und Auslöser sind Arzneimittel, Dehydratation (Wassermangel im Körper) und Infektionen. Auch starke Schmerzen, emotionaler Stress und Demenz bzw. kognitive Einschränkungen können eine Rolle spielen. Wesentlich ist auch die verstörende und oft hektische Umgebung der Patienten auf einer Intensiv- oder Überwachungsstation.
Dehydratation als Risikofaktor
Dehydratation, also ein Mangel an Flüssigkeit im Körper, ist ein bedeutender beeinflussbarer Risikofaktor für die Entstehung eines Delirs. Unser Körper besteht zu etwa 70 Prozent aus Wasser, und ein ausgeglichener Flüssigkeitshaushalt ist essentiell für zahlreiche Körperfunktionen, einschließlich der Hirnfunktion. Ein Flüssigkeitsmangel kann die kognitive Leistungsfähigkeit beeinträchtigen und das Risiko für ein Delir erhöhen.
Ursachen und Symptome der Dehydratation
Eine Dehydratation entsteht, wenn über einen längeren Zeitraum mehr Flüssigkeit abgegeben als zugeführt wird. Ein beginnender Flüssigkeitsmangel äußert sich häufig in Durst, Kopfschmerzen, Konzentrationsschwäche und Hauttrockenheit. Ist der Flüssigkeitsmangel bereits fortgeschritten, kann es zur Austrocknung (Exsikkose) kommen. Wenn die Dehydratation eine kritische Schwelle überschreitet, kann es zu einem lebensbedrohlichen Volumenmangelschock kommen.
Bei älteren Menschen ist das Durstgefühl oft vermindert, was das Risiko einer Dehydratation erhöht. Auch Schluckbeschwerden oder Harninkontinenz können dazu führen, dass bewusst weniger getrunken wird. Weitere Risikofaktoren sind entwässernde Medikamente (Diuretika), Fieber oder anhaltender Durchfall.
Auswirkungen der Dehydratation auf den Körper
Bei einem Flüssigkeitsverlust versucht der Körper, diesen zu kompensieren. Das bedeutet unter anderem, dass er weniger Schweiß und Speichel produziert. Auch Verstopfung, dickflüssiges Blut und ein niedriger Blutdruck sind typische Folgen einer Dehydratation. Außerdem können Arzneimittel schlechter vom Körper abgebaut werden. Generell nimmt die geistige und körperliche Leistungsfähigkeit bei einer Exsikkose ab. Das kann schleichend oder plötzlich passieren. Ältere Menschen können durch diese Schwächung beispielsweise anfälliger für Stürze werden. Ein starker Flüssigkeitsverlust - ab etwa 5 Prozent des Körperwassers - kann zu schweren klinischen Symptomen (lebensbedrohlicher Schock/Kreislaufstörung) führen.
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Erkennung einer Dehydratation
Die Symptomatik einer Dehydratation kann individuell unterschiedlich ausfallen. Wenn sich der Zustand eines alten Menschen innerhalb kurzer Zeit verändert, kann das grundsätzlich auf eine Exsikkose hinweisen. Folgende Anzeichen können für eine Austrocknung sprechen:
- Durst
- Antriebslosigkeit, verminderte Bewegung und/oder Neigung zu Stürzen
- Lethargie, Verwirrtheit und zunehmende Unselbstständigkeit
- Unruhe und motorische Aktivität (Agitation)
- Schwindel und/oder Kopfschmerzen
- Verstopfung und geringe oder dunkle Urinausscheidung
- Trockener Mund und/oder Schluckstörungen
- Unerwünschte Nebenwirkungen von Medikamenten
- Fieber (Durstfieber)
- Muskelkrämpfe
Bei der körperlichen Untersuchung werden verschiedene klinische Zeichen der Exsikkose überprüft:
- Stehende Hautfalten durch reduzierte Hautspannung (Hautturgor)
- Eingefallene Halsvenen
- Zu schneller Herzschlag (Tachykardie)
- Trockene Mundschleimhaut, Zunge, Achselhöhlen
- Dunkler Urin
- Erhöhte Temperatur
- Veränderung des Bewusstseins
Eine Blutuntersuchung kann aussagekräftige Ergebnisse liefern. Dabei spielen verschiedene Messwerte eine Rolle, etwa Hämatokrit, pH-Wert, Natrium, Glukose und die Serum-Osmolalität. Zusätzlich können bestimmte Marker im Urin untersucht werden.
Dehydratation verschlechtert die Prognose des Apoplex
Eine Studie untersuchte 168 Patienten mit ischämischem Schlaganfall und stellte fest, dass fast jeder Zweite bei der Einlieferung dehydriert war. Bei 42 % dieser Patienten verschlechterte sich der klinische Apoplex-Zustand oder blieb auf gleichem Niveau. Bei nicht dehydrierten Patienten traf das nur für 17 % zu. Das Risiko für eine Verschlechterung lag bei Austrocknung etwa um das Vierfache höher.
Weitere Risikofaktoren
Neben der Dehydratation gibt es weitere beeinflussbare Risikofaktoren, die bei der Prävention eines Delirs berücksichtigt werden sollten:
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- Arzneimittel: Bestimmte Medikamente können ein Delir auslösen. Die Medikamentenliste sollte daher kritisch überprüft und nicht dringend benötigte Medikamente abgesetzt werden. Dopaminerge Medikamente können nicht abrupt abgesetzt, jedoch reduziert oder eventuell durch ein vergleichbar wirksames Medikament ersetzt werden.
- Infektionen: Infektionen können ein Delir begünstigen und sollten daher frühzeitig behandelt werden.
- Harnverhalt: Ein Harnverhalt kann ebenfalls ein Delir auslösen.
- Mangelernährung: Eine Mangelernährung kann die Entstehung eines Delirs fördern.
- Schlafstörungen: Ein gestörter Schlaf-Wach-Rhythmus kann ein Delir begünstigen.
- Schmerzen: Unzureichend behandelte Schmerzen können ein Delir fördern.
- Immobilität: Ein Krankenhausaufenthalt geht oft mit einer reduzierten Mobilität einher, was das Auftreten eines Delirs begünstigen kann.
Prävention und Therapie des Post-Stroke-Delirs
Die Delir-Prävention besteht aus dem frühzeitigen Erkennen der beeinflussbaren Risikofaktoren und dem Einleiten der notwendigen Maßnahmen. Zu den nicht beeinflussbaren Risikofaktoren zählen ein höheres Alter (> 65 Jahre), Demenz, Verletzungen wie Oberschenkelfrakturen und andere schwere Erkrankungen. Beeinflussbare Risikofaktoren hingegen sind Angriffspunkte für therapeutisches Eingreifen.
Nicht-medikamentöse Maßnahmen
Maßnahmen wie Lärmreduktion, nächtliche Lichtreduktion, adäquate Schmerztherapie, Frühmobilisation, Schlafförderung sowie eine konstante und ruhige Umgebung können die Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines Delirs deutlich senken.
- Orientierungshilfen: Das Aufstellen von Uhren, Führen eines Kalenders, in dem Termine notiert werden können, und Markieren von Räumen wie dem Badezimmer und Aufenthaltsräumen können die Orientierung erleichtern. Hilfsmittel wie Brillen und Hörgeräte fördern die Wahrnehmung und Orientierung der Patienten.
- Schlaf-Wach-Rhythmus: Ermöglicht werden soll ein möglichst dem normalen Leben angepasster Schlaf-/Wach-Rhythmus. Im Krankenhaus und gerade auf Intensivstationen wird die Nachtruhe häufig durch ärztliche und pflegerische Untersuchungen, besonders in den frühen Morgenstunden, häufig gestört.
- Ernährung und Flüssigkeitshaushalt: Die Kontrolle der Ernährung und des Elektrolyt- und Flüssigkeitshaushalts sind sehr wichtig zur Delir-Prävention.
- Frühmobilisation: Eine reduzierte Mobilität begünstigt das Auftreten eines Delirs. Daher sollte eine Frühmobilisation angestrebt werden.
- Schmerztherapie: Eine wirksame Schmerzbehandlung ist wichtig, da Schmerzen für den Körper eine Belastung darstellen und die Entstehung eines Delirs fördern können.
- Nicht-pharmakologische Maßnahmen: Wahrung des Tag-Nacht-Rhythmus und Hilfe bei der Orientierung der Patienten. Außerdem müssen alle Delir-Auslöser identifiziert und eliminiert werden.
Medikamentöse Therapie
Eine medikamentöse Delirprophylaxe kann derzeit nicht empfohlen werden. Medikamente können Agitiertheit, Aggressivität, und psychotische Symptome reduzieren. Zur Behandlung der Symptome eines hypoaktiven Delirs sind keine Medikamente bekannt. Jedoch sollte prinzipiell eine medikamentöse Therapie erst dann erfolgen, wenn konventionelle Mittel nicht mehr ausreichen. Die pharmakologische Substanz Haloperidol ist ein Dopaminrezeptorblocker und sorgt für ein Gleichgewicht zwischen den Neurotransmittern Acetylcholin und Dopamin. Es unterdrückt Wahnvorstellungen und Halluzinationen und verkürzt die Delir-Dauer, hat aber relevante Nebenwirkungen auf das Herz und kann neurologische Störungen auslösen. Bei gleichzeitig bestehendem Morbus Parkinson darf es nicht verwendet werden.
Pharmakologische Maßnahmen hingegen können eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr, die Gabe von Neuroleptika bei Unruhe und produktiv psychotischen Symptomen wie Halluzinationen und Wahn sowie Schlafmittel und angstlösende Medikamente sein.
Screening und Diagnostik
Die Kenntnis der zahlreichen Risikofaktoren sowie das Anwenden von gezielten Suchmethoden (Screening) tragen erheblich dazu bei, ein Delir frühzeitig zu erkennen und zu verhindern. Nicht selten werden allerdings in den Krankenhäusern Delirien nicht erkannt oder fehlgedeutet, da die diagnostischen Mittel nicht konsequent und einheitlich angewendet werden. Das behandelnde Team sollte sich auf ein Screening-Verfahren einigen und geschult werden, um es regelmäßig bei allen Risikopatienten anzuwenden. Ein Verfahren zum Erkennen von Risikopatienten eines Delirs ist der CAM-ICU-Test. Der CAM-ICU Test steht für “Confusion Assessment Method for the Intensive Care Unit” und ist der zuverlässigste Test. Er wurde konzipiert, um vor allem vom Pflegepersonal auf den Intensivstationen angewandt zu werden. Es konnte gezeigt werden, dass bei 123 Patienten, die hinsichtlich eines möglichen Delirs untersucht wurden, durch die klinische Einschätzung allein bei 19 Prozent ein Delir diagnostiziert wurde. Wenn Merkmal 1: akuter Beginn oder schwankender Verlauf, Merkmal 2: Aufmerksamkeitsstörung und Merkmal 3: Bewusstseinsveränderung oder Merkmal 4: unorganisiertes Denken positiv sind, dann liegt ein Delir vor. Diese Symptome werden anhand einheitlicher Fragebögen erhoben. Ein vergleichbarer Test ist die Intensive Care Delirium Screening Checklist (ICDSC), die ebenfalls auf Intensivstationen durchgeführt wird. Die Tests sollten mehrmals am Tag durchgeführt werden und erfordern nur wenige Minuten. Sie sind frei zugänglich und auf Deutsch verfügbar.
Bei allen Schlaganfall-Patienten soll ein regelmäßiges gezieltes Screening auf delirante Symptome durchgeführt werden (z.B. CAM-ICU).
Rolle der Angehörigen
Neben dem behandelnden Team auf der Intensivstation können auch Angehörige oder Betreuungspersonen zur Diagnostik und vor allem zur Prävention des Delirs beitragen. Durch den engen Kontakt zum Patienten können bevorzugt Angehörige schnell erkennen, wenn Wesens- und Verhaltensänderungen auftreten und Therapeuten wichtige Hinweise liefern. Sie spielen daher eine wichtige Rolle sowohl bei der Diagnosestellung als auch bei der Behandlung des Delirs. Hierfür wurde ein spezielles diagnostisches Mittel für Angehörige entwickelt: Die Family Confusion Assessment Method (FAM-CAM). Diese beinhaltet elf Fragen, die von einer Ärztin oder einem Arzt, einem Familienmitglied oder einer Bezugsperson des Patienten gestellt werden. Dabei werden Veränderungen in Bezug auf das Denken, die Konzentration, Aufmerksamkeit und Orientierung und eine zunehmende Schläfrigkeit und besonders auffällige Verhaltensweisen erfasst. Angehörige sind zudem im Behandlungsprozess sehr wichtig, weshalb sie frühzeitig auch auf der Intensivstation mit einbezogen werden sollten. Vertraute Stimmen mit beruhigenden und erklärenden Worten sind äußerst wichtig. Hierfür richten Intensivstationen flexiblere Besuchszeiten ein. Zu beachten ist auch die psychische Belastung der Angehörigen. Die schnelle und unerwartete Wesensveränderung des Patienten kann sehr schmerzhaft sein und Angehörige verunsichern und überfordern. Plötzlich erkennt der geliebte Mensch vertraute Personen nicht mehr oder verhält sich merkwürdig. Auch in diesem Zusammenhang ist die möglichst frühzeitige Diagnosestellung wichtig, um den Angehörigen Sicherheit zu vermitteln und zum Ausdruck zu bringen, dass es sich meist um eine vorübergehende und in vielen Fällen vollständig rückbildungsfähige Problematik handelt.
Klimawandel und Schlaganfallrisiko
Es gibt Hinweise darauf, dass der Klimawandel und insbesondere heiße Nächte das Schlaganfallrisiko erhöhen können. Eine Studie aus der Region Augsburg zeigte, dass der kontinuierliche Temperaturanstieg deutlich mit der Entwicklung der Schlaganfallzahlen korreliert. Als Gründe für das höhere Schlaganfallrisiko bei hohen Nachttemperaturen werden die nächtliche Dehydrierung der Patientinnen und Patienten und die Unterbrechung der normalen Schlafphysiologie und der zirkadianen Thermoregulation angeführt. Besonders gefährdet sind Frauen und Menschen über 65 Jahren.
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