Der Vagusnerv, der längste unserer zwölf Hirnnerven, spielt eine entscheidende Rolle bei der Verbindung zwischen Gehirn und Körper. Als Teil des parasympathischen Nervensystems ist er maßgeblich an der Steuerung von Erholung, Ruhe und Verdauung beteiligt. In der Medizin wird die Aktivierung des Vagusnervs bereits gezielt zur Behandlung verschiedener Erkrankungen eingesetzt, insbesondere bei therapieresistenten Depressionen. Dieser Artikel beleuchtet die verschiedenen Methoden der Vagusnervstimulation, ihre Anwendungsbereiche und ihre wissenschaftliche Grundlage.
Die Rolle des Vagusnervs im Körper
Der Vagusnerv, auch bekannt als "umherschweifender Nerv", ist ein zentraler Nerv, der vom Gehirn bis zu den Organen im Bauchraum reicht. Er ist von elementarer Bedeutung für die unterbewusste und bewusste Überwachung unseres körperlichen Befindens durch das autonome Nervensystem. Als Hauptnerv des parasympathischen Nervensystems agiert er als Gegenspieler zum sympathischen Nervensystem und soll für ein gesundes Gleichgewicht in unserem Körper sorgen.
Der Vagusnerv vermittelt zwischen einer Vielzahl von Körperfunktionen wie der Herzfrequenz, Verdauung oder der Atmung. Die vielen Seitenäste des Nervs versorgen fast alle Hals-, Brust- und Bauchorgane. Studien zeigen, dass die Stimulation des Vagusnervs bei einer Vielzahl von psychiatrischen und neurologischen Erkrankungen hilfreich sein kann.
Invasive Vagusnervstimulation (iVNS)
Die invasive Vagusnervstimulation (iVNS) ist ein etabliertes Verfahren zur Behandlung therapieresistenter Epilepsie und Depressionen. Bei diesem operativen Eingriff werden Elektroden am linken Vagusnerven und ein Generator unter der Haut im oberen Brustbereich implantiert. Ein Kabel verbindet den Generator mit den Elektroden. Das VNS-Gerät, eine kleine Scheibe, ist ein Pulsgenerator mit Batterie und Mini-Computer.
Die Stromimpulse wirken über den Vagusnerv im Gehirn und hemmen dort Aktivitäten, die zu epileptischen Anfällen führen. Bereits in den 1990er-Jahren wurde diese Methode vermehrt eingesetzt, wobei eine positive Nebenwirkung beobachtet werden konnte: die Stimmungsaufhellung bei einigen Patienten. Studien untersuchten den Effekt und stellten nachweislich Effekte auf die Stimmung dar.
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Die medizinisch etablierte Stimulation des Vagusnervs (VNS) ist ein invasives Verfahren: Die Patientinnen und Patienten bekommen bei einer Operation eine Art Nervenschrittmacher eingesetzt. Dieses VNS-Gerät, eine kleine Scheibe, ist ein Pulsgenerator mit Batterie und Mini-Computer. Es wird unterhalb des Schlüsselbeins unter die Haut implantiert. Von der Scheibe läuft ein Kabel zum Vagusnerv. An dessen Ende sitzen Elektroden. Viel mehr an die Social-Media-Videos erinnert die nicht-invasive Weiterentwicklung der Vagusnervstimulation: die transkutane Stimulation, also von außen durch die Haut. Bei dieser Methode werden kleine Elektroden ans Ohr gesetzt, denn Ausläufer des Vagusnervs ziehen sich auch ins Ohr und befinden sich hier nah unter der Haut. Ein Unterschied zwischen den Methoden besteht darin, dass die implantierten VNS-Geräte in Intervallen im Prinzip die ganze Zeit laufen. Die Stimulation über die Haut hingegen ist nur ein paar Stunden pro Tag möglich.
Nicht-invasive Vagusnervstimulation (nVNS)
Die nicht-invasive Vagusnervstimulation (nVNS) ist eine Weiterentwicklung der iVNS, die ohne Operation auskommt. Bei dieser Methode werden kleine Elektroden am Ohr oder am Hals platziert, um den Vagusnerv von außen durch die Haut zu stimulieren. Ein tragbares Gerät in der Größe eines Mobiltelefons erzeugt ein elektrisches Signal, das über die Elektroden an den Vagusnerv abgegeben wird.
In einer spezialisierten Praxis werden nichtinvasive Verfahren angewendet, für die Wirksamkeitsbelege existieren und die nicht riskant sind: die transkranielle Gleichstromstimulation (tDCS), die intravenöse Na-Kanalblockade mit Procain-Bikarbonat (Infusionsbehandlung) und die noninvasive Vagusnerv-Stimulation, alle 3 Verfahren in Kombination, intensiv und hochfrequent (täglich über 2 Wochen), gelegentlich (eher selten) auch die repetitive transkranielle elektromagnetische Stimulation (rTMS).
Die Stimulation wirkt auf übergeordnete Hirnzentren und hat zur Folge, daß vermindert Glutamat freigesetzt wird, das eine wichtige Rolle bei der Schmerzentstehung spielt. Der schmerzblockierende Effekt beruht darauf, daß bei Reizung dieses sechsten Hirnnervs afferente A- und B-Fasern des Vagusnervs erregt werden und hierunter in den höhergelegenen Hirnzentren inhibitorische Neurotransmitter freigesetzt werden. Das führt zur Hemmung der Glutamatsynthese im trigeminalen Nucleus caudalis (TNC). In einer prospektiven, multizentrischen Pilotstudie mit Forschungsausnahmegenehmigung wurden keine Nebenwirkungen während oder nach der Stimulation berichtet.
Anwendungsbereiche der Vagusnervstimulation
Die Vagusnervstimulation wird zur Behandlung verschiedener Erkrankungen eingesetzt, darunter:
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- Therapieresistente Depressionen: Die Vagusnervstimulation ist für die Behandlung therapieresistenter Depressionen zugelassen. Therapieresistent meint in diesem Falle, dass die Behandlung mit konventionellen Therapiemethoden wie Psychopharmaka und Psychotherapie nur wenig Erfolg gebracht hat. Für diese Patienten stellt die Vagusnervstimulation eine gute Behandlungsoption zusätzlich zu einer medikamentösen Therapie oder zu Psychotherapie dar.
- Epilepsie: Die Vagusnervstimulation kann in einigen Fällen die Häufigkeit und Intensität epileptischer Anfälle verringern.
- Chronische Schmerzen: Die Vagusnervstimulation kann bei der Behandlung von chronischen Schmerzen, insbesondere Kopfschmerzen, eingesetzt werden.
- Weitere Erkrankungen: Es gibt Hinweise darauf, dass die Vagusnervstimulation auch bei anderen Erkrankungen wie Migräne, Tinnitus, Übergewicht und Vorhofflimmern hilfreich sein kann.
Übungen zur Selbststimulation des Vagusnervs
Neben den medizinischen Verfahren gibt es auch einfache Übungen, die man selbst durchführen kann, um den Vagusnerv zu stimulieren und die Entspannung zu fördern:
- Atemübungen: Durch bewusstes Verlangsamen der Atmung und tiefe, lange Atemzüge kann man den Vagusnerv anregen und den Körper in einen entspannteren Zustand versetzen. Die Boxatmung, bei der man auf vier Zählzeiten einatmet, vier Zählzeiten die Atmung hält, auf vier ausatmet und wieder vier Zählzeiten hält oder eine verlängerte Ausatmung können die Entspannung fördern.
- Klopfen auf die Brust: Sanftes Klopfen auf die Brust kann helfen, den Herzschlag zu regulieren und den Vagusnerv zu aktivieren.
- Massagen: Sanfte Massagen im Bereich des Ohres und des Halses können den Vagusnerv stimulieren und so für die gewünschte Entspannung sorgen. Seitlich beide Handflächen außen an den Hals legen und mit sanften Bewegungen zwischen Ohr und Schulterübergang kreisend über die Haut streichen.
- Kältereize: Mäßige Kälte, wie z.B. kaltes Abduschen oder das Trinken von kühlem Wasser, kann den Vagusnerv aktivieren und die Entspannungsfähigkeit des Körpers erhöhen.
- Singen und Gurgeln: Singen von Lieblingsliedern oder Gurgeln kann den Vagusnerv stimulieren, da die beiden Äste des Vagusnervs auf beiden Seiten des Halses entlang von Kehlkopf und Luftröhre verlaufen.
- Akupressur: Den Punkt in der Ohrmuschel, der mit dem Vagusnerv in Verbindung steht, 30 Sekunden drücken und wieder loslassen.
- Akkommodation: Akkommodation beschreibt die Fähigkeit des Auges, Gegenstände in unterschiedlichen Entfernungen scharf zu sehen. Mit dieser Übung trainieren Sie Ihre Augenmuskeln und regen gleichzeitig den Vagusnerv an. Strecken Sie jeweils einen Finger der rechten und einen Finger der linken Hand unterschiedlich weit von sich weg und versuchen Sie, diese mit den Augen abwechselnd scharf zu stellen. Wenn das gut funktioniert, dann können Sie auch mit den Augen „Achten“ um die beiden Finger beschreiben. Das verstärkt den Trainingseffekt.
Wissenschaftliche Erkenntnisse und Studien
Die Vagusnervstimulation ist Gegenstand vielfältiger Forschungen. Studien haben gezeigt, dass die Stimulation des Vagusnervs die Kommunikation zwischen Magen und Gehirn verstärken kann. Dies könnte neue Therapieoptionen bei Depressionen, Adipositas und Essstörungen ermöglichen.
Eine Studie des Uniklinikums Tübingen hat gezeigt, dass die Vagusnerv-Stimulation die Kopplung mit Signalen des Magens im Hirnstamm und im Mittelhirn erhöht. Diese Regionen sind wichtig, da sie die ersten Ziele des Vagusnervs im Gehirn sind und über das Mittelhirn bereits Effekte vermittelt sein könnten, die unsere Handlungen beeinflussen. Darüber hinaus entdeckten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, dass die Kopplung mit dem Magen im gesamten Gehirn zunahm, insbesondere in Regionen, die bereits vor der Stimulation stärker mit dem Magen kommunizieren. Veränderungen in der Kopplung zwischen Magen und Gehirn können nahezu unmittelbar erzeugt werden und sich schnell ausbreiten.
Kritische Betrachtung und Zukunftsperspektiven
Obwohl die Vagusnervstimulation vielversprechend ist, ist es wichtig, die wissenschaftliche Evidenz kritisch zu betrachten. Viele der bisherigen Studien wurden von der Industrie mitfinanziert, was zu Verzerrungen führen könnte. Zudem ist die Beweislage zur antidepressiven Wirksamkeit der nicht-invasiven Vagusnervstimulation noch ausbaufähig.
Dennoch gibt es Hinweise darauf, dass die Vagusnervstimulation eine wirksame Behandlungsmethode bei Depressionen sein kann, insbesondere in Kombination mit Antidepressiva. Ob die nicht-invasive Vagusnervstimulation eine vergleichbare antidepressive Wirkung haben könnte, ist bislang noch nicht ausreichend untersucht. Sie könnte aber eine einfache und günstigere Alternative zum invasiven Verfahren darstellen.
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Die Forschung zur Vagusnervstimulation ist noch lange nicht abgeschlossen. Zukünftige Studien müssen die Wirksamkeit der verschiedenen Methoden genauer untersuchen und die Mechanismen aufklären, die der Stimulation zugrunde liegen. Es ist auch wichtig, die individuellen Unterschiede bei der Reaktion auf die Vagusnervstimulation zu berücksichtigen und personalisierte Behandlungsansätze zu entwickeln.
Kosten und Verfügbarkeit
Die Kosten für eine Vagusnervstimulation können je nach Methode und Anbieter variieren. Die invasive Vagusnervstimulation ist in der Regel teurer als die nicht-invasive Vagusnervstimulation. Die nichtinvasive Vagusnerv-Stimulation ist ein Selbstzahlerleistung. Im GKV-Sprachgebrauch ist sie eine individuelle Gesundheitsleistung (IgeL), die nicht erstattet wird. Manchmal (selten) erhalten Privatversicherte, Heilfürsorge-Berechtigte und Patienten der KVB eine Erstattung, weshalb wir empfehlen, vor Inanspruchnahme der Leistung die Kostenübernahme zu klären.
Die Verfügbarkeit der Vagusnervstimulation ist ebenfalls unterschiedlich. Die invasive Vagusnervstimulation wird in spezialisierten Zentren angeboten, während die nicht-invasive Vagusnervstimulation zunehmend auch in ambulanten Praxen verfügbar ist.
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