Epilepsie, oft als "Gewitter im Gehirn" bezeichnet, ist eine der häufigsten neurologischen Erkrankungen weltweit. In Deutschland sind etwa 400.000 bis 800.000 Menschen betroffen. Trotz moderner Antiepileptika (AED) bleibt ein Drittel der Betroffenen therapieresistent. Epilepsie ist keine einheitliche Erkrankung, sondern ein Sammelbegriff für verschiedene Zustände, die durch wiederkehrende, unprovozierte epileptische Anfälle gekennzeichnet sind. Diese Anfälle entstehen durch plötzliche, übermäßige elektrische Entladungen von Nervenzellen im Gehirn.
Die Symptomatik epileptischer Anfälle ist vielfältig und hängt maßgeblich davon ab, welche Hirnregion betroffen ist. Fokale Anfälle betreffen nur einen Teil des Gehirns und können mit oder ohne Bewusstseinsstörung einhergehen. Besonders gefährlich ist der Status epilepticus - ein Anfall, der länger als 5 Minuten andauert oder mehrere Anfälle ohne Erholung des Bewusstseins dazwischen. Die Ursachen für Epilepsie sind vielfältig. Bei etwa der Hälfte der Betroffenen lässt sich keine eindeutige Ursache identifizieren (idiopathische Epilepsie).
Vitamin B6-abhängige Epilepsien stellen eine spezielle Gruppe von Epilepsieformen dar, die auf Störungen im Vitamin B6-Stoffwechsel zurückzuführen sind. Sie manifestieren sich typischerweise im Säuglings- oder frühen Kindesalter und sind oft durch eine Therapieresistenz gegenüber herkömmlichen Antiepileptika gekennzeichnet.
Grundlagen von Vitamin B6
Unter der Bezeichnung Vitamin B6 werden verschiedene vitaminwirksame Verbindungen zusammengefasst, wie z. B. Pyridoxin, Pyridoxamin und Pyridoxal. Vitamin B6 gehört zu den wasserlöslichen Vitaminen und ist licht- und hitzeempfindlich. Es ist an einer Reihe von Stoffwechselprozessen beteiligt, u. a. am Aminosäure- und Kohlenhydratstoffwechsel sowie an der Bildung von Botenstoffen und dem B-Vitamin Niacin. Vitamin B6 reguliert gemeinsam mit den anderen B-Vitaminen Riboflavin, Folat und Vitamin B12 den Homocysteinstoffwechsel.
Der biologisch aktive Metabolit und damit einer der wichtigsten Kofaktoren im Körper ist Pyridoxal-5′-phosphat (P5P bzw. PLP). Vitamin B6 wird in NEM hauptsächlich in zwei verschiedenen Formen eingesetzt. Die Verbindung P5P ist die einzige B6-Form, die als Kofaktor genutzt werden kann. Das bedeutet, dass jede der vorher genannten Vitamin B6-Formen vom Körper zunächst in P5P umgewandelt werden muss.
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Bedeutung von Pyridoxal-5′-phosphat (PLP)
Pyridoxal-5′-phosphat (PLP) spielt eine zentrale Rolle im Aminosäurestoffwechsel und ist essenziell für die Synthese des Neurotransmitters Gammaaminobuttersäure (GABA). Bei der Bildung von GABA aus Glutamat übernimmt das PALP-abhängige Enzym Glutamatdecarboxylase den geschwindigkeitsbestimmenden Schritt. GABA ist ein wichtiger inhibitorischer Neurotransmitter im ZNS. Ein Mangel an PLP kann somit die Erregbarkeit im Gehirn erhöhen und zu Anfällen führen.
Ursachen von Vitamin B6-abhängiger Epilepsie
Die Ursachen für Vitamin B6-abhängige Epilepsien sind vielfältig und können in genetische Defekte im Vitamin B6-Stoffwechsel, Störungen der PLP-Synthese oder des PLP-Transports unterteilt werden.
Grundsätzlich können Defekte mit PLP-Inaktivierung (Antiquitinmangel und Hyperprolinämie Typ II) von gestörter PLP-Synthese (PNPO-Mangel), gestörter intrazellulärer Aufnahme (kongenitale Hypo- und Hyperphosphatasie) oder intrazellulärer PLP-Homöostase (PLP-BP, PLP-binding-protein [früher PROSC - PROline Synthase Cotranscribed bacterial homolog protein] Mangel) unterschieden werden.
Einige der wichtigsten Ursachen sind:
- Antiquitinmangel: Die Mehrheit pyridoxinabhängiger Anfälle wird durch den Antiquitinmangel im Abbau der Aminosäure Lysin verursacht. Zerebral akkumulierendes Piperidein-6-Carboxylat (P6C) führt zu einer Inaktivierung von PLP und damit zu hyperphysiologischem Bedarf an Vitamin B6.
- PNPO-Mangel: Bei Defekt der PNPO kommt es zu einem systemischen PLP-Mangel. Die klinische Präsentation zeigt starke Überlappung mit dem Antiquitinmangel, allerdings besteht bei PNPO-Mangel eine höhere Tendenz zu Frühgeburtlichkeit sowie postpartaler Gedeihstörung und Anämie.
- Kongenitale Hypophosphatasie: Die kongenitale Hypophosphatasie beruht auf einem Mangel der gewebsunspezifischen alkalischen Phosphatase (AP) mit massiv erniedrigter AP im Plasma. Neben der Schlüsselfunktion in der Knochenmineralisation regelt dieses Enzym die intrazelluläre Aufnahme von PLP.
- PLP-BP-Mangel: Das PLP-binding-protein (PLP-BP) reguliert die intrazelluläre PLP-Konzentration und PLP-Verfügbarkeit für Apoenzyme. Der PLP-BP-Mangel hat keinen Biomarker und muss bei positivem Pyridoxin- oder PLP-Response jedoch negativer Testung von AASA und Pyridoxamin, primär genetisch identifiziert werden.
Diagnostik
Bei jedem Neugeborenen mit ätiologisch unklaren und vor allem therapieresistenten Anfällen sollte ein standardisierter Therapieversuch mit Pyridoxin, 30 mg/kg KG/Tag in 2 Einzeldosen (ED) p.o. oder i.v. über 3 Tage erfolgen. Bei Ineffektivität ist ein Umstellen auf PLP, 30-50 mg/kg KG/Tag in 4-6 ED p.o. empfohlen.
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Die Diagnostik von Vitamin B6-abhängiger Epilepsie umfasst:
- Anamnese und klinische Untersuchung: Erhebung der Krankengeschichte und Beurteilung der klinischen Symptome.
- EEG: Elektroenzephalografie zur Aufzeichnung der Hirnströme und Identifizierung epileptischer Aktivität. Das EEG ist variabel mit diffuser Verlangsamung bis hin zum Burst-Suppression-Muster.
- MRT: Magnetresonanztomografie des Gehirns zum Ausschluss struktureller Ursachen. Die MRT kann eine Megacisterna magna oder partielle Agenesie des Corpus callosum zeigen.
- Laboruntersuchungen:
- Bestimmung von Vitamin B6-Spiegeln im Plasma und Urin
- α-Aminoadipin-Semialdehyds (AASA) im Urin sowie der Pipecolinsäure im Plasma stehen für den Antiquitinmangel zuverlässige Biomarker zur Verfügung.
- Erhöhtes Pyridoxamin im Plasma ist ein zuverlässiger Biomarker, unabhängig von einer laufenden Vitamin-B6-Therapie.
- Messung der alkalischen Phosphatase im Plasma
- Analyse von Aminosäuren und Neurotransmittern im Liquor
- Genetische Untersuchungen: Molekulargenetische Analyse zur Identifizierung spezifischer Gendefekte
Tab. 1 zeigt die relevanten Biomarker der verschiedenen Entitäten, welche, vom PLP-BP-Mangel abgesehen, als Wegweiser für die molekulargenetische Untersuchung dienen. Auffälligkeiten im Plasmaaminogramm sowie der Neurotransmitteranalyse sind sekundär und nur inkonstant nachweisbar.
Therapie
Die Therapie der Vitamin B6-abhängigen Epilepsie basiert auf der Gabe von Vitamin B6 in Form von Pyridoxin oder Pyridoxal-5′-phosphat (PLP). Die Dosierung richtet sich nach der Ursache der Erkrankung und dem individuellen Bedarf des Patienten.
Die Gabe von Pyridoxin, 30 mg/kg KG als Einzeldosis p.o. oder i.v., führt bei 85 % der Patienten zu einem prompten Sistieren der Anfälle. Zur Erkennung von sog. late respondern ist eine Testphase mit 30 mg/kg KG/Tag über 3 Tage empfohlen.
Patienten mit klassischem PNPO-Mangel zeigen kein Ansprechen auf Pyridoxin, jedoch promptes Sistieren der Anfälle auf Pyridoxal-5′-Phosphat (PLP). Die übliche Testdosis beträgt 30-50 mg/kg KG/Tag über 3 Tage. Auch hier kann es bei Erstanwendung zu schweren Apnoen kommen. PNPO-Patienten benötigen häufig höhere PLP-Dosen von 30-50 mg/kg KG/Tag in 4-5 ED. Die Substanz soll unmittelbar vor Verabreichung aufgelöst werden.
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In der Langzeittherapie sollten wegen der Gefahr einer peripheren Neuropathie Pyridoxindosen von 300 mg (bis max. 500 mg/Tag) nicht überschritten werden.
Ein Add-on-Versuch mit Folinsäure, 3-5 mg/kg KG/Tag erscheint bei instabiler Anfallssituation, gerade bei Neugeborenen unter Vitamin-B6-Monotherapie indiziert.
Für die systemische Therapie der kongenitalen Hypophosphatasie steht seit kurzem eine rekombinante Enzymersatztherapie (EET) zur Verfügung.
Wichtige Hinweise zur Therapie
- Vor einer medikamentösen Umstellung oder dem Absetzen von Antiepileptika sollte immer ein Arzt konsultiert werden.
- Bei Erstapplikation von Pyridoxin oder PLP sind schwere Apnoen möglich, eine simultane EEG-Ableitung ist nicht erforderlich.
- Unter PLP-Dauertherapie ist die regelmäßige Kontrolle der Transaminasen sowie Sonografie der Leber empfohlen.
- In nachfolgenden Schwangerschaften kann die Einnahme von Pyridoxin, 100 mg/Tag p.o., im Sinne einer intrauterinen Behandlung erfolgen.
Weitere Therapieansätze
Neben der Vitamin B6-Substitution können weitere Therapieansätze in Betracht gezogen werden:
- Lysinreduzierte Diät: Beim Antiquitinmangel kann eine lysinreduzierte Diät ab dem Säuglingsalter in Kombination mit einer hochdosierten Arginintherapie zur kompetitiven Hemmung des Lysintransportes über die Blut-Hirnschranke erwogen werden.
- Antiepileptika: In einigen Fällen kann eine zusätzliche Behandlung mit Antiepileptika erforderlich sein, um die Anfallskontrolle zu verbessern.
- Folsäuresubstitution: Ein Add-on-Versuch mit Folinsäure, 3-5 mg/kg KG/Tag erscheint bei instabiler Anfallssituation, gerade bei Neugeborenen unter Vitamin-B6-Monotherapie indiziert.
Prognose
Die Prognose von Vitamin B6-abhängiger Epilepsie hängt von der zugrunde liegenden Ursache, dem Zeitpunkt der Diagnose und dem Beginn der Therapie ab. Bei frühzeitiger Diagnose und adäquater Behandlung mit Vitamin B6 können die Anfälle in der Regel gut kontrolliert werden. Allerdings zeigen lediglich 25 % der Patienten eine kognitiv unauffällige Entwicklung.