Vagusnervstimulation: Anwendungsgebiete, Wirksamkeit und Zukunftsperspektiven

Die Vagusnervstimulation (VNS) hat sich als vielversprechende Therapieoption für verschiedene Erkrankungen etabliert. Der Vagusnerv, als längster Hirnnerv, spielt eine zentrale Rolle in der Kommunikation zwischen Gehirn und vielen inneren Organen. Seine Stimulation beeinflusst Körperfunktionen wie Herzschlag, Verdauung und sogar die Stimmungslage. Dieser Artikel beleuchtet die Anwendungsgebiete der VNS, ihre Wirkungsweise, die aktuelle Forschungslage und gibt einen Ausblick auf zukünftige Entwicklungen.

Was ist der Vagusnerv und warum ist seine Stimulation relevant?

Der Vagusnerv, auch als "Datenautobahn" des Körpers bezeichnet, verbindet den Verdauungstrakt, die Lunge und das Herz mit dem Gehirn. Er übermittelt Informationen über den Zustand der Organe und hilft dem Gehirn, das passende Verhalten auszuwählen, beispielsweise Essen bei Hunger oder die Aktivierung des Immunsystems bei Krankheit. Als Teil des Parasympathikus ist er für Erholung, Ruhe und Verdauung zuständig und wirkt als Gegenspieler des Sympathikus, der den Körper in Stress- oder Gefahrensituationen aktiviert.

Etablierte Anwendungsgebiete der Vagusnervstimulation

Therapieresistente Depressionen

Neuromodulationsverfahren, insbesondere die VNS, sind inzwischen etablierte Therapien zur Behandlung von therapieresistenten depressiven Erkrankungen. Die VNS ist als Zusatztherapie für "chronische und wiederkehrende Depressionen bei Patienten, die sich in einer therapieresistenten oder therapieintoleranten depressiven Episode befinden", zugelassen. Studien haben gezeigt, dass die VNS bei Patienten mit therapieresistenter Depression zu zunehmenden Stoffwechsel- und Durchblutungsveränderungen in bestimmten Hirnstrukturen führt.

Epilepsie

Die Vagusnervstimulation wird auch zur Vorbeugung epileptischer Anfälle eingesetzt. Die Beobachtung, dass Druck auf den Nerv im Halsbereich manchmal epileptische Anfälle stoppen kann, führte zur Entwicklung von VNS-Geräten.

Wie funktioniert die Vagusnervstimulation?

Bei der VNS-Implantation wird ein Stimulationsgerät, ähnlich einem Herzschrittmacher, im Brustbereich unter der Haut implantiert. Dieses Gerät ist über eine Elektrode mit dem linken Vagusnerv verbunden. Der VNS-Schrittmacher sendet regelmäßig elektrische Impulse an den Vagusnerv, die Aktionspotentiale der Vagusfasern auslösen. Diese Aktionspotentiale gelangen zum Nucleus Tractus Solitarius (NTS) im Hirnstamm, der 80% der vagalen Afferenzen erhält. Der NTS projiziert zu den dorsalen Raphekernen und zum Locus Coeruleus, den Hauptproduktionsstätten von Serotonin und Noradrenalin im Gehirn. In Tiermodellen wurde unter VNS sowohl eine Steigerung der Stoffwechselaktivität als auch der Feuerungsrate in beiden Kerngebieten beobachtet, was wahrscheinlich die neurophysiologische Ursache für erhöhte Noradrenalin- und Serotoninmetaboliten-Konzentrationen im Liquor von VNS-behandelten Patienten ist. Die vagalen Hirnstamm-Nuclei haben direkte Faserverbindungen zum präfrontalen Kortex und zum insulären Kortex, sowie subkortikale Verbindungen zu Hypothalamus, Cingulum, Hippokampus und Amygdala.

Lesen Sie auch: Den Vagusnerv aktivieren

Aktuelle Forschung und potenzielle zukünftige Anwendungsgebiete

Long/Post COVID

Aktuelle Studien untersuchen, ob die Vagusnerv-Stimulation die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit von Personen mit Long/Post COVID verbessern kann.

Körperliche Symptome bei Depressionen

Studien untersuchen die Wirkung der Vagusnerv-Stimulation auf das Gehirn und den Magen bei Personen, die unter Depressionen leiden. Veränderungen in der Kommunikation zwischen Körper und Gehirn gelten als wesentlicher Faktor bei der Entstehung von Depressionen.

Adipositas und Essstörungen

Forscher untersuchen, ob die Stimulation des Vagusnervs in Zukunft Menschen mit Adipositas und Essstörungen helfen könnte, die Wahrnehmung der Körpersignale wiederherzustellen.

Beeinflussung des Hunger- und Sättigungsgefühls

Eine Studie des Universitätsklinikums Tübingen und Bonn zeigte, dass eine nicht-invasive Stimulation des Vagusnervs am Ohr die Kommunikation zwischen Magen und Gehirn innerhalb von Minuten verstärken kann. Dies könnte neue Therapieoptionen bei Depressionen, Adipositas und Essstörungen ermöglichen.

Nicht-invasive Vagusnervstimulation (tVNS)

Die nicht-invasive transkutane Stimulation des Vagusnervs (tVNS) ist eine vielversprechende neue Therapieoption. Im Gegensatz zur invasiven VNS, die eine Operation zur Implantation eines Stimulationsgerätes erfordert, ist die tVNS nicht-invasiv und hat potenziell weniger Nebenwirkungen. Studien deuten darauf hin, dass die tVNS bei psychischen Erkrankungen wirksam sein könnte.

Lesen Sie auch: Radialnerv: Anatomie, Funktion & Therapie

Methoden zur Selbststimulation des Vagusnervs

Es gibt verschiedene Übungen, die man zu Hause durchführen kann, um den Vagusnerv zu stimulieren und die Entspannung zu fördern. Dazu gehören:

  • Kontrollierte Atemübungen: Tiefes Atmen oder progressive Muskelentspannung können nachweislich entspannend wirken. Die Boxatmung, bei der man auf vier Zählzeiten einatmet, vier Zählzeiten die Atmung hält, auf vier ausatmet und wieder vier Zählzeiten hält, oder eine verlängerte Ausatmung können ebenfalls die Entspannung fördern.
  • Selbstmassage: Sanfte, kreisende Bewegungen am Hals zwischen Ohr und Schulterübergang können den Vagusnerv stimulieren.
  • Kopf drehen: Den Kopf langsam nach links und rechts drehen und dabei die Augen auf Gegenstände in der Nähe fixieren.
  • Singen: Singen, insbesondere Lieder mit Vokalen wie A, O und U, kann den Vagusnerv stimulieren.
  • Kältereize: Eine kurze kalte Dusche am Morgen kann den Sympathikus dämpfen und den Vagusnerv aktivieren.
  • Akkommodation: Das Trainieren der Augenmuskeln durch abwechselndes Scharfstellen von Gegenständen in unterschiedlichen Entfernungen kann den Vagusnerv anregen.
  • Akupressur: Das Drücken eines bestimmten Punktes in der Ohrmuschel kann den Vagusnerv stimulieren.
  • Ausgleich mit Lavendel: Ätherisches Lavendelöl kann in stressigen Zeiten helfen, abzuschalten.

Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass die Wirksamkeit dieser Übungen individuell variieren kann und dass es bisher wenige überzeugende Studien zur mechanischen Stimulation gibt.

Freiverkäufliche Systeme zur Vagusnervstimulation

Im Internet werden freiverkäufliche Systeme zur Vagusnervstimulation angeboten. Allerdings gibt es bisher keine nennenswerten Studien zur Wirksamkeit vieler dieser Geräte. Viele Geräte sind nicht als Medizinprodukte zur wirksamen Behandlung zertifiziert, und es gibt keine Garantie, dass sie den Vagusnerv tatsächlich stimulieren und eine therapeutische Wirkung haben. Bei Herz- oder Kreislaufproblemen oder in der Schwangerschaft sollten diese Geräte nicht ohne ärztliche Rücksprache angewendet werden.

Nebenwirkungen und Risiken der Vagusnervstimulation

Die häufigsten Nebenwirkungen der VNS-Therapie sind Heiserkeit, Irritationen des Stimm-Schluckapparates, Husten und Dyspnoe. Diese Nebenwirkungen treten typischerweise während der 30-Sekunden-Stimulation auf, verlieren aber im Verlauf an Intensität. Schwerwiegende unerwünschte Ereignisse durch die VNS sind selten. Bei der Implantation eines Gerätes zur Vagusnervstimulation sind die Risiken gering, auch wenn jede Operation mit gewissen Risiken, wie etwa Infektionen, verbunden ist.

Kostenübernahme

In der Europäischen Union ist die VNS zur Behandlung von chronischen oder therapieresistenten Depressionen oder bei Patienten, die medikamentöse Behandlungen nicht tolerieren, zugelassen. Die Kosten für die Implantation des Stimulators werden von den Krankenkassen übernommen.

Lesen Sie auch: Was Sie über "Nerve" wissen sollten

tags: #Vagusnervstimulation #anwendungsgebiete