Was passiert im Gehirn beim Absetzen von Antidepressiva?

Antidepressiva sind weit verbreitete Medikamente zur Behandlung von Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen. Obwohl sie wirksam sein können, ist es wichtig zu verstehen, was im Gehirn passiert, wenn man sie absetzt. Das Absetzen von Antidepressiva kann nämlich zu verschiedenen Symptomen führen, die als Absetzsyndrom bekannt sind. Dieser Artikel beleuchtet die komplexen Vorgänge im Gehirn beim Absetzen von Antidepressiva, die Symptome, die auftreten können, und wie man das Absetzen sicher und effektiv gestalten kann.

Antidepressiva: Wirkung und Anwendungsgebiete

Antidepressiva sind Medikamente, die hauptsächlich zur Behandlung von Depressionen eingesetzt werden. Sie finden aber auch Anwendung bei anderen psychischen Erkrankungen wie Angst- und Zwangsstörungen. Antidepressiva beeinflussen die Signalübertragung zwischen den Nervenzellen im Gehirn, indem sie in den Hirnstoffwechsel eingreifen.

Es gibt verschiedene Arten von Antidepressiva, die auf unterschiedliche Weise wirken. Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer (SSRI) erhöhen beispielsweise die Konzentration von Serotonin im synaptischen Spalt, indem sie die Wiederaufnahme von Serotonin in die Nervenzellen hemmen. Andere Antidepressiva beeinflussen auch andere Botenstoffe wie Noradrenalin und Dopamin.

Das Absetzsyndrom: Eine Anpassungsreaktion des Gehirns

Das Absetzen von Antidepressiva kann zu einer Reihe von Symptomen führen, die als Absetzsyndrom bezeichnet werden. Diese Symptome sind ein Ausdruck der Anpassung des Gehirns an die pharmakologische Intervention durch die Antidepressiva. Das Gehirn reagiert auf die medikamentöse Behandlung mit Gegenprozessen, die beim Absetzen zu einem Ungleichgewicht und Entzugssymptomen führen können.

Mindestens jede sechste bis siebte Person, die ein Antidepressivum absetzt, erlebt Absetz- und Entzugssyndrome. Es ist wichtig zu betonen, dass Antidepressiva nicht süchtig machen wie Alkohol, Opiate oder Kokain. Es gibt kein psychologisches Verlangen, das Medikament immer wieder einzunehmen. Daher sind die Begriffe Absetzerscheinungen und Absetzsymptome treffender als Entzugserscheinungen.

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Ursachen und Mechanismen des Absetzsyndroms

Die genauen Mechanismen, die zum Absetzsyndrom führen, sind noch nicht vollständig geklärt. Es wird jedoch angenommen, dass Veränderungen in den Neurotransmittersystemen des Gehirns eine wichtige Rolle spielen.

  • Serotonin: SSRI blockieren den Serotonin-Transporter, wodurch sich die Serotonin-Konzentration im synaptischen Spalt erhöht. Das Gehirn passt sich an dieses vermehrte Angebot an Serotonin an, indem es die Anzahl und Empfindlichkeit der Serotoninrezeptoren reduziert. Wenn das Medikament abgesetzt wird, wird der Serotonin-Transporter nicht mehr blockiert, und die Serotonin-Konzentration sinkt wieder. Da sich die Rezeptoren nicht sofort anpassen, entsteht ein Ungleichgewicht, das zu Symptomen wie Schlafstörungen und Magen-Darm-Problemen führen kann.
  • Noradrenalin: Einige Antidepressiva, wie selektive Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SSNRI), hemmen auch die Wiederaufnahme von Noradrenalin. Das Absetzen dieser Medikamente kann ebenfalls zu einem Ungleichgewicht im Noradrenalin-System führen.
  • REM-Schlaf: Antidepressiva können den REM-Schlaf unterdrücken, was Lernprozesse und die Gedächtniskonsolidierung beeinträchtigen kann. Das Absetzen von Antidepressiva kann daher auch Auswirkungen auf den Schlaf und die kognitiven Funktionen haben.

Symptome des Absetzsyndroms

Die Symptome des Absetzsyndroms können vielfältig sein und variieren je nach Art des Antidepressivums, der Dosierung, der Dauer der Einnahme und individuellen Faktoren. Einige häufige Symptome sind:

  • Körperliche Symptome: Grippeähnliche Symptome, Übelkeit, Erbrechen, Durchfall, Kopfschmerzen, Schwindel, Gleichgewichtsstörungen, Müdigkeit, Muskelschmerzen, Kribbeln oder "elektrische Schläge" im Körper.
  • Psychische Symptome: Schlafstörungen, Angstzustände, Reizbarkeit, Stimmungsschwankungen, Depressionen, Konzentrationsschwierigkeiten, Verwirrung, Suizidgedanken.

Die Symptome treten in der Regel innerhalb von 2 bis 4 Tagen nach dem Absetzen auf und können einige Wochen andauern. In einigen Fällen können die Symptome jedoch länger anhalten oder sogar chronisch werden.

Differenzialdiagnose: Absetzsyndrom oder Rückfall?

Es ist wichtig, zwischen einem Absetzsyndrom und einem Rückfall der Depression zu unterscheiden. Ein Absetzsyndrom ist eine vorübergehende Reaktion auf das Absetzen des Medikaments, während ein Rückfall eine Wiederkehr der ursprünglichen depressiven Symptome ist.

Einige Symptome des Absetzsyndroms können denen einer Depression ähneln, wie z. B. Angstzustände, Reizbarkeit und Schlafstörungen. Es gibt jedoch auch Symptome, die eher für das Absetzsyndrom typisch sind, wie z. B. grippeähnliche Symptome, Schwindel und "elektrische Schläge".

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Wenn die Symptome nach dem Absetzen des Antidepressivums auftreten und sich innerhalb weniger Wochen bessern, handelt es sich wahrscheinlich um ein Absetzsyndrom. Wenn die Symptome jedoch anhalten oder sich verschlimmern und die ursprünglichen depressiven Symptome wieder auftreten, ist es wahrscheinlicher, dass es sich um einen Rückfall handelt.

Risikofaktoren für ein Absetzsyndrom

Einige Faktoren können das Risiko für ein Absetzsyndrom erhöhen:

  • Art des Antidepressivums: Einige Antidepressiva, wie Paroxetin und Venlafaxin, sind eher mit einem Absetzsyndrom verbunden als andere. Antidepressiva mit einer kurzen Halbwertszeit haben ebenfalls ein höheres Risiko.
  • Dosierung: Höhere Dosierungen von Antidepressiva können das Risiko für ein Absetzsyndrom erhöhen.
  • Dauer der Einnahme: Je länger ein Antidepressivum eingenommen wurde, desto wahrscheinlicher ist es, dass ein Absetzsyndrom auftritt.
  • Schnelles Absetzen: Ein abruptes Absetzen von Antidepressiva erhöht das Risiko für ein Absetzsyndrom erheblich.
  • Individuelle Faktoren: Einige Menschen sind anfälliger für ein Absetzsyndrom als andere.

Sicheres Absetzen von Antidepressiva

Das Absetzen von Antidepressiva sollte immer in Absprache mit einem Arzt erfolgen. Der Arzt kann helfen, einen individuellen Plan zum Ausschleichen des Medikaments zu erstellen, um das Risiko für ein Absetzsyndrom zu minimieren.

  • Ausschleichen: Das Antidepressivum sollte langsam und schrittweise reduziert werden. Die Dosis wird über einen Zeitraum von mehreren Wochen oder Monaten reduziert, um dem Gehirn Zeit zu geben, sich anzupassen.
  • Individueller Plan: Der Ausschleichplan sollte auf die individuellen Bedürfnisse und Umstände des Patienten zugeschnitten sein. Faktoren wie die Art des Antidepressivums, die Dosierung, die Dauer der Einnahme und die individuellen Symptome sollten berücksichtigt werden.
  • Regelmäßige Arztbesuche: Während des Absetzens sind regelmäßige Arztbesuche wichtig, um den Fortschritt zu überwachen und bei Bedarf Anpassungen am Plan vorzunehmen.
  • Symptommanagement: Wenn Absetzsymptome auftreten, können diese mit verschiedenen Strategien behandelt werden, wie z. B. symptomatische Medikamente, Entspannungstechniken und Psychotherapie.

Langfristige Auswirkungen des Absetzens

Das Absetzen von Antidepressiva kann nicht nur kurzfristige Entzugssymptome verursachen, sondern auch langfristige Auswirkungen auf den Krankheitsverlauf haben. Einige Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass das Absetzen von Antidepressiva das Risiko für einen Rückfall der Depression erhöhen kann.

Eine Metaanalyse ergab, dass depressive Patienten, die unter Antidepressiva remittierten, nach Absetzen häufiger Rückfälle erlitten als Patienten, die unter Placebo remittiert waren. Das Risiko war dabei höher für Antidepressiva mit starker Veränderung der monoaminergen Neurotransmission.

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Es ist daher wichtig, die langfristigen Folgen des Absetzens von Antidepressiva zu berücksichtigen und eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung vorzunehmen.

Toleranzentwicklung und Therapieresistenz

Ein weiteres Problem, das in der Praxis häufig beobachtet wird, ist die Entwicklung einer Toleranz gegenüber Antidepressiva. Studien zeigen, dass bis zu 30 % der Patienten eine Toleranz entwickeln, was zu einem Wirkungsverlust der Medikamente führen kann. Dies kann auch die Entwicklung einer Therapieresistenz begünstigen, bei der Patienten auf keine weitere medikamentöse Intervention mehr ansprechen.

Alternativen zu Antidepressiva

Bei leichten Depressionen können auch zunächst unterstützende Angebote aus dem Bereich Selbstmanagement gemacht werden. Bessert sich die Depression nicht oder gab es bereits früher schwerere Depressionen, dann muss individuell entschieden werden, ob mit Antidepressiva, Psychotherapie oder einer Kombination aus beiden behandelt wird.

In der Behandlung leichter und mittelschwerer Depressionen können auch Johanniskrautpräparate zum Einsatz kommen. Hinweise auf eine antidepressive Wirksamkeit liegen aber nur für einige hoch dosierte Präparate vor, und auch nicht für die Behandlung schwerer Depressionen. Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten sind wie bei anderen Antidepressiva auch bei Johanniskrautpräparaten zu beachten.

Ketamin wird seit Längerem als Narkosemittel eingesetzt. Eine Form des Ketamins, das sogenannte Esketamin hat in der Forschung eine rasche antidepressive Wirkung gezeigt. Es ist deshalb als Nasenspray in Europa zur Depressionsbehandlung Erwachsener zugelassen. Allerdings nur, wenn die Behandlung mit mindestens zwei verschiedenen Antidepressiva keine ausreichende Besserung gebracht hat. Weiterhin darf das Nasenspray zur kurzfristigen Notfallbehandlung eingesetzt werden. Esketamin wird immer in Kombination mit Antidepressiva angewendet.

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