Vera Birkenbihl: Gehirngerechtes Lernen und die Revolutionierung der Bildung

Die Erkenntnisse der Hirnforschung sind in aller Munde und stoßen bei Weiterbildnern auf großes Interesse. Das menschliche Gehirn bewertet, verarbeitet und speichert Informationen auf faszinierende Weise, was für alle, die Wissen vermitteln möchten, von Bedeutung ist. Viele dieser Erkenntnisse, die aus Hirnscannern gewonnen werden, sind jedoch nicht neu. Vera Felicitas Birkenbihl sammelte bereits in den 1970er Jahren durch Intuition und logische Ableitung ähnliche Erkenntnisse darüber, wie unser Gehirn lernt.

Vera F. Birkenbihl: Eine Pionierin des gehirngerechten Lernens

Vera F. Birkenbihl war eine renommierte Autorin, Coach und Rednerin und zählte zu den einflussreichsten Persönlichkeiten der Seminar- und Coaching-Szene. Ihre unverblümte Art und ihre innovativen Techniken machten sie sowohl bewundert als auch umstritten. Sie veröffentlichte zahlreiche erfolgreiche Bücher, konzipierte Management-Kurse und hielt unzählige Vorträge.

Birkenbihl widmete sich in ihren Seminaren und Büchern vielfältigen Themen der persönlichen Entwicklung und setzte sich insbesondere für die Revolutionierung des Schulsystems ein. Sie kritisierte oft die Veränderungsresistenz im Bildungswesen. Bereits in den 1970er Jahren begann Birkenbihl in den USA Seminare zum Thema „Lernen lernen“ anzubieten. Ihre Methoden basierten auf dem Prinzip des gehirngerechten Lernens, das analytisches und kreatives Denken fördert.

Die Kerngedanken von Vera F. Birkenbihl

Birkenbihl war davon überzeugt, dass das Gehirn ein Lernorgan par excellence ist. Es lernt immer - nur nicht unbedingt das, was Lehrer oder Vorgesetzte gerne vermitteln möchten. Sie suchte nach allgemeingültigen Regeln, nach denen jedes Gehirn bei der Aufnahme und Verarbeitung von Informationen vorgeht, und fand dabei Hinweise, wie sich diese Vorgänge gezielt unterstützen lassen. Daraus entwickelte Birkenbihl ihr Konzept des gehirngerechten Lernens, mit dem ihr Name immer verbunden sein wird.

Ihr Ausgangspunkt sind die natürlichen Bedürfnisse des Gehirns, die die Lernexpertin Neuromechanismen nannte. Sie helfen dem Kopf nicht nur, neues Wissen zu verarbeiten, sondern reizen das Gehirn geradezu, sich mit einer Sache eingehender zu beschäftigen und zu lernen.

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Neuromechanismen des Lernens nach Birkenbihl

Das Gehirn mag Birkenbihl zufolge unter anderem:

  1. Assoziatives Denken: Die natürliche Art des Denkens ist assoziativ. Jede neue Information wird im Gehirn mit vorhandenen Inhalten abgeglichen, die in vernetzten Strukturen organisiert sind - und nicht linear-logisch, wie es in der Lehre meist vermittelt wird. Durch Assoziationen erschließen wir diese Netzwerke und bekommen so auch Zugang zu unserem passiven und unbewussten Wissen.
  2. Bedeutungen und Sinn zu suchen: Bei jeder Aufgabe oder Frage interpretiert das Gehirn automatisch die verfügbare Information, versucht Zusammenhänge herzustellen, füllt Lücken und vergleicht. Ist ein Sinn nicht erkennbar, ist das Gehirn frustriert und der Lernprozess gestoppt.
  3. Abstrahieren: Dabei leitet das Gehirn auch vollautomatisch und unbewusst Regeln ab. Besser als Menschen mit Regeln zu füttern ist es also, ihnen die Gelegenheit zu geben, sie selbst zu entdecken - vor allem beim Einstieg in eine Thematik.
  4. Muster suchen und finden: Ebenso automatisch versucht das Gehirn, ein Schema hinter den Dingen zu begreifen. Ist ein solches gefunden, reduziert sich die Unsicherheit und nächste Schritte lassen sich vorhersehen.
  5. Sofortiges Feedback: Wenn das Gehirn eine Aufgabe löst, möchte es sofort wissen, ob es richtig liegt. Je länger es auf Feedback warten muss, desto mehr schwindet sein Interesse an der richtigen Lösung - und damit seine Lernbereitschaft.

Angewandtes Wissen: Der Schlüssel zum Lernerfolg

Birkenbihl betonte die Anwendung von Wissen als Schlüssel zum erfolgreichen Lernen. Sie veranschaulichte das neuronale Netz unseres Gehirns als Geflecht aus Wissensfäden, die durch Anwendung dicker und stabiler werden. Für langfristige Lernerfolge ist die häufige Anwendung des Gelernten unerlässlich.

Intelligenz, Kreativität, Wissen und Bildungsstand sind kein unveränderlicher Zustand, sondern können wachsen. Unter dieser Prämisse entwickelte sie Lernsysteme und Gedächtnistrainings, die lebenslang wirken und allgemein anwendbar sind. Vorerfahrungen sind für den Erfolg der Methode nicht ausschlaggebend, vorausgesetzt die Methode wird langfristig befolgt. Damit erwirkte sie eine Demokratisierung des Wissens. Unter Kenntnis und Anwendung bestimmter Methoden ist es jedem und zu jeder Zeit möglich, sein Wissen zu vergrößern und langfristig anzuwenden.

Schule ohne Noten: Ein Plädoyer für gehirngerechtes Lernen

Vera F. Birkenbihl plädierte vorbehaltlos für eine Schule ohne Noten. Sie hielt eine demokratische Schule ohne Benotung für lernförderlich und positionierte sich damit gegen die bis heute gemeinhin übliche Schulpraxis. Viel wichtiger als die automatische Abrufbarkeit des Wissens für die Erlangung einer Note sei es, stabile neuronale Wissensverknüpfungen von langer Dauer zu schaffen. Die Noten in der Schule hingegen beziffern eine punktuelle Lernleistung, die bereits an den Folgetagen vergessen und häufig nie mehr aufgefrischt wird.

Letztlich widerspricht eine Benotung zu Schulzeiten Birkenbihls unerschütterlicher Überzeugung, dass Intelligenz, Kreativität und Wissen wachsen - und zwar nicht auf Abruf nach Prüfungszeit und -tag, sondern im kontinuierlichen Aufbau aufeinander, in der frühen Spezialisierung auf Talente und durch lebenslanges Lernen.

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Die Lernmethoden Birkenbihls: Ein Überblick

Birkenbihl entwickelte zahlreiche Lernmethoden und Techniken, die auf den Prinzipien des gehirngerechten Lernens basieren. Zu den bekanntesten gehören:

  • Die Birkenbihl Methode zum Sprachenlernen: Diese Methode basiert darauf, die gewünschte Sprache in den Alltag zu integrieren. Ein weiteres Element der Methode ist die „Dekodierung“, bei der fremdsprachige Texte Wort für Wort in die Muttersprache übersetzt werden. Birkenbihl legte großen Wert auf das Verständnis des Wissensnetzes im Gehirn. Dieses Netz, bestehend aus neuronalen Verbindungen, wird durch häufige Anwendung von Wissen gestärkt.
  • Die Analograffiti-Technik: Diese Technik ist eine Brainstorming-Methode, die beide Gehirnhälften vernetzt. Zu der Analograffiti-Technik gehören die KaGas-Methode, bei der Assoziationen gezeichnet werden, und die KaWas-Methode, bei der Wort-Assoziationen zu jedem Buchstaben eines Begriffes notiert werden.
  • Die ABC-Technik: Diese Technik hilft, den Wissensstand zu einem bestimmten Thema zu erfassen und zu erweitern. Eine Tabelle mit allen Buchstaben des Alphabets sollte ausgefüllt werden mit Assoziationen zu einem Wahlthema, das einem liegt bzw. zu dem die eigene Vorbildung möglichst groß ist. Der Reihe nach sollten nun Wörter mit den Anfangsbuchstaben von „A“ bis „Z“ gefunden und notiert werden. Felder durften leer bleiben, wenn nicht sogleich Einfälle folgen.

Gehirntraining mit der Theorie vom Wissensnetz

In ihren Aufzeichnungen und Vorträgen zum Gehirntraining legte Birkenbihl großen Wert auf einen Innenblick auf unser bereits bestehendes Wissensnetz. Das Wissensnetz verbildlicht die neuronalen Verbindungen, die sich im Gehirn mit unterschiedlicher Stärke aufgrund unserer Lernerfahrung, unseres derzeitigen Wissens und unserer Anwendung ausgebildet haben. Je mehr Wissen und praktische Anwendung Dinge/Probleme/Wissensfelder erfahren haben, desto stärker und langanhaltender sind sie im Gehirn ausgeprägt.

Wie unser Wissensnetz derzeit ausgebaut ist, wo die Stärken und Schwächen liegen, darauf gibt die Anzahl der Assoziationen, die uns zu irgendetwas einfallen, einen Hinweis. Je mehr Assoziationen uns zu einer Frage/Problem/Denkaufgabe einfallen, desto besser ist das Netz aufgebaut, desto mehr wissen wir folglich über dieses Thema Bescheid. Hier also liegt eine unserer Stärken.

Warum ist die Anzahl der Assoziationen und ihre Aktivierung wichtig? Einerseits für die Umwandlung von passivem in aktivem Wissen. Durch Assoziieren „rutschen“ passive Begriffe und passives Wissen (Wörter, die wir zwar kennen, aber nicht anwenden würden) ins aktive Gedächtnis, werden also nachfolgend auch aktiv verwendet. Das aktive Wissen steigt mit jeder „Erinnerung“ an bisher passiv erfasste Begriffe. Assoziationen bestimmen des Weiteren die Menge unserer Reaktionen, Ideen oder Impulse. Diese Menge wiederum entscheidet darüber, ob unsere Umwelt uns als „intelligent“ oder „kreativ“ wahrnimmt.

Die Birkenbihl Methode zum Sprachenlernen im Detail

Diese Methode, die Vera F. Birkenbihl entwickelte, beruhte im Kern darauf, die gewünschte Sprache überall und immerzu im Alltag anzuwenden. Bücher in der Originalsprache lesen. Sie plädierte dabei für ein „Baden“ und „Berauschen“ in der jeweiligen Sprache. Zu diesem Zweck ermutigte sie, akustische Sprachaufnahmen wie fremdsprachige Hör-CDs, Radio- oder Fernsehsendungen nebenher und immerzu über den Tag hinweg laufen zu lassen, ungeachtet der eigentlichen Haupttätigkeit. Diese passiven Spracheindrücke sah sie als ausschlaggebend an für eine Festigung der Fremdsprache. Dazu betonte sie, dass eine häufige Anwendung der Sprache für den Alltag, in Schrift und Sprache, unerlässlich sei. Das bis heute übliche Auswändiglernen von Vokabeln, das „Pauken“ von Verben und von Redewendungen steht konträr zur Birkenbihl-Methode.

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Weitere Techniken und Methoden von Vera F. Birkenbihl

Weiterhin entwickelte Vera F. Birkenbihl viele andere unterschiedliche Techniken. Sie stellte komplizierte Theorien in pointierter Form dar, komprimierte bibliotheksumfassendes Wissen und schmückte es mit Witz und gelegentlich auch Provokation: Neben der ABC-Methode, der KAGA- und KAWA-Methode und dem Wissensnetz tragen ihre Methoden Namen wie die Kügeli, den Lernberg, das Inselmodell, den Mückenschwarm. Durch ihre Denk-Techniken zeigte sie auf, wie man die Ausbeute der vorhandenen Wissens-Fäden erheblich erhöhen kann, sein Fachwissen methodisch vermehrt und eine sprudelnde Quelle der Informationen wird.

Parallelen zwischen Vera F. Birkenbihl und Maria Montessori

Auf den ersten Blick mögen Vera F. Birkenbihl, bekannte Managementtrainerin und Entwicklerin gehirn-gerechter Lernmethoden, und Maria Montessori, Pionierin der reformpädagogischen Bewegung, unterschiedlichen pädagogischen Strömungen angehören.

Sowohl Birkenbihl als auch Montessori lehnen reines Auswendiglernen ohne Verstehen ab. Während Montessori auf selbstentdeckendes, sinnlich erfahrbares Lernen setzt („Hilf mir, es selbst zu tun“), entwickelt Birkenbihl Methoden, die Informationen gehirn-gerecht aufbereiten - etwa durch Assoziationen, Visualisierungen oder Dekodierungstechniken, bei denen Lernende Inhalte in ihrer eigenen Sprache strukturieren.

Ein zentrales Element der Montessori-Pädagogik ist die freie Wahl der Lernmaterialien und -themen innerhalb vorbereiteter Umgebungen. Auch Birkenbihl betont, dass Lernen effektiver ist, wenn der Mensch das Tempo und die Methode mitbestimmen darf. In ihren Seminaren und Büchern ruft sie dazu auf, sich „erlauben zu dürfen“, Dinge anders zu lernen - mit Humor, Bildern, Skizzen oder Bewegungen.

Montessori spricht vom „Begriff durch die Hand“: Kinder begreifen im wahrsten Sinne des Wortes - mit Materialien, die sie manipulieren können. Diese körperlich-sinnliche Erfahrung verankert Wissen tief. Ähnlich wirkt Birkenbihls Ansatz, Lerninhalte durch aktives Tun zu verknüpfen - z. B. durch Mitschreiben in Symbolen, Zeichnen von Denkbildern oder das Erstellen von „KaWa“ (Kreativ-analytischen Wortassoziationsketten).

Ein weiterer Schnittpunkt ist die positive Haltung gegenüber Fehlern. Montessori sieht Fehler als Lernchance und integriert Selbstkontrolle in ihre Materialien. Birkenbihl betont: Fehler sind wichtige Hinweise und kein Scheitern.

Besonders deutlich wird die Nähe beim Sprachenlernen. Montessori setzt auf sprachliche Immersion im Alltag und konkrete Begriffe, die mit Handlungen verbunden sind. Birkenbihl empfiehlt beim Fremdsprachenerwerb das „aktive Hören“ mit zweisprachigen Dekodierungen, um unbewusst Sprachmuster aufzunehmen.

Obwohl Vera F. Birkenbihl und Maria Montessori aus verschiedenen pädagogischen Kontexten stammen, eint sie ein tiefes Vertrauen in die Lernfähigkeit des Menschen, wenn dieser selbstwirksam, spielerisch und sinnbasiert lernen darf.

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