Thiamin, auch bekannt als Vitamin B1, ist ein essentieller, wasserlöslicher Nährstoff, der eine zentrale Rolle im Energiestoffwechsel des Körpers spielt. Da der menschliche Körper Thiamin nicht selbst produzieren und nur begrenzt speichern kann, ist eine regelmäßige Zufuhr über die Nahrung notwendig. In Mitteleuropa ist bei ausgewogener Ernährung die Thiaminversorgung in der Regel ausreichend, jedoch erreichen viele Menschen die empfohlene Tagesdosis nicht. Ein Thiaminmangel kann schwerwiegende Folgen haben, insbesondere für das Nervensystem und die Muskulatur. Dieser Artikel beleuchtet die Bedeutung von Vitamin B1, die Ursachen und Folgen eines Mangels sowie die therapeutischen Möglichkeiten, insbesondere im Zusammenhang mit Polyneuropathie.
Bedeutung von Thiamin (Vitamin B1)
Thiamin ist ein wichtiger Bestandteil des Vitamin-B-Komplexes und spielt eine entscheidende Rolle im Kohlenhydratstoffwechsel. Es ist als Coenzym an vielen Reaktionen beteiligt, die für die Energiegewinnung aus Kohlenhydraten notwendig sind. Im Körper liegt Thiamin hauptsächlich in gebundener Form als Thiaminpyrophosphat (TPP) vor, auch bekannt als Thiamindiphosphat (TDP).
Als "Nervenvitamin" ist Thiamin für die gesunde Funktion der Nervenzellen unerlässlich. Das Gehirn und die Nervenzellen sind in hohem Maße auf die Energiegewinnung aus Glukose angewiesen. Ein Mangel an Thiamin kann daher zu Störungen der Nervenfunktion führen. Die Umwandlung von Thiamin in TPP wird durch das Enzym Thiaminpyrophosphatase katalysiert, dessen Cofaktor Magnesium ist. Studien haben gezeigt, dass eine alleinige Thiaminsupplementation bei Magnesiummangel die neurologischen Beschwerden nicht verbessert, sondern eine begleitende Magnesiumsupplementation erforderlich ist.
Empfohlene Tagesdosis von Thiamin
Die D-A-CH-Fachgesellschaften (Gesellschaften für Ernährung in Deutschland, Österreich und der Schweiz) empfehlen folgende Mengen an Thiamin für gesunde Personen:
- Männer (19-24 Jahre): 1,3 mg/Tag
- Männer (25-65 Jahre): 1,2 mg/Tag
- Männer über 65 Jahre: 1,1 mg/Tag
- Frauen ab 19 Jahren: 1,0 mg/Tag
- Schwangere (2. Trimester): 1,2 mg/Tag
- Schwangere (3. Trimester): 1,3 mg/Tag
- Stillende: 1,3 mg/Tag
Laut der Nationalen Verzehrsstudie II (NVSII, 2008) liegt die durchschnittliche tägliche Thiaminzufuhr bei Männern bei 1,6 mg und bei Frauen bei 1,2 mg und damit über den D-A-CH-Empfehlungen. Allerdings erreichen 21 % der Männer und 32 % der Frauen die empfohlenen Tagesdosis nicht. Besonders bei älteren Frauen steigt der Anteil derer, die den Referenzwert nicht erreichen.
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Ursachen und Risikofaktoren für einen Thiaminmangel
Ein Thiaminmangel kann verschiedene Ursachen haben:
- Verminderte Aufnahme: Reduktionsdiäten, Essstörungen oder chronische Darmerkrankungen wie Morbus Crohn, Colitis ulcerosa und Zöliakie können die Aufnahme von Thiamin beeinträchtigen. Auch nach Darmteilentfernungen oder -operationen kann die Resorption vermindert sein.
- Erhöhter Bedarf: Schwangere und stillende Frauen, Leistungssportler und Menschen, die körperlich schwer arbeiten, haben einen erhöhten Thiaminbedarf. Patienten, die sich einer Hämodialyse unterziehen müssen, benötigen ebenfalls mehr Thiamin, da es bei der Dialyse aus dem Blut gefiltert wird.
- Erhöhte Ausscheidung: Die Einnahme von Diuretika ("Entwässerungstabletten") erhöht die Thiaminausscheidung über die Nieren.
- Diabetes mellitus: Diabetiker haben ein erhöhtes Risiko für einen Thiaminmangel, da ein erhöhter Blutzuckerspiegel den Vitamin B1-Bedarf steigert und die Ausscheidung über die Nieren erhöht.
- Alkoholabusus: Chronischer Alkoholkonsum kann zu einem Thiaminmangel führen, der das Wernicke-Korsakow-Syndrom verursachen kann.
Folgen eines Thiaminmangels
Ein Thiaminmangel kann vielfältige Symptome und Erkrankungen verursachen:
- Subklinischer Mangel: Unspezifische Symptome wie Muskelschwäche, verminderte Leistungsfähigkeit, erhöhte Reizbarkeit und leichte Depressionen.
- Manifestierter Mangel: Periphere Neuropathien mit Empfindungsstörungen (Kribbeln, Brennen, Taubheitsgefühl) vor allem in den Füßen, neuropathische Schmerzen, zerebrale Störungen (Schwindel, Gangunsicherheit, Bewusstseinsstörungen, Schlaflosigkeit, Leistungsschwäche), kognitive Störungen bis hin zur Demenz, kardiovaskuläre Störungen (Herzrhythmusstörungen, Herzinsuffizienz), Störungen im Magen-Darm-Trakt (Übelkeit, Erbrechen, Durchfall), Muskelschwäche, Muskelschmerzen und Muskelkrämpfe.
- Wernicke-Korsakow-Syndrom: Eine durch chronischen Alkoholabusus verursachte Erkrankung mit Pupillenstörungen, Nystagmus, Augenmuskellähmung, zerebellärer Ataxie, Verwirrtheitszuständen und Bewusstseinstrübungen bis hin zum Koma.
- Beri-Beri: Eine klassische Vitamin-B1-Mangel-Krankheit, die heute hauptsächlich in Entwicklungsländern vorkommt. Es gibt eine "trockene" Form mit neuropathischen und zerebralen Störungen und eine "feuchte" Form mit Herzinsuffizienz, Ödemen und Atembeschwerden.
- Diabetische Neuropathie: Insbesondere Diabetiker entwickeln eine diabetische Neuropathie, die zu einem diabetischen Fußsyndrom führen kann.
Vitamin B1 und Polyneuropathie
Polyneuropathie ist eine Erkrankung, die durch Schädigungen vieler Nerven gleichzeitig gekennzeichnet ist. Ein Vitamin-B1-Mangel kann eine Ursache oder ein verstärkender Faktor für Polyneuropathie sein. Insbesondere bei Diabetikern ist ein Thiaminmangel häufig und kann zur Entwicklung oder Verschlimmerung einer diabetischen Neuropathie beitragen.
Die diabetische Polyneuropathie (DSPN) ist die häufigste Form der diabetischen Neuropathie. Mehr als 30 % aller Diabetiker leiden an einer DSPN, die sich durch Kribbeln, Parästhesien, Taubheitsgefühle, Schmerzen, Stand- und Gangunsicherheit auszeichnet.
Therapeutische Anwendung von Thiamin und Benfotiamin
Thiamin bzw. Benfotiamin werden therapeutisch vor allem bei Neuropathien infolge eines Vitamin-B1-Mangels eingesetzt. Insbesondere Diabetiker und Menschen mit chronischem Alkoholabusus können von einer Thiaminsubstitution profitieren.
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Aufgrund seiner relativ langsamen Aufnahme und begrenzten Bioverfügbarkeit wird das wasserlösliche Thiamin im therapeutischen Bereich häufig durch Benfotiamin ersetzt. Benfotiamin ist eine fettlösliche Vorstufe von Thiamin, die vom Körper etwa 5-mal besser aufgenommen wird als wasserlösliches Thiamin. Benfotiamin gelangt aufgrund seiner lipidlöslichen Eigenschaften auch ohne Transporter direkt in die Zelle und wird dort in seine biologisch aktive Form, das Thiamindiphosphat, umgewandelt.
Studien haben gezeigt, dass Benfotiamin die neuropathischen Symptome wie Missempfindungen, Taubheitsgefühle und Schmerzen in den Füßen lindern kann. Auch bei Menschen mit chronischem Alkoholabusus konnte eine Thiaminsubstitution mittels Benfotiamin positive Effekte zeigen.
In Bezug auf Empfehlungen zur Tagesdosis zum Ausgleich eines Mangels können vor allem Studien zur Wirkungsweise von Benfotiamin bei Patienten mit diabetischer Polyneuropathie herangezogen werden. Hier liegen die Empfehlungen bei 300 bis 600 mg pro Tag.
Dosierungsempfehlungen für Benfotiamin
Die Dosierung von Benfotiamin hängt von der Art und Schwere des Vitamin-B1-Mangels ab:
- Zur Vorbeugung eines Vitamin-B1-Mangels: 1-mal täglich 1 Tablette (150 mg).
- Zur Behandlung eines Vitamin-B1-Mangels: 1-2 Tabletten (150-300 mg) täglich, in seltenen Fällen auch mehr.
- Bei Polyneuropathien durch Vitamin-B1-Mangel: Anfangs mindestens 2-mal täglich 1 Tablette (150 mg), in besonderen Fällen bis zu 3-mal täglich. Nach einem Zeitraum von mindestens 3 Wochen kann die Weiterbehandlung mit 1-2 Tabletten täglich erfolgen.
Weitere Therapieansätze bei Polyneuropathie
Neben der Behandlung mit Thiamin oder Benfotiamin gibt es weitere Therapieansätze bei Polyneuropathie:
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- Kausale Therapie: Bei diabetischer Polyneuropathie ist eine optimale Blutzuckereinstellung (orale Antidiabetika und/oder Insulin) sowie die Kontrolle und das Management von Risikofaktoren wie Hypertonie, Adipositas und Hyperlipidämie entscheidend.
- Pathogenetische Therapie: Alpha-Liponsäure kann zur Verbesserung der neuropathischen Symptomatik (Kribbeln, Taubheitsgefühle und Schmerzen) sowie der sensorischen und motorischen Nervenleitgeschwindigkeit eingesetzt werden.
- Symptomatische Therapie: Schmerzmittel, Antidepressiva oder Antikonvulsiva können zur Linderung der Schmerzen eingesetzt werden.
- Weitere Maßnahmen: Gesunde Ernährung, Stressmanagement, Bewegung, Entgiftung, Rotlicht-Therapie, Uridinmonophosphat (UMP), Magnesium, Vitamin B12, Vitamin D, Heilpflanzen (Kalmus, Estragon, Salbei, Kurkuma, Capsaicin, Helmkraut), Nachtkerzenöl, Rizinusöl-Packungen.
Ernährung und Vitamin-B1-Zufuhr
Eine ausgewogene Ernährung mit einer Vielzahl von Lebensmitteln ist wichtig, um den Vitamin-B1-Bedarf zu decken. Gute Vitamin-B1-Lieferanten sind:
- Vollkornprodukte (Vollkornbrot, Vollkornreis)
- Hülsenfrüchte (Erbsen, Linsen, Bohnen, Kichererbsen)
- Kartoffeln
- Schweinefleisch
- Innereien
- Hefe
- Nüsse
- Kerne und Samen
- Fisch
- Gemüse (Zucchini, Rosenkohl, Spargel, Spinat)
- Kakaopulver
Da Vitamin B1 hitzeempfindlich ist, sollten Lebensmittel schonend zubereitet werden (Dünsten, Garen, Dämpfen) oder roh verzehrt werden, um Vitaminverluste zu minimieren.
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