Vorhofflimmern ist die häufigste Herzrhythmusstörung im Erwachsenenalter und betrifft schätzungsweise 1,6 Millionen Menschen in Deutschland. Diese Zahl könnte sich bis 2050 verdoppeln. Fast jeder fünfte Schlaganfall in Deutschland ist auf Vorhofflimmern zurückzuführen. Die Hemmung der Blutgerinnung mit oralen Antikoagulanzien ist das Mittel der Wahl, um Schlaganfälle durch Vorhofflimmern medikamentös zu verhindern.
Die Bedeutung der Antikoagulation bei Vorhofflimmern
Vorhofflimmern erhöht das Risiko für ischämische Schlaganfälle um das Vier- bis Fünffache. Bei dieser Herzrhythmusstörung flimmert das Herz so schnell, dass es zu einem Stillstand der Blutzirkulation kommt. Dadurch können sich Blutgerinnsel im linken Herzvorhof bilden, die über den Blutstrom in Hirnarterien gelangen und diese verstopfen können, was zu einem ischämischen Schlaganfall führt.
Eine orale Antikoagulation kann bei Patienten mit Vorhofflimmern ischämische Schlaganfälle verhindern und ist prognostisch relevant. Die Leitliniengerechte Therapie zur Reduktion des Schlaganfallrisikos bei Vorhofflimmern umfasst die orale Antikoagulation. Die Antikoagulation senkt das Schlaganfallrisiko erheblich, birgt jedoch ein erhöhtes Blutungsrisiko, insbesondere für intrakranielle Blutungen.
VKA versus NOAK: Kontroverse in der Antikoagulationstherapie
Kontrovers diskutiert wird die Art der oralen Antikoagulation: Sollen die Patienten zur Schlaganfallprävention auf Vitamin-K-Antagonisten (VKA) oder die neuen direkten Inhibitoren von Gerinnungsfaktoren (NOAK) eingestellt werden? In der Versorgungsrealität bestünden vermutlich sowohl Über-, Unter- als auch Fehlversorgungen mit oralen Antikoagulanzien, erklärte Gothe.
Als besonders problematisch sehen viele Ärzte an, dass es unterschiedliche Leitlinien und Empfehlungen bezüglich der Hemmung der Blutgerinnung mit oralen Antikoagulanzien bei Patienten mit Vorhofflimmern gibt. Während die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie in Anlehnung an die European Society of Cardiology (ESC) einen primären Einsatz der - deutlich teureren - neuen direkten Inhibitoren von Gerinnungsfaktoren empfehlen, sprechen sich die Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) sowie Deutsche Gesellschaft für Allgemeinmedizin und Familienmedizin (Degam) in ihren Empfehlungen für die orale Antikoagulation mit VKA aus.
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Aus ihrer Sicht besteht für Patienten in Deutschland, die zur Prophylaxe von Schlaganfällen bei Vorhofflimmern mit VKA wie Phenprocoumon gut zu behandeln sind, kein Vorteil aus einer Therapie mit NOAK. Diese sollen nach Ansicht der AkdÄ nur eingesetzt werden, wenn eine Indikation zur Antikoagulation besteht, aber VKA keine Therapieoption sind, also beispielsweise bei spezifischen Kontraindikationen gegen VKA, einem erhöhten Risiko für VKA-spezifische Arzneimittelinteraktionen, stark schwankenden INR-Werten (International Normalized Ratio) trotz regelmäßiger Einnahme von VKA oder wenn eine regelmäßige Kontrolle des INR-Wertes schwierig ist.
Die Sicht der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ)
Die VKA sind nach Ansicht der AkdÄ Standard in der Antikoagulations-Therapie bei nicht-valvulärem Vorhofflimmern. Die Wirksamkeit von VKA ist gut belegt und mit ihrer Anwendung besteht jahrzehntelange Erfahrung. Der antikoagulatorische Effekt von VKA kann kurzfristig durch die Gabe von Prothrombinkomplex-Präparaten korrigiert werden. Als spezifischer Antagonist steht außerdem Vitamin K mit etwas verzögerter Wirkung zur Verfügung. Bei den NOAK ist ein Antidot bisher nur gegen den direkten Thrombinhemmer Dabigatran zugelassen. Außerdem stehen Labortests zur Überprüfung der Gerinnungshemmung bei den NOAK für Routinekontrollen nach wie vor nicht zur Verfügung. Für Patienten, die mit VKA gut zu behandeln sind, ergibt sich deswegen für die AkdÄ kein Vorteil für eine Therapie mit einem NOAK.
Die Rolle der NOAK in der Praxis
„Für die vier in Deutschland zugelassenen NOAK (Rivaroxaban, Edoaban, Dabigatran, Apixaban) wurde in randomisierten und prospektiven Studien die Wirksamkeit und die Sicherheit bei mehr als 72 000 Patienten mit Vorhofflimmern nachgewiesen“, erläuterte Prof. Dr. med. Harald Darius vom Vivantes Klinikum Neukölln, Berlin. Auch die Entwicklung von Antidots sei weit fortgeschritten. Im Hinblick auf die Rate an intrakraniellen Blutungskomplikationen seien sie sogar sicherer als das weltweite Standardpräparat Warfarin.
In der hausärztlichen Praxis seien NOAK praktikabler, meinte Sandow. Die bei den VKA erforderlichen INR-Kontrollen belasteten den Praxisablauf bei hausärztlichen Kollegen und auch viele der Patienten sehr. Günstig sei bei den NOAK, dass kein Monitoring der gerinnungshemmenden Wirkung in der klinischen Routine notwendig sei. Ob und welches NOAK man wähle, sollte nach ihrer Ansicht gemeinsam mit dem Patienten anhand von Begleiterkrankungen und -medikation entschieden werden.
Daten der Krankenkasse DAK Gesundheit zeigen, dass vor allem Kardiologen und Angiologen NOAK verordnen. Mehr als 80 Prozent der von ihnen verordneten Tagesdosen oraler Antikoagulanzien bei VHF-Patienten seien NOAKs. Bei Allgemeinmedizinern und Internisten seien es rund 60 Prozent.
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Aktuelle Leitlinien und Empfehlungen
Die europäischen Leitlinien zum Management bei Vorhofflimmern aus dem Jahr 2016 umfassen insgesamt 154, mehrheitlich evidenzbasierte Empfehlungen. Wichtige Neuerungen betreffen die integrierte Betreuung der Patienten durch eine multidisziplinäres „VHF-Herzteam“. Betont wird auch die Bedeutung der frühen Diagnose und das verlängerte Monitoring bei Risikogruppen.
Die aktuellen Empfehlungen der europäischen kardiologischen Gesellschaft geben auf insgesamt 65 Seiten 154 Empfehlungen, von denen zwei Drittel den Evidenzgrad „a“ oder „b“ aufweisen. 24 Empfehlungen erhielten die höchste Evidenzstufe „a“.
Die ESC-Leitlinie 2024: Das AF-CARE-Konzept
Die neuen europäischen Vorhofflimmer-Leitlinien, die von der Europäischen Gesellschaft für Kardiologie auf ihrer Jahrestagung im September 2024 veröffentlicht wurden, sollen eine zeitgemäße und evidenzbasierte Diagnostik und Behandlung von Vorhofflimmern sicherstellen. Die zentrale Neuerung der Leitlinie ist das sog. AF-CARE-Konzept, das mit nahezu 100 Nennungen die Leitlinie als Credo wie eine neue Maxime durchzieht und dessen Anwendung im Alltag auf Basis der Leitlinien Task Force eine Klasse-IC-Empfehlung erhalten hat.
AF-CARE betont die zentralen Behandlungsaspekte:
- Diagnose und Therapie von Komorbiditäten und Risikofaktoren (C)
- Vermeidung von Thromboembolien (A)
- Frequenz- und Rhythmuskontrolle (R)
- Evaluation und kontinuierliche Nachsorgen (E)
Die Abfolge der einzelnen Punkte unterstreicht die nach Ansicht der Autoren zentrale Bedeutung des Managements von Komorbiditäten und Risikofaktoren in der Versorgung von Patienten mit Vorhofflimmern.
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Screening auf Vorhofflimmern
Einig ist man sich indes: Vorhofflimmern ist die häufigste kardiale Arrhythmie, deren Inzidenz steigt. Zudem ist es mit einer erhöhten Mortalität durch progrediente Herzinsuffizienz, mit plötzlichem Herztod und den Folgen eines Schlaganfalls assoziiert. Es wird daher Patienten ab dem 65. Lebensjahr ein Screening auf Vorhofflimmern empfohlen, um bisher undiagnostiziertes Vorhofflimmern zu entdecken.
Die ESC-Leitlinien empfehlen mit einer Klasse-IB-Indikation das regelmäßige Pulstasten und ggf. EKG für alle Patienten über 65 Jahre. Untersuchungen konnten zeigen, dass in 4,4 Prozent der Fälle, allein durch die Palpation des Pulses Flimmerepisoden nachgewiesen werden können. Bei Patienten mit TIA oder Schlaganfall soll ebenfalls nach Vorhofflimmern gesucht werden, zunächst mittels herkömmlichem EKG, gefolgt von einem Langzeit-EKG über mindestens 72 Stunden.
Risikobewertung und Antikoagulationsentscheidung
Das individuelle thrombembolische Risiko kann mit dem CHA2DS2-VASc-Score abgeschätzt werden. Die ESC-Leitlinie empfiehlt eine Antikoagulation primär mit direkten oralen Antikoagulanzien (DOAC) bei Patienten mit Vorhofflimmern und Risikofaktoren für das Auftreten eines thromboembolischen Ereignisses. Neu ist hier die Verwendung des CHA2DS2-VA-Scores als Modifikation zum bisher verwendeten CHA2DS2-VASc-Score, so dass das Geschlecht nicht mehr in den Score eingeht und die Empfehlungen geschlechtsunabhängig vereinheitlicht werden. Ein CHA2DS2-VA-Score von mehr als einem Punkt stellt demnach jetzt geschlechtsunabhängig eine Klasse-I-Empfehlung für eine orale Antikoagulation (OAK) dar.
Zur Bestimmung des Blutungsrisikos wurde bislang der HAS-BLED-Score herangezogen. Dieser ist nun etwas in den Hintergrund getreten, zugunsten einer Auflistung von modifizierbaren, potentiell modifizierbaren und nicht modifizierbaren Risikofaktoren.
Der Entscheidungsbaum für oder gegen eine orale Antikoagulation ist in den neuen Leitlinien vereinfacht worden. Auf der obersten Ebene wird abgefragt, ob der Patient mit einer mechanischen Herzklappe versorgt ist oder bei ihm eine moderate bis hochgradige Mitralklappenstenose besteht. Ist dies der Fall, besteht eine IB-Empfehlung, den Patienten auf einen Vitamin-K-Antagonisten einzustellen. Für alle anderen Patienten erfolgt die weitere Therapieentscheidung in Abhängigkeit vom CHA2DS2-VASc-Score.
Antikoagulation nach Schlaganfall
Vorhofflimmern erhöht das Risiko für Schlaganfälle um den Faktor vier bis fünf. Nach einem ersten Hirninfarkt kommt es sehr oft zu einem Folgeereignis. Der richtige Zeitpunkt für den Einsatz von Antikoagulanzien nach einem Hirninfarkt ist unklar, da die Substanzen das Risiko für Einblutungen erhöhen. Nutzen und Risiko sind also gut abzuwägen.
Die ELAN-Studie („Early versus Late initiation of direct oral Anticoagulants in post-ischemic stroke patients with atrial fibrillatioN”) verglich den frühen mit dem späten Beginn der Antikoagulation bei Menschen mit VHF und erlittenem Hirninfarkt. Der frühe Beginn war definiert als Gabe von Antikoagulanzien binnen 48 Stunden nach einem leichten oder moderaten Schlaganfall und binnen 6-7 Tagen nach einem schweren ausgedehnten Hirninfarkt. Das Studienergebnis ermutigt dazu, die Antikoagulation eher frühzeitig zu beginnen. Es gab keinerlei Hinweis auf ein erhöhtes Blutungsrisiko bei früherem Beginn. Allerdings ist Zurückhaltung bei der Interpretation der Studie angebracht. Eine Überlegenheit des frühen oralen Antikoagulation konnte nicht gezeigt werden, dies war aber auch nicht das Ziel der Studie.
Verschluss des linken Vorhofohres als Alternative
Das Vorhofohr, eine kleine Ausstülpung am linken Vorhof, ist bei Vorhofflimmern ein häufiges Areal für die Bildung von Blutgerinnseln, die Schlaganfälle auslösen können.
Für Patient:innen, bei denen Blutverdünner nicht infrage kommen, gibt es als Alternative den katheterbasierten Verschluss des Vorhofohrs mit einem Okkluder, der das Schlaganfallrisiko verringert.
Herausforderungen in der Versorgungsrealität
Die Auswertung umfangreicher, aktueller Real-Life-Daten zeigt, dass sich die Versorgung von Patienten mit nicht valvulärem Vorhofflimmern in den letzten Jahren insgesamt deutlich verbessert hat. Jedoch bestehen weiterhin große Defizite sowohl hinsichtlich der Diagnostik als auch bei der Therapie. Die Dunkelziffer für Vorhofflimmern ist weiterhin hoch. Neben einer unzureichenden oder ausbleibenden Basisdiagnostik zeigen sich in der Praxis Defizite beim Antikoagulations-Management: zahlreiche Patienten erhalten unbegründet niedrige NOAK-Dosierungen.
Das „Weißbuch der Schlaganfallprävention bei Vorhofflimmern“ kommt zu dem Ergebnis, das im Behandlungsalltag sowohl eine Unterversorgung als auch eine Fehlversorgung zu beobachten sind. So erhalten 13% bis 43% der VHF-Patienten in der kardiolo-gisch-internistischen Versorgung trotz Indikation für eine Schlaganfallprophylaxe keine orale Antikoagulation (OAK).
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