Verstehenshypothese im Expertenstandard Demenz: Eine kritische Auseinandersetzung

Demenz stellt eine erhebliche Herausforderung für Betroffene, Angehörige und professionell Pflegende dar. Um den besonderen Bedürfnissen von Menschen mit Demenz gerecht zu werden, wurde der Expertenstandard „Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz“ entwickelt. Dieser Artikel beleuchtet das Konzept der personenzentrierten Pflege, die Erfahrungen mit dem Expertenstandard in der Praxis und die damit verbundenen Herausforderungen.

Hintergrund und Entwicklung des Expertenstandards

Der Expertenstandard „Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz“ wurde vom Deutschen Netzwerk für Qualitätssicherung in der Pflege (DNQP) in Kooperation mit dem Deutschen Pflegerat und mit finanzieller Förderung des Bundesministeriums für Gesundheit entwickelt. Die Publikation stieß in den einschlägigen Fachkreisen auf große Resonanz u.a. in Gestalt von vielen Veranstaltungen, Fortbildungen und Seminaren. Darüber hinaus entstanden Publikationen zur Erläuterung und Veranschaulichung der Inhalte. Er zielt darauf ab, die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz durch eine veränderte Perspektive, eine andere Haltung und bewusstes, empathisches Interagieren zu verbessern. Im Kern geht es darum, weg von einer funktionalen Ausrichtung hin zum Erhalt und zur Stärkung der Person zu gelangen.

Personenzentrierte Pflege als Grundlage

Der Expertenstandard basiert auf dem Konzept der personenzentrierten Pflege, das die individuellen Bedürfnisse, Wünsche und die Lebensgeschichte des Menschen mit Demenz in den Mittelpunkt stellt. Dieser Ansatz wurde bereits 1969 von Carl Rogers in der Gesprächstherapie benannt und kann zur Entwicklung eines positiven Selbstkonzeptes führen. Nach dem Demenzexperten Tom Kitwood können an Demenz Erkrankte nur in der Begegnung mit anderen wieder ein wenig Klarheit über sich selbst erlangen. Wenn dieses "Hilfs-Ich" fehlt, ist verstärkt mit schlechter Lebensqualität und herausforderndem Verhalten zu rechnen.

Das Demenz-Balance-Modell

Barbara Klee-Reiter hat das Demenz-Balance-Modell erarbeitet, um Pflegekräften zu helfen, sich besser in die Situation von Menschen mit Demenz einzufühlen. Dieses Modell berücksichtigt, dass Menschen mit Demenz zunehmend Kompetenzen verlieren, wodurch ihr Identitätsgefüge aus dem Gleichgewicht gerät.

Schwerpunkte des Expertenstandards

Der Expertenstandard unterscheidet fünf thematische Schwerpunkte:

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  1. Haltung und Kompetenz: Die Pflegekraft wird als "Hilfs-Ich" beschrieben, wobei die subjektiven Bedürfnisse der Menschen mit Demenz eine wichtige Rolle spielen. Aus der Interaktion heraus lassen sich Störungen und Bedarfe in der pflegerischen Beziehung gut einschätzen. Es werden Kriterien beschrieben (z. B. Krankheitseinsicht, Sprache, Aufmerksamkeit), die kognitive Veränderungen verlässlich erkennen lassen.
  2. Planung und Durchführung der Pflege: Wissen und Kompetenzen, die die Fachkraft mitbringen sollte, werden beschrieben. Hervorgehoben werden die kommunikativen Kompetenzen. In diesem Zusammenhang ist die Verstehenshypothese wichtig. Hierbei geht es darum, die Dinge aus Sicht der erkrankten Person zu rekonstruieren und sich in sie hineinzuversetzen. Aus dieser Perspektivenübernahme heraus wird dann die Pflege gestaltet. Die auf Kontrolle, Ordnung und Sauberkeit fokussierte Pflegekultur ist dabei nur bedingt kompatibel. Einrichtungen aber auch Aufsichtsbehörden müssen das erkennen.
  3. Anleitung, Schulung, Beratung: Durch einen proaktiven Beratungsansatz unterstützt der Expertenstandard Menschen mit Demenz und deren Angehörige, sich auf die Situation einzustellen und möglichst gut mit der Erkrankung zu leben. Im Idealfall teilen professionell Pflegende und Angehörige gemeinsam eine Sorgehaltung.
  4. Maßnahmen und Angebote: Wenn Pflegende beziehungsfördernde Angebote kennen, können sie situationsbedingt besser auf subjektive Realitäten wie zum Beispiel Halluzinationen oder Illusionen reagieren. Sie können eine Teilhabe am sozialen Leben und einen lebendigen Alltag gestalten. Die Selbstbestimmung des Betroffenen und seine Wünsche sind dabei der Maßstab.
  5. Evaluation: Die Evaluation ist täglich durchzuführen. Der persönliche Kontakt der verantwortlichen Pflegekraft mit dem an Demenz Erkrankten ist unabdingbar. Im Krankheitsverlauf wird es immer schwieriger, dass Personen mit Demenz Rückmeldungen geben und die Pflege bewerten können. Deshalb muss besonders auf nonverbale Anzeichen geachtet werden. So zum Beispiel mimische und gestische Reaktionen sowie die Körpersprache oder die Stimme. Pflegende können auch versuchen, über Beobachtung Stimmung und Affekt, Beziehung und Interaktion zu Mitmenschen, Betätigung und Eingebunden-Sein, Anzeichen für das Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit zu beurteilen. Entsprechende Indikatoren und Aspekte werden im Expertenstandard beschrieben. Die Ziele Reduzierung von Angst und Unruhezuständen sowie von Apathie und Depressivität ziehen sich durch alle Ebenen.

Die Verstehenshypothese im Detail

Ein zentrales Element des Expertenstandards ist die „Verstehenshypothese“. Sie basiert überwiegend auf einem bedürfnisorientierten Konzept, dem NDB-Modell („Need-Driven dementia-compromised Behavior“) nach Kolanowski. Nach diesem Ansatz beeinflussen bestimmte Einflussfaktoren (der neurologischer und sozialer Status, Gesundheitsaspekte, körperliche und psychische Bedürfnisse, personelle und räumliche Umgebung und psychosoziale Variablen) das Verhalten der Demenzkranken. Diese „verstehende Diagnostik“ sollte möglichst im Rahmen einer interdisziplinären Fallbesprechung unter Einbeziehung des „innovativen demenzorientierten Assessments“ (IdA) vollzogen werden. Das „IdA“-Instrument ist in zwei Bereiche unterteilt: „Erfassung des herausfordernden Verhaltens und seiner Effekte“ und dem Bereich der Ursachen für diese demenzspezifischen Verhaltensweisen mittels 14 Leitfragen.

Im Kern geht es darum, die Dinge aus der Sicht der erkrankten Person zu rekonstruieren und sich in sie hineinzuversetzen. Aus dieser Perspektivenübernahme heraus wird dann die Pflege gestaltet.

Beispiel aus der Praxis

Eine alte Dame, die im Flur einer Einrichtung unruhig auf und ab geht und vor sich hin murmelt, wird oft von anderen Bewohnern beschimpft. Eines Vormittags setzt sie sich auf die Kante eines Stuhls im Speisesaal und beginnt zu zählen. Mit den Fingern in der Luft zählt sie "2-3-5-8", schüttelt die Hand ärgerlich wegwerfend und fängt wieder an zu zählen, ihre Spannung steigt, die Stimme wird lauter. Die Betreuungskräfte besorgen kleine gelbe Ostereier-Plüschküken und packen diese in einen Korb. Wenn die alte Dame am späten Vormittag unruhig wird, wird sie an einen Tisch begleitet, ohne Kommentar, nur mit einem freundlichen, auffordernden Lächeln, der Korb voll Plüschküken vor sie platziert.

Kritik und Herausforderungen bei der Implementierung

Trotz der positiven Ansätze gibt es auch Kritik und Herausforderungen bei der Implementierung des Expertenstandards:

  • Fehlende Demenzspezifität: Kritiker bemängeln, dass der Standard auf einer abstrakten Vorstellung von einem „Person-sein“ basiert und somit keine neurodegenerativen Erkrankungen wie Demenzen einschließlich des Umgangs mit den einschlägigen Krankheitssymptomen erklären kann. Es fehlt das neurowissenschaftliche Substrat als Bezugsrahmen.
  • Praxisferne: Das Manko der Praxisferne zeigt sich auch in dem Unvermögen, die „Spreu vom Weizen“ bei den vielen Konzepten und Ansätzen in der Demenzpflege zu trennen.
  • Überforderung der Praxis: Die Forderung nach einer Evidenzbasierung der Pflegepraxis geht mit einer stetig steigenden Zahl von Forschungsprojekten einher und stellt die Pflegepraxis zunehmend vor Herausforderungen. Es besteht die Gefahr einer Überforderung der Praxisakteur*innen, was sich negativ auf die Anwendung evidenzbasierter Interventionen und ihre Akzeptanz auswirken kann.
  • Komplexität: Pflegekräfte haben häufig aufgrund der Komplexität von Expertenstandards Befürchtungen, dass der Expertenstandard zu theoretisch und zu abstrakt ist, als dass sie wirklich davon profitieren können.

Faktoren für eine erfolgreiche Implementierung

Um den Expertenstandard erfolgreich und nachhaltig zu implementieren, sind folgende Faktoren entscheidend:

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  • Spezialisierung und Vorwissen: Vorteilhaft ist es, wenn Einrichtungen bereits auf das zugrunde liegende Krankheitsbild spezialisiert sind und auf bestehende Einrichtungskonzepte und Vorwissen zurückgreifen können.
  • Offene Kommunikationskultur: Eine offene Kommunikationskultur innerhalb der Einrichtung trägt dazu bei, dass sich der Expertenstandard weiterentwickelt und in bestehende Strukturen einfließt. Hierzu sind Austauschmöglichkeiten für Mitarbeitende, wie z. B. Fallbesprechungen, entscheidend.
  • Flexible Organisationskultur: Förderlich ist weiter eine flexible Organisationskultur, die sich den Expertenstandardinhalten anpassen lässt und nicht durch starre Strukturen und Abläufe begrenzt ist.
  • Ausreichende Ressourcen: Neben ausreichend personellen und zeitlichen Ressourcen ist auch ein ausgereiftes Wissensmanagement entscheidend für eine nachhaltige Umsetzung.
  • Kontinuierliche Schulungen: Schulungen für alle Personen in der Einrichtung sollten kontinuierlich und dauerhaft angeboten sowie an den Bedürfnissen der Teilnehmenden ausgerichtet werden.
  • Vorleben der Inhalte: Es ist essenziell, dass das Wissen und die Inhalte des Expertenstandards vorgelebt werden. Zum Beispiel ist es essenziell, dass das Wissen und die Inhalte des Expertenstandards bei vorhanden Sprachbarrieren durch erfahrene Kolleg*innen vorgelebt werden.
  • Einbeziehung aller Mitarbeitenden: Der Einbezug aller Mitarbeitenden in den gesamten Implementierungsprozess sowie eine interne bzw. externe Prozessbegleitung sind weitere förderliche Faktoren.
  • Unterstützung durch die Führungsebene: Leitungskräfte müssen ihre Vorbildfunktion wahrnehmen und die Inhalte des Expertenstandards vorleben. Sie sind in alle Prozesse miteingebunden und dürfen sich nicht herausnehmen.

Maßnahmen zur Beziehungsförderung und -gestaltung

Der Expertenstandard beinhaltet auch konkrete Maßnahmen zur Beziehungsförderung und -gestaltung:

  • Reminiszenzarbeit: Hierbei werden alltagsgeschichtliche Aspekte wie die Moden, Lieder und Schlagermusik aus der Zeit der 30er und 40er Jahre des vorigen Jahrhunderts, also aus der Kinder- und Jugendzeit der Demenzkranken, vermittelt.
  • Beschäftigungsangebote: Gruppenaktivitäten wie Musik, Gymnastik und Kegeln, Beschäftigungswagen, Klinikclowns, 10-Minuten-Aktivierung, Malen, Andachten und Gottesdienste.
  • Alltagsgestaltung: Beispiele aus den Bereichen des Alltäglichen mit den Schwerpunkten Muße, Lebensweltorientierung, Wahrnehmungsförderung, Haustiere und auch Puppen und Stofftiere.
  • Spezielle Vorgehensweisen: Snoezelen, basale Stimulation, Validation und Realitätsorientierungstraining (ROT).

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