Seltene Gendefekte als Ursache für Epilepsie: Ein umfassender Überblick

Epilepsie ist eine neurologische Erkrankung, die durch wiederholte unprovozierte Anfälle gekennzeichnet ist. Obwohl Epilepsie insgesamt eine relativ häufige Erkrankung ist (Prävalenz von ca. 0,7 %), gibt es zahlreiche seltene Gendefekte, die als Ursache für bestimmte Formen von Epilepsie identifiziert wurden. Diese seltenen genetischen Ursachen können besonders bei frühkindlichen Epilepsieformen oder solchen, die mit Intelligenzminderung einhergehen, eine Rolle spielen. Am 28. Februar wird der Tag der Seltenen Erkrankungen begangen, ein Anlass, um auf diese oft übersehenen Ursachen von Epilepsie aufmerksam zu machen und die Forschung in diesem Bereich zu fördern.

Einleitung

Die Suche nach den Ursachen von Epilepsie ist oft komplex und vielschichtig. Während bei manchen Patienten strukturelle Veränderungen im Gehirn, Infektionen oder Stoffwechselstörungen als Auslöser identifiziert werden können, spielen bei anderen genetische Faktoren eine entscheidende Rolle. Insbesondere bei Kindern, bei denen die Epilepsie schon früh beginnt oder mit Entwicklungsstörungen einhergeht, liegt oft eine genetische Ursache zugrunde. Der folgende Artikel beleuchtet die verschiedenen Aspekte seltener Gendefekte als Ursache für Epilepsie, von den zugrundeliegenden Mechanismen bis hin zu aktuellen Forschungsansätzen und therapeutischen Optionen.

Genetische Grundlagen der Epilepsie

Die Rolle von Genen bei der Entstehung von Epilepsie

Die Medizin unterscheidet strukturelle, infektiöse, metabolische, genetische und immunologische Ursachen von Epilepsie. Genetisch bedingt haben manche Menschen eine stärkere Veranlagung zu epileptischen Anfällen. Die Forschung geht heute davon aus, dass bei diesen Patienten ein oder mehrere Gene defekt sind, die als Ursache der Epilepsie anzusehen sind. Häufig sind die betroffenen Gene nicht bekannt, und es müssen bestimmte Gen-Konstellationen vorliegen, damit es zu einer Epilepsie kommt. Daher sind diese Epilepsie-Ursachen meist nicht vererbbar, auch wenn sie neuerdings als genetische Epilepsien bezeichnet werden.

Seltene Gendefekte und ihre Auswirkungen auf das Gehirn

Es gibt zahlreiche seltene Gendefekte, die mit Epilepsie in Verbindung gebracht wurden. Diese Defekte können verschiedene Aspekte der neuronalen Funktion beeinträchtigen, wie z. B. die Erregbarkeit von Nervenzellen, die Signalübertragung zwischen Nervenzellen oder die Entwicklung des Gehirns. Einige Beispiele für seltene Gendefekte, die Epilepsie verursachen können, sind:

  • SCN1A-Mutationen: Mutationen im SCN1A-Gen sind die häufigste Ursache für das Dravet-Syndrom, eine schwere frühkindliche Epilepsieform. Dieses Gen kodiert für einen Natriumkanal, der für die Erregbarkeit von Nervenzellen wichtig ist.
  • KCNA2-Mutationen: Mutationen im KCNA2-Gen führen zu geschädigten Kaliumkanälen im Gehirn. Kaliumkanäle sind kleine Poren, die in der Zellmembran von Nervenzellen sitzen und für die Weiterleitung elektrischer Signale wichtig sind.
  • Mutationen im CHKA-Gen: Im ersten Fall wurden die Eltern sowie ein schwerkrankes Kind mit früh einsetzender Epilepsie, Entwicklungsstörungen und kleinem Kopfumfang sequenziert. Dabei fanden die Forschenden um Studienleiter Dr. Konrad Platzer zwei genetische Veränderungen im sogenannten CHKA-Gen.
  • Mutation im ATP2B1-Gen: Leipziger Human-Genetiker:innen um Studienleiter Dr. Henry Oppermann haben den zweiten Fall einer Entwicklungsstörung erfolgreich gelöst. Sie nahmen einen jungen Patienten in die Studie „Identifizierung und Charakterisierung von Genveränderungen bei seltenen Erkrankungen“ auf und konnten eine Mutation im ATP2B1-Gen als potentielle Ursache identifizieren.

Dravet-Syndrom: Ein Beispiel für eine genetisch bedingte Epilepsie

Das Dravet-Syndrom ist eine der häufigsten schweren frühkindlichen Formen der Epilepsie und mit einer oder einem Erkrankten auf 15.000 Personen in Deutschland glücklicherweise sehr selten. Die Erkrankung ist genetisch-bedingt und geht in den häufigsten Fällen auf eine Veränderung oder einen Verlust in einem Gen auf Chromosom 2 zurück. Dies führt zu einer gestörten Signalübertragung im Gehirn und in Folge zu epileptischen Anfällen und weiteren Begleitsymptomen. Beim Dravet-Syndrom entwickeln sich die Kinder nach der Geburt erst völlig normal, bis sie im Alter von 3 bis 9 Monaten den ersten epileptischen Anfall erleiden. Dieser tritt häufig in Verbindung mit Fieber auf. Später können die Anfälle auch durch Übermüdung, Gefühlsausbrüche oder Infektionen ausgelöst werden und lassen sich häufig nur schwer bis gar nicht mit Medikamenten behandeln. Nach Krankheitsbeginn verlangsamt sich in den meisten Fällen die Entwicklung. Es kommt zu einer Sprachverzögerung, aber auch Gangstörungen oder Verhaltensauffälligkeiten. Die Mehrzahl der Kinder leidet im weiteren Verlauf an einer geistigen Behinderung. In rund 80 Prozent der Fälle beruht die Erkrankung auf einer zufälligen Veränderung des Gens SCN1A. In Folge ist ein Natriumkanal im Gehirn nicht mehr gut durchlässig.

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SCN2A: Ein Gen im Fokus der Epilepsieforschung

SCN2A ist die Bezeichnung eines Gens, welches durch Mutationen (z.B. Auswechseln der DNA-Bausteine) eine seltene Erkrankung des Gehirns verursachen kann. Die Erkrankung kann zu unterschiedlichen Zeitpunkten (vor oder nach der Geburt oder auch später im Kindesalter) auftreten und die unterschiedlichsten Ausprägungen aufweisen. Die genetische Veränderung/Mutation ist von Geburt an vorhanden und liegt ein Leben lang vor. Oft löst die Genmutation, die häufig neu entstanden ist (de novo), aber auch vererbt worden sein kann, schwer verlaufende und schwierig zu therapierende Krampfanfälle (Epilepsien) aus. Auch sehr milde Epilepsien ohne Auswirkungen auf die geistige Entwicklung sowie andere neurologische Störungen wie Entwicklungsverzögerungen, Autismus und Bewegungsstörungen gehören zum Krankheitsbild. Sehr häufig werden bei Kindern mit SCN2A-Mutationen auch Schlafstörungen, Muskelspannungsveränderungen (Hypotonie, Dystonie, Spastiken etc.) und Magen-Darm-Störungen diagnostiziert. All diese Symptome sind Ausdruck einer Fehlfunktion der betroffenen Gehirnzellen, die man bei entsprechender Ausprägung zusammenfassend als Enzephalopathie bezeichnet.

SCN2A steht für Sodium Channel 2A. Übersetzt bedeutet das Natriumkanal des Typs 2 und hiervon die Alpha-Untereinheit, denn der Kanal setzt sich aus einer Alpha- und einer oder mehreren Beta-Untereinheiten zusammen, wobei die Alpha-Untereinheit deutlich größer ist. Das Gen SCN2A liefert den Bauplan zur Herstellung des Natriumkanalproteins NaV1.2. Diese Natriumkanäle sind vor allem in Nervenzellen im gesamten Gehirn zu finden. NaV1.2 trägt dazu bei, dass Natriumionen in die Nervenzellen fließen können. Dadurch können elektrische Signale (sogenannte Aktionspotenziale) entstehen und weitergeleitet werden. Diese elektrischen Signale ermöglichen es den Nervenzellen, untereinander zu kommunizieren. Alltägliche, aber komplexe Funktionen wie z.B. die Fähigkeit sich zu bewegen oder zu denken, können so ausgeführt werden.

Im Jahr 2002 wurde das Gen SCN2A erstmalig mit Epilepsien in Verbindung gebracht. Inzwischen ist bekannt, dass SCN2A für Epilepsien, geistige Behinderungen, Bewegungsstörungen und/oder Autismus verantwortlich sein kann. Es konnte zum Teil aufgeklärt werden, wie verschiedene Mutationen im SCN2A-Gen zu unterschiedlichen Erkrankungen und Ausprägungsgraden führen können. Je nachdem, wo sich die Mutation befindet und wie sie den Kanal verändert, kann es einen verstärkten (Gain-of-Function) oder abgeschwächten (Loss-of-Function) Einstrom von Natrium in die Nervenzelle geben.

Diagnostik und Therapie genetisch bedingter Epilepsie

Genetische Diagnostik: Ein wichtiger Schritt zur Ursachenfindung

Die genetische Abklärung gehört inzwischen zum Standard bei der Epilepsiebehandlung, da genetische Diagnosen die Wahl der Behandlung, die Prognose, die Unterstützung durch Organisationen und zunehmend auch den Zugang zu klinischen Studien erheblich beeinflussen. Die Entwicklung molekulargenetischer Methoden sowie die Entdeckung von Mutationen in Genen, die mit Epilepsie, insbesondere mit Epilepsie und Intelligenzminderung oder seltenen Erkrankungen, verknüpft sein können, hat in den letzten Jahren dramatische Fortschritte gemacht. Eine genauere Syndromzuordnung hat sowohl für therapeutische Entscheidungen und die prognostische Einschätzung einen großen Nutzen. Gleichzeitig ist selbstverständlich auch das Recht auf Nicht-Wissen der Betroffenen zu respektieren.

Wenn eine Exomsequenzierung bzw. Trio-Exomsequenzierung eingesetzt wird, ist bei Epilepsie mit einem ursachenklärenden Ergebnis in bis zu 45 % der Fälle zu rechnen, bei Genomsequenzierung bzw. Trio-Genomsequenzierung bis 48 %.

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Therapeutische Optionen bei genetisch bedingter Epilepsie

Die Behandlung von Epilepsie, die durch seltene Gendefekte verursacht wird, kann eine Herausforderung darstellen. In vielen Fällen sprechen die Patienten nicht gut auf die üblichen Antiepileptika an. Es gibt jedoch auch vielversprechende neue Therapieansätze, die auf die spezifischen genetischen Defekte abzielen.

  • Personalisierte Medizin: Das Wissen um den spezifischen Gendefekt kann es ermöglichen, eine personalisierte Therapie zu entwickeln, die auf die individuellen Bedürfnisse des Patienten zugeschnitten ist.
  • Drug Repurposing: In einigen Fällen können Medikamente, die eigentlich für andere Erkrankungen zugelassen sind, auch bei genetisch bedingter Epilepsie wirksam sein. Ein Beispiel hierfür ist der Einsatz von 4-Aminopyridin, einem Medikament zur Behandlung von Gangstörungen bei Multipler Sklerose, bei Patienten mit KCNA2-Mutationen.
  • Gentherapie: Die Gentherapie ist ein vielversprechender Ansatz, um genetische Defekte zu korrigieren. Es gibt bereits erste klinische Studien zur Gentherapie bei bestimmten Formen von Epilepsie.

Bedeutung der interdisziplinären Zusammenarbeit

Die Behandlung von Patienten mit seltener genetisch bedingter Epilepsie erfordert eine enge Zusammenarbeit zwischen verschiedenen Fachdisziplinen, wie z. B. Neurologie, Humangenetik, Kinderheilkunde und Psychologie. In spezialisierten Zentren können interdisziplinäre Teams krankheitsspezifische Therapieansätze entwickeln, die auf die individuellen Bedürfnisse der Patienten zugeschnitten sind.

Herausforderungen und Perspektiven

Forschung zu seltenen Epilepsieformen

Menschen mit Seltenen Erkrankungen sind nicht von Forschenden vergessen, sondern dass auch für sie an neuen Behandlungsmethoden gearbeitet wird. Anlässlich des Tags der Seltenen Erkrankungen am 28. Februar möchten sie darauf aufmerksam machen, dass sich Betroffene oder ihre behandelnden Ärztinnen und Ärzte an spezialisierte Zentren wenden, um dort von den neuesten medizinischen Fortschritten zu profitieren.

Bedeutung der Grundlagenforschung

Bei Studien handelt es sich natürlich um Grundlagenforschung, die nicht unmittelbar in neue Therapien mündet. Trotzdem sollten auch diese Studien möglichst breit publik gemacht werden, damit Patientinnen und Patienten sehen, dass die Forschung nicht stillsteht und es immer wieder Fortschritte gibt, die ihnen langfristig helfen könnte.

Die Rolle von Patientenorganisationen

Patientenorganisationen spielen eine wichtige Rolle bei der Unterstützung von Betroffenen und der Förderung der Forschung zu seltenen Epilepsieformen. Sie bieten eine Plattform für den Austausch von Erfahrungen, informieren über neue Therapieansätze und setzen sich für die Interessen der Patienten ein.

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Intelligenzminderung und Epilepsie

Die Gruppe von Menschen mit Epilepsie und Intelligenzminderung verdient aus verschiedenen Gründen besondere Aufmerksamkeit. Einer ist die hohe Prävalenz von Epilepsie bei Menschen mit Intelligenzminderung. Über alle Schweregrade hinweg haben ca. 22 % der Menschen mit Intelligenzminderung auch eine Epilepsie. Aufgegliedert nach Schweregraden liegt die Prävalenz von Epilepsie bei Menschen mit einer leichten Intelligenzminderung unterhalb von 10 %, bei solchen mit schwerster Intelligenzminderung (IQ < 20) oberhalb von 50 %.

Allgemein erreichen ca. 65 % der Menschen mit Epilepsie Anfallsfreiheit mittels anfallssuppressiver Medikation. Bei einer Querschnittsuntersuchung im Wohnheimbereich des Epilepsie-Zentrums Bethel wurden unter Menschen mit Lern- oder Intelligenzminderung deutlich niedrigere Anfallsfreiheitsraten festgestellt. Zum Untersuchungszeitpunkt waren 44 % der Menschen mit Lernbehinderung anfallsfrei, 39 % mit leichter, 33 % mit mittelgradiger, 32 % mit schwerer und 22 % mit schwerster Intelligenzminderung.

Bereits bei Menschen mit Epilepsie ohne Intelligenzminderung wird eine erhöhte Mortalität festgestellt. Gemäß einer Übersichtsstudie beträgt die standardisierte Mortalitätsratio (SMR) bei Epilepsie je nach Studie zwischen 1,6 und 3. Kommt zur Epilepsie jedoch eine Intelligenzminderung oder eine Zerebralparese (so die Diktion der zitierten Studie) hinzu, werden SMR von 7 bis 50 registriert. Häufige Todesursachen in dieser Gruppe sind Pneumonien und anfallsbezogene Todesfälle, z. B. der plötzliche unerwartete Tod bei Epilepsie (SUDEP). Generell sind in Kohorten von Menschen, die im SUDEP verstorben sind, Menschen mit Intelligenzminderung überrepräsentiert.

Neben somatischen sind psychische Begleiterkrankungen bei Menschen mit Intelligenzminderung häufig. Hier sind insbesondere Autismus-Spektrum-Störung und Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom zu nennen, aber auch Verhaltensstörungen (herausforderndes Verhalten), Ängste und depressive Symptome.

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