Das Tourette-Syndrom ist eine neuropsychiatrische Erkrankung, die durch das Vorhandensein von Tics gekennzeichnet ist. Tics sind unwillkürliche, sich wiederholende Bewegungen oder Lautäußerungen, die plötzlich auftreten und keinem erkennbaren Zweck dienen. Sie können motorisch (z. B. Grimassieren, Kopfrucken, Springen) oder vokal (z. B. Räuspern, Pfeifen, Bellen) sein. Betroffene haben oft Schwierigkeiten, diese Symptome zu unterdrücken.
Die neurologischen Grundlagen von Tics
Die Forschung hat in den letzten Jahren bedeutende Fortschritte bei der Identifizierung der Gehirnbereiche gemacht, die bei der Entstehung von Tics eine Rolle spielen. Eine aktuelle Studie hat ein neuronales Netzwerk im Gehirn identifiziert, das als Ursprung der Tics fungiert. Dieses Netzwerk erstreckt sich über verschiedene Hirnregionen, die unterschiedliche Funktionen haben, von der Steuerung der Motorik bis zur Verarbeitung von Emotionen.
Ein Netzwerk im Gehirn als Ursprung von Tics
Frühere Forschungen haben verschiedene Bereiche des Gehirns identifiziert, die für Tics eine Rolle spielen. Unklar blieb jedoch, welche dieser Hirnareale die Tics auslösen und welche aktiv sind, um fehlerhafte Prozesse zu kompensieren.
Eine Studie untersuchte 22 Patienten, deren Tics aufgrund einer Hirnschädigung, beispielsweise durch einen Unfall, auftraten. Auf dieser Basis entwickelten die Forschenden eine Art Karte, die alle geschädigten Hirnbereiche umfasste. Zudem ermittelten sie, mit welchen weiteren Arealen diese normalerweise über Nervenfasern verbunden wären. Obwohl die Schäden in unterschiedlichen Teilen des Hirns entstanden waren, waren sie nahezu alle Teil eines gemeinsamen Nervengeflechts.
Diese Strukturen sind praktisch über das gesamte Gehirn verteilt und haben unterschiedlichste Funktionen. Sie reichen von der Steuerung der Motorik bis zur Verarbeitung von Emotion. Sie alle wurden in der Vergangenheit bereits als mögliche Auslöser für Tics diskutiert. Jetzt wissen wir, dass diese Hirnbereiche ein Netzwerk bilden und tatsächlich die Ursache für Tic-Störungen sein können.
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Es wird vermutet, dass bei Tourette-Patienten aufgrund einer Gehirnreifungsstörung die Bewegungskontrolle gestört ist. Untersuchungen haben ergeben, dass einzelne Bereiche des Gehirns der Betroffenen anders ausgebildet oder durchblutet sind als entsprechende Bereiche des Gehirns von gesunden Menschen. Es wird vermutet, dass mindestens einer der Botenstoffe, die in diesen Bereichen des Gehirns Informationen weiterleiten (Dopamin), an dem Auftreten der Erkrankung beteiligt ist.
Genetische und umweltbedingte Faktoren
Hirnschädigungen als Ursache von Tics sind sehr selten. Normalerweise spielen insbesondere genetische Faktoren eine Rolle. Auch Infektionen, beispielsweise mit Streptokokken, werden als Auslöser gehandelt. Sicher ist, dass ein Elternteil, das am Tourette-Syndrom leidet oder die Veranlagung dazu in seinem Erbmaterial hat, dies mit einer 50%igen Wahrscheinlichkeit weitervererbt. Der Grad des Ausbruchs der Erkrankung ist geschlechtsabhängig. Söhne eines solchen Paares entwickeln 4-mal häufiger eine Ticstörung als Töchter. Allerdings geht man davon aus, dass nur 10% der Kinder, die eine genetische Veranlagung zu Ticstörungen haben, ein so ausgeprägtes Krankheitsbild entwickeln, dass sie einen Arzt aufsuchen.
Auch prä- und perinatale Faktoren können einen Einfluss auf die Entstehung des Tourette-Syndroms haben, z.B. konnte eine Studie aufzeigen, dass ein positiver Zusammenhang zwischen mütterlichem Nikotinkonsum während der Schwangerschaft und der Entstehung der Krankheit besteht. Des Weiteren kann auch intermittierender Stress während kritischer Phasen der pränatalen Hirnentwicklung zur Genese des Tourette-Syndroms beitragen.
Tiefe Hirnstimulation als Therapieoption
Die Entdeckung dieses neuronalen Netzwerks eröffnet neue Perspektiven für die Behandlung von Menschen mit schwer ausgeprägten Tics. Die tiefe Hirnstimulation (THS) ist eine vielversprechende Therapieoption, bei der bestimmte Hirnareale durch elektrische Impulse stimuliert werden. Studien haben gezeigt, dass die THS die Symptome des Tourette-Syndroms lindern kann.
Funktionsweise und Ergebnisse der THS
Bei der tiefen Hirnstimulation werden sehr feine Drähte ins Gehirn geführt, die dort bestimmte Areale mit elektrischen Pulsen anregen. Für Tourette wurde der so genannte Hirnschrittmacher jedoch erst an wenigen Menschen erprobt, und über Langzeiteffekte war bisher nichts bekannt.
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Eine Studie begleitete 15 erwachsene Tourette-Patienten mit Hirnschrittmachern über zwei Jahre hinweg. Während dieser Zeit dokumentierten die Forscher Schwere und Anzahl der Ticks und untersuchten andere psychische Begleiterscheinungen des Syndroms, wie Depression, Angststörungen oder Zwangshandlungen. Alle negativen Effekte nahmen durch die tiefe Hirnstimulation ab. Andere Funktionen des Gehirns wie Gedächtnis oder Sprache wurden dagegen nicht beeinflusst. Bei einigen Patienten stieg durch die Behandlung die Konzentrationsfähigkeit.
Die Forscher konnten anhand von Hirnscans nachvollziehen, wo genau die Elektroden jeweils saßen. Dabei zeigte sich, dass die Symptome der Betroffenen am stärksten zurückgingen, je präziser die Elektroden das entdeckte Tic-Netzwerk stimulierten.
Präzision und zukünftige Anwendungen
Künftig sollen die Hirnschrittmacher möglichst präzise auf das Netzwerk abzielen. Es wird gehofft, dass so der wirklich hohe Leidensdruck für die Betroffenen noch besser abgemildert werden kann, um ihnen ein weitestgehend selbstbestimmtes und sozial erfülltes Leben zu ermöglichen.
Obwohl die tiefe Hirnstimulation relativ sicher ist, besteht ein geringes Risiko für Blutungen oder Infektionen. Daher ist die Methode kein Ersatz für die bisher üblichen Therapien. Bei den Probanden der Studie hatten diese zuvor jedoch nicht angeschlagen. Weitere klinische Studien sollen die bisherigen Ergebnisse nun absichern.
Konventionelle Behandlungsmethoden
Obwohl die tiefe Hirnstimulation eine vielversprechende Option für schwer betroffene Patienten darstellt, gibt es auch eine Reihe von konventionellen Behandlungsmethoden, die bei der Bewältigung des Tourette-Syndroms helfen können.
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Verhaltenstherapie
Verhaltenstherapeutische Verfahren sind für die symptomzentrierte Behandlung von Tics angezeigt. So kann die symptomzentrierte Verhaltenstherapie Häufigkeit und Intensität der Tics verringern und zielt auf ein Selbstmanagement zur Kontrolle der motorischen und vokalen Tics hin.
Daneben stellt die so genannte «Gewohnheitsumkehr» (Habit Reversal Training (HRT)) einen erfolgreichen therapeutischen Ansatz dar. Hierbei können andere, den Tics entgegenwirkende, Verhaltensweisen erlernt werden, die dem Betroffenen helfen, seine unerwünschten Verhaltensgewohnheiten zu kontrollieren.
Medikamentöse Therapie
Eine medikamentöse Therapie der Tics misst sich häufig am Schweregrad der Erkrankung und der damit verbundenen psychosozialen Beeinträchtigung. Mildere Verlaufsformen bleiben demnach häufig medikamentös unbehandelt. Die meisten Medikamente zur Behandlung des Tourette-Syndroms zielen auf den Dopaminstoffwechsel im Gehirn.
Psychoedukation und unterstützendes Umfeld
Neben der medizinischen Behandlung ist ein aufgeklärtes, verständnisvolles Umfeld hilfreich, das vorurteilsfrei und akzeptierend ist. Die Psychoedukation der Betroffenen und deren Angehörigen spielt eine wichtige Rolle, auch da schreiende und zuckende Tourette-Patienten oft bedrohlich wirken und entsprechende Reaktionen in ihrem Umfeld auslösen.
Auswirkungen auf das soziale Leben und psychische Gesundheit
Hochfrequente, stark ausgeprägte und sehr laute Tic-Störungen können Betroffene mitunter stark belasten. Neben der körperlichen Anstrengung stellt der Umgang mit dem sozialen Umfeld eine große Herausforderung dar, was Betroffenen oftmals größere Schwierigkeiten bereitet.
Andere Menschen erschrecken zuweilen, wundern sich oder empfinden vielleicht sogar einen Moment lang Angst, weil solche Symptome nicht in ein erwartetes Verhaltensmuster passen. Aus Sorge, den Betroffenen zu kränken, wird bei kurzweiligen Begegnungen über solch eine Situation meist auch nicht gesprochen. Menschen mit Tic-Störungen sind daher nicht selten mit einem Gegenüber konfrontiert, das verlegen und verunsichert reagiert oder auch peinliches Unbehagen verspürt. Solche alltäglichen zwischenmenschlichen Situationen können überaus belastend und schmerzlich sein.
Dadurch können Erkrankte manchmal Ängste vor einer negativen Konfrontation entwickeln und in der Folge soziale Kontakte meiden. Selbstwertprobleme bis hin zu Depressionen sind häufige Folgen. Bei 80 bis 90 Prozent aller Patienten mit Tourette-Syndrom bestehen nicht nur Tics, sondern auch weitere psychische Erkrankungen wie z.B. Zwangsstörungen oder ADHS.