Menschen sind soziale Wesen, und unser Gehirn spielt eine entscheidende Rolle dabei, wie wir miteinander interagieren. Die Neurowissenschaften haben in den letzten Jahren bedeutende Fortschritte bei der Aufdeckung der neuronalen Grundlagen des Sozialverhaltens gemacht. Diese Erkenntnisse werfen ein neues Licht auf die komplexen Beziehungen zwischen Gehirn, Individuum und Gesellschaft.
Die neuronalen Grundlagen des prosozialen Verhaltens
Unser Gehirn verfügt über spezielle Bereiche, die unser prosoziales Verhalten steuern. Eine Schlüsselregion ist die basolaterale Amygdala (BLA), ein Teil des limbischen Systems. Forschungen haben gezeigt, dass die BLA eine entscheidende Rolle bei der Kalibrierung unserer Großzügigkeit gegenüber anderen spielt, indem sie zwischen Egoismus und Altruismus abwägt und berücksichtigt, wie nahe wir einzelnen Mitmenschen stehen.
Eine Studie mit Patienten, die an dem seltenen Urbach-Wiethe-Syndrom (UWD) leiden, bei dem die BLA geschädigt ist, ergab, dass diese Personen Schwierigkeiten haben, zwischen engen Freunden und Fremden zu unterscheiden. Sie zeigten nur gegenüber Personen mit großer emotionaler Nähe prosoziales Verhalten, während sie sich gegenüber Fremden und Bekannten egoistischer verhielten.
Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die BLA nicht unbedingt notwendig ist, um altruistisch oder prosozial zu handeln, aber sie steuert, wie großzügig wir in Abhängigkeit von der empfundenen Nähe zu einer Person sind. Fehlt diese Kalibrierung, dominiert die natürliche Tendenz, das eigene Wohl über das Wohl anderer zu stellen.
Geschlechtsunterschiede im Gehirn und ihre Auswirkungen auf das Sozialverhalten
Es ist bekannt, dass Männer im Durchschnitt größere Gehirne haben als Frauen. Studien untersuchen, ob die Gehirnstruktur die Funktion unterstützt und ob Geschlechtsunterschiede in der funktionellen Organisation des Gehirns auf Unterschiede in der Gehirngröße, der Mikrostruktur und dem Abstand der funktionellen Verbindungen entlang der kortikalen Oberfläche zurückzuführen sind.
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Eine Analyse von Gehirndaten von 1000 Studienteilnehmern ergab, dass Unterschiede in der Gehirngröße, -mikrostruktur und Abstand der funktionellen Verbindungen entlang der kortikalen Oberfläche die funktionellen Unterschiede zwischen den biologischen Geschlechtern nicht vollständig erklären können. Es gibt jedoch kleine Geschlechtsunterschiede in den Verbindungen innerhalb und zwischen funktionellen Netzwerken, was die kleinen Unterschiede in der funktionale Netzwerktopographie zwischen den Geschlechtern im Allgemeinen erklären könnte.
Es ist wichtig zu beachten, dass Geschlechtsunterschiede in der Struktur und Funktion des Gehirns generell eher klein sind und dass es innerhalb einer Geschlechtergruppe größere Unterschiede geben kann als zwischen den einzelnen Geschlechtern. Darüber hinaus spiegeln die durch fMRT gemessenen Hirnfunktionssignale in erster Linie physiologische und metabolische Mechanismen wider, und es wäre falsch, automatisch davon auszugehen, dass Geschlechtsunterschiede im funktionellen Gehirnsignal Unterschiede in der Kognition oder im Verhalten erklären, und nicht nur physiologische und metabolische Unterschiede.
Weitere Studien haben gezeigt, dass Sexualhormone eine wichtige Rolle in der Modulierung und Plastizität der Mikrostruktur des Gehirns spielen. Geschlechtsspezifische regionale Unterschiede in der Mikrostruktur der Gehirnrinde und des Hippocampus verändern sich je nachdem, welches Hormonprofil man bei den Frauen betrachtet, teilweise verschwinden sie sogar ganz oder drehen sich um.
Diese Erkenntnisse unterstreichen die Bedeutung der Berücksichtigung biologischer Faktoren bei der Untersuchung von Geschlechtsunterschieden im Sozialverhalten.
Die Evolution der Kooperation und des Sozialverhaltens
Der Kooperationsgedanke ist alt. Schon vor hunderten Millionen von Jahren schlossen sich Einzeller zu Arbeitsgemeinschaften und mehrzelligen Organismen zusammen. Auch für Tiere kann sich Zusammenarbeit lohnen, wenn die Vorteile die Nachteile überwiegen. Gruppenleben bietet mitunter mehr Stärke, Schutz, Erfolg bei der Nahrungs- und Partnersuche und die Möglichkeit zur Arbeitsteilung. Es kann aber auch zu Konkurrenzkämpfen, Konflikten um begrenzte Ressourcen und erhöhten Infektionsrisiken kommen.
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Der Mensch ist ein ganz besonders soziales Wesen. Wie kein anderes kann er die Gedanken und Gefühle anderer nachvollziehen und orientiert sich auch an diesen. Um sich über die jeweiligen Bedürfnisse auszutauschen und Zusammenarbeit gestalten zu können, hat der Mensch sogar ein eigenes Werkzeug entwickelt - die Sprache. Selbst im Vergleich mit unseren nächsten Verwandten, den Menschenaffen, können schon Kleinkinder besser erahnen, was andere Wesen fühlen und brauchen - und legen auch viel mehr Wert auf Kooperation.
Die ausgeprägte Fähigkeit des Menschen zur Kooperation führt auch zur gegenseitigen Abhängigkeit und zum dringenden Bedürfnis nach einem sozialen Netzwerk. So überschäumend sozial ist der Mensch, dass er selbst jenseits von seinesgleichen nach Sozialkontakten sucht - seien es Haustiere, virtuelle Wesen in der digitalen Welt oder auch unbelebte Gegenstände.
Soziale Interaktion und Gedächtnis
Soziale Interaktionen stärken nicht nur das Wohlbefinden, sondern auch unser Gedächtnis. Die Idee, dass wir Ereignisse langfristiger abspeichern, wenn sie mit sozialen Begegnungen verknüpft sind, ist nicht neu. Soziale Reize aktivieren ein kleines, oft übersehenes Areal in unserem Gehirn, genannt CA2. Diese Region steht in direktem Kontakt zu anderen Bereichen des Hippocampus, unserer Gedächtnis-Schaltzentrale.
Studien haben gezeigt, dass Mäuse, die zuvor eine neue Maus kennengelernt hatten, sich deutlich besser an eine Aufgabe erinnerten als Mäuse, die eine Bekannte getroffen hatten. Die Blockierung der CA2-Neuronen hob diesen gedächtnisstärkenden Effekt sozialer Interaktion auf.
Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass sozialer Austausch unsere Gedächtnisbildung verstärken kann, vor allem, wenn er dem Lernen vorausgeht. Das unterstreicht, wie sinnvoll Lerngruppen oder Diskussionen für die Festigung von Wissen sein können.
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Das soziale Gehirn und soziale Emotionen
Während sozialer Interaktion ist das Gehirn auf unterschiedliche Weise gefordert. Der Hirnforscher Sören Krach von der Universität Lübeck untersucht, was im Kopf bei zwischenmenschlichen Gefühlen wie Peinlichkeit, Scham und Schuld geschieht.
Studien haben gezeigt, dass bei sozialen Emotionen verschiedene Hirnregionen aktiviert werden, insbesondere das so genannte Mentalisierungssystem, das ein Nachdenken darüber beinhaltet, was andere über uns denken. Die Intensität dieser Aktivierung hängt von der Nähe der Beziehung sowie von der Art des Malheurs ab.
Die soziale Interaktion umfasst auf kognitiver Ebene häufig Gedanken darüber, was die Anderen denken und fühlen. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass Menschen umso mehr Aktivierung in den Experimenten zeigen, je empathischer sie sind. Umgekehrt konnte Krachs Arbeitsgruppe belegen, dass Autisten viel schwächer reagieren.
Die Bedeutung des sozialen Gehirns für die Gesellschaft
Die Erkenntnisse über das soziale Gehirn haben weitreichende Implikationen für unser Verständnis der Gesellschaft. Sie können uns helfen, soziale Probleme wie Autismus, Psychopathie und Depression besser zu verstehen und gezielte Interventionen zu entwickeln.
Darüber hinaus können sie uns helfen, unsere eigenen sozialen Interaktionen zu verbessern und ein erfüllteres Leben zu führen. Indem wir die neuronalen Grundlagen des prosozialen Verhaltens, der Kooperation und des Gedächtnisses verstehen, können wir unsere Beziehungen stärken, unsere Gemeinschaften aufbauen und eine gerechtere und mitfühlendere Welt schaffen.
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