Stottern ist eine Redeflussstörung, von der etwa 1 % der Erwachsenen und 5 % der Kinder betroffen sind. Lange Zeit wurde es als psychische Erkrankung missverstanden, doch die moderne Wissenschaft hat neurologische Ursachen identifiziert. Dieser Artikel beleuchtet die neurologischen Grundlagen des Stotterns, aktuelle Forschungsergebnisse und vielversprechende Therapieansätze.
Neurologische Ursachen des Stotterns
Aus der Wissenschaft sind bisher zwei Ursachen belegt:
- Vererbung: Stottern kann vererbt werden, was sich statistisch anhand von Familiendaten nachweisen lässt. Es gibt deutliche Hinweise, dass Stottern über eine Mutation am männlichen X-Chromosom vererbt wird, was erklärt, warum etwa viermal mehr Männer als Frauen stottern. Forschungen zeigen, dass Stotter-Mutationen in bestimmten Genen verstärkt auftreten.
- Neurologische Unterschiede: Studien mit Kernspinntomographie (MRT) haben neurologische Ursachen im Gehirn von Stotternden entdeckt. Neueste bildgebende Studien mit stotternden Kindern weisen darauf hin, dass zu diesem Entwicklungszeitpunkt morphologische Unterschiede in Hirnregionen nachzuweisen sind, die wesentlich am Lernen und an der Kontrolle des Sprechens beteiligt sind. So sind motorische und prämotorische Rindenbänder, Regionen, die dem Vokaltrakt vorgeben, wie er sich bewegen soll, bei Kindern mit chronischem Stottern dünner als bei gleichaltrigen Kindern, die nicht stottern. Es wurden auch Unterschiede in der Struktur der weißen Gehirnsubstanz, dem Fasersystem des Gehirns, beobachtet. Diese Unterschiede wirken sich etwa auf das Zusammenspiel von auditiven, somatosensorischen und motorischen Signalen, die Initiierung von Sprechbewegung, die Überwachung von Gesagtem und die interhemisphärischen Koordination.
Neurobiologische Erkenntnisse
Moderne bildgebende Verfahren wie die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRI) haben Einblicke in die Gehirnaktivität von Menschen mit Stottern ermöglicht. Dabei konnten Forscher Unterschiede in der Aktivität bestimmter Gehirnregionen identifizieren, die mit der Sprechkontrolle in Verbindung stehen. Auch bei Erwachsenen mit chronischem Stottern ließen sich Veränderungen von Hirnaktivität und -verbindungen nachweisen. Betroffen sind im Besonderen Hirnregionen, die Sprech- und Sprachfunktion unterstützen. Neben motorischen und prämotorischen Rindengebieten betrifft das Areale wie den Gyrus frontalis inferior auch bekannt als Broca-Areal, das supplementär-motorische Areal, parietale und temporale Regionen, also Regionen die die Planung, Initiierung und sensomotorische Kontrolle beim Sprechen gewährleisten. Zudem sind die Basalganglienschleifen und Schaltkreise zwischen Großhirnrinde und Kleinhirn betroffen.
Die Rolle des Frontalen Aslant Trakts (FAT)
Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI CBS) in Leipzig und der Universitätsmedizin Göttingen haben herausgefunden, dass ein überaktives Netzwerk im vorderen Bereich des Gehirns eine wesentliche Rolle für das Stottern spielen könnte. Die Überaktivität in der rechten unteren Windung des Stirnhirns, die normalerweise Bewegungen hemmt, scheint der eigentliche Grund für das Stottern zu sein. Eine Faserbahn namens Frontaler Aslant Trakt (FAT) war bei Betroffenen stärker ausgebildet, und je stärker dieser Trakt war, desto schwerer war das Stottern ausgeprägt.
Weitere Faktoren
Für den Ausprägungsgrad und die Einflussnahme des Stotterns auf andere Lebensbereiche spielt auch die psychische Komponente eine große Rolle. Sicher kann ein Trauma der auslösende Moment für das Stottern gewesen sein und auch Aufregung oder Stress beeinflussen die Stärke des Stotterns. Als Ursache per se gilt eine psychische Störung, Stress oder ein erlebtes Trauma jedoch nicht. „Atmungsstörungen“, „Erziehungsfehler“ oder „Imitation“ als Ursache für das Stottern sind sogar wissenschaftlich widerlegt.
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Diagnose von Stottern
Die Diagnose wird oft von Haus- oder HNO-Ärzten gestellt, nachdem Auffälligkeiten im Sprechen des oder der Betroffenen langanhaltend auftreten. Diagnostiziert wird das Stottern meist im Kindesalter bis fünf Jahren. Rund fünf Prozent aller Kinder stottern. Bei bis zu 80 Prozent legt es sich nach einiger Zeit wieder. Die restlichen 20 Prozent behalten ihr Stottern ein Leben lang.
Typische Anzeichen für Stottern
- Wiederholungen von Lauten oder Silben (z. B. "G-g-g-g-g-g-guten Tag")
- Dehnungen von Lauten (z. B. "Ein M-m-m-mohnbrötchen bitte …")
- Hörbare oder "stumme" Blockierungen
- Vermeidung von Wörtern oder Sprechsituationen
- Körperliche Reaktionen wie schnelles Atmen oder Mitbewegungen
Therapieansätze für Stottern
Die Behandlung von Stottern hat sich stark weiterentwickelt. Statt das Stottern zu verbergen, zielen moderne Therapieansätze darauf ab, die Kommunikationsfähigkeiten der Betroffenen zu verbessern. Eine Therapie sollte einen guten Umgang mit Stottern und das Erlernen von Techniken für flüssigeres Sprechen ermöglichen. Auch für Jugendliche und Erwachsene ist eine Heilung ausschließlich durch eine Therapie bisher nicht bekannt und somit ebenso nicht als realistisch anzusehen.
Früherkennung und Frühzeitige Intervention
Ein wesentlicher Schritt in der Behandlung von Stottern ist die frühzeitige Erkennung. Die Forschung zeigt, dass Kinder, die frühzeitig Hilfe erhalten, bessere Chancen haben, ihr Stottern zu überwinden. Eltern und Lehrkräfte sollten daher auf Anzeichen von Stottern achten und bei Bedarf professionelle Unterstützung in Anspruch nehmen.
Logopädische Therapie
Eine logopädische Stotter-Therapie hilft Betroffenen Sprech- und Atemtechniken zu erlernen. Zu den zwei am häufigsten angewandten Therapiemethoden zählen das Fluency Shaping und die Stottermodifikation.
- Fluency Shaping: Hierbei wird der weiche Stimmeinsatz trainiert, der die Aussprache von Lauten zu Beginn eines Wortes oder einer Silbe erleichtern soll. Hinzu kommt die bewusste Dehnung von Lauten, Silben oder Worten, um Stottersymptome beim Sprechen zu vermeiden. Die sogenannte “fluency shaping therapy” ist eine vielversprechende und weltweit anerkannte Therapiemethode, die die Kasseler Stottertherapie aufgegriffen und um weitere Therapiebausteine ergänzt hat.
- Stottermodifikation: Die Therapie teilt sich in vier Phasen auf. Hierbei lernen Betroffene sogenannte Blocklösetechniken, um aus einer Stresssituation "kontrolliert und einigermaßen überschaubar wieder rauszukommen. Das ist eine interessante Methode, die sozusagen das Kennenlernen der Stotterereignisse beinhaltet", so Neurophysiologe Sommer. So werde die Anspannung gesenkt und der Stottermoment überwunden. Im Unterschied dazu verfolgt die Modifikation den Ansatz, die stotternde Sprechweise für sich anzunehmen und zu lernen, in auftretende Stotter-Phasen einzugreifen.
Neurostimulation
Jüngst wurden Behandlungsmethoden auf der Basis von neurowissenschaftlichen Erkenntnissen zum Stottern motiviert. Zwei kontrollierte Studien, die beide den Standards von klinischen Studien entsprechen, nutzten hierfür die transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS). Dabei handelt es sich um eine nicht-invasive Technik, bei der schwache elektrische Ströme zur Beeinflussung der Gehirnaktivität eingesetzt werden. Die Kombination beider Interventionen, erleichterte das flüssige Sprechen bei stotternden Erwachsenen nachhaltig.
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Bedeutung der Sprechfreude und des Abbaus von Vermeidungsverhalten
Unabhängig davon sollten aber wichtige Bausteine einer Stottertherapie stets die Förderung der Sprechfreude und das Abbauen von Vermeideverhalten sein. Betroffene versuchen oftmals, bestimmte Wörter oder Sprechsituationen zu vermeiden, aus Scham oder Angst, sich lächerlich zu machen. Stotternde Menschen lernen deshalb auch, sich schwierigen Situationen zu stellen. "Die größte Gefahr beim Stottern ist, den Mund zu halten, das machen auch viele. Aber das ist sehr schade, denn wenn man den Mund hält, dann sieht und hört es keiner. Wer den Mund hält, kommt auch nicht sehr weit. Das Vermeidungsverhalten ist unglücklich, weil es den Menschen in seinen Entwicklungsmöglichkeiten deutlich einschränkt.
Die Rolle der Psychischen Gesundheit
Trotz des engen Zusammenhangs zwischen psychischer Gesundheit und Stottern gibt es bislang nur wenige Untersuchungen zur Wirksamkeit einer Kombination von psychologischer und Stottertherapie. Hier werden dringend weitere Behandlungsstudien in diesem Bereich benötigt.
Was Stotternde Nicht Brauchen
Auf - oftmals gut gemeinte - Ratschläge können stotternde Menschen gut verzichten. Sie müssen nicht tief durchatmen, sich konzentrieren oder sich beruhigen. "Also am besten ist Abwarten, Anschauen und Zuhören. Stotternde Menschen brauchen mehr Zeit, das ist halt so! Es gibt immer wieder Leute, die versuchen, dann das Wort oder den Satz fortzusetzen. Das ist erstens sehr verletzend, jemanden zu unterbrechen. Außerdem ist das vielleicht gar nicht das, was ich eigentlich sagen wollte.
Spontanremission und Heilung
Das Thema „Heilung“ spielt im Zusammenhang mit Stottern immer wieder eine zentrale Rolle, da viele Betroffene sich wünschen, „dass es völlig weggeht“. Während eine Spontanremission im Kindesalter noch wahrscheinlich sein kann, nimmt sie mit zunehmendem Alter deutlich ab. In der Fachliteratur gibt es Angaben, dass eine Remission bis zum ca. 10. Wenn das Stottern im Jugend- und Erwachsenenalter noch besteht, dann muss man auf Basis der gegenwärtigen Datenlage leider davon ausgehen, dass eine Remission höchst unwahrscheinlich ist. Für Therapien im Kindesalter steht die Remission als Ziel allerdings im Fokus, da hier das Fenster der Sprachentwicklung dies durchaus ermöglicht. Auch für Jugendliche und Erwachsene ist eine Heilung ausschließlich durch eine Therapie bisher nicht bekannt und somit ebenso nicht als realistisch anzusehen.
Selbsthilfegruppen
Sich mit anderen Betroffenen über Herausforderungen auszutauschen, kann helfen. Die Bundesvereinigung Stottern und Selbsthilfe e.V. (BVSS) bietet lokale und digitale Angebote, um sich mit anderen stotternden Menschen zu vernetzen. Selbsthilfegruppen können helfen, die Scheu vor dem Sprechen zu überwinden.
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Ursachen, die Keine Sind
Viele Menschen glauben aus sich heraus zu wissen, was Stottern ist und was man tun muss, damit es weggeht. Dieses vermeintliche Wissen beruht jedoch oft nur auf Vorurteilen und Fehleinschätzungen.
- Schock oder schlimme Kindheit: Die Annahme, dass Stotternde einen Schock erlebt haben müssen oder eine „schlimme Kindheit“ hatten, ist widerlegt. Anlässe kurz vor dem erstmaligen Auftreten des Stotterns werden oft fälschlicherweise als Ursache missverstanden.
- Eigenschaften der Persönlichkeit: Stottern ist nicht durch Eigenschaften der Persönlichkeit verursacht. Man stottert nicht, weil man schüchtern oder ängstlich ist, aber man zieht sich eventuell eher zurück, weil man stottert und negative Reaktionen damit erfahren hat oder sie befürchtet.
- Aufregung: Auch Aufregung ist keine Ursache für Stottern, sondern eher ein Begleitsymptom.
Forschungsperspektiven
Obwohl viele Studien zeigen, dass sich Personen mit chronischem Stottern in Hirnstruktur und -funktion von Personen, die nicht stottern, unterscheiden, wurde bisher kein neuronaler Funktionsmechanismus beschrieben, der auf mechanistische Weise erklärt, warum Stottern auftritt. Es gibt zwar verschiedene Hypothesen, wie beispielsweise die Annahme, dass die Automatisierung von Sprechbewegungen gestört ist, die Initiierung von Sprechbewegungen beeinträchtigt ist, der Signalaustausch zwischen sensomotorischen Hirnregionen oder zwischen den beiden Gehirnhälften nicht reibungsfrei und damit zeitlich nicht richtig abgestimmt funktioniert, oder dass die Signalverarbeitung von wichtigen Neurotransmittern wie beispielsweise Dopamin in Schieflage liegt. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse über die genauen neurologischen Grundlagen des Stotterns haben jedoch noch keine klaren und eindeutigen Therapieempfehlungen ergeben.
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