Was unser Gehirn beim Lesen alles leistet: Studien und Erkenntnisse

Lesen und Schreiben sind für uns selbstverständlich geworden. Doch wie bewältigt unser Gehirn diese komplexe Aufgabe, die evolutionär gesehen noch nicht sehr alt ist? Die Forschung liefert faszinierende Einblicke in die neuronalen Prozesse, die beim Lesen ablaufen, und zeigt, wie diese Fähigkeit unsere Wahrnehmung, unser Denken und sogar unsere Gehirnstruktur verändert.

Die Komplexität des Lesens und Schreibens

Lesen und Schreiben erfordern eine präzise Abstimmung zahlreicher Wahrnehmungs- und Denkfunktionen. Dazu gehören grundlegende visuelle Fähigkeiten, phonologische Wahrnehmung, Langzeit- und Arbeitsgedächtnis und vieles mehr. Es braucht jahrelanges Training, bis sich diese Fähigkeiten so tief einprägen, dass wir sie mühelos beherrschen.

Falk Huettig vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik betont, dass sich durch das Lesen und Schreiben die Struktur und Funktion des menschlichen Gehirns verändern. Die Forschung konzentriert sich auf die Voraussetzungen für das Erlernen des Lesens und Schreibens und darauf, wie diese Fähigkeit unsere Wahrnehmung und unser Denken beeinflusst.

Auswirkungen des Lesens auf die kognitive Entwicklung

José Morais von der Universität Brüssel hat festgestellt, dass Lesen die phonologische Bewusstheit deutlich verbessert, also die Fähigkeit, bestimmte Lautstrukturen der Sprache zu erkennen. Menschen mit Lese-Rechtschreib-Störungen (LRS) haben oft Schwierigkeiten, diese Strukturen zu unterscheiden.

Falk Huettig und seine Kollegen haben weitere Effekte identifiziert, die für LRS kennzeichnend sind, aber auch bei Analphabeten beobachtet werden können. Dazu gehören die Wahrnehmung von Kategorien, das verbale Kurzzeitgedächtnis, die Fähigkeit, Pseudowörter zu wiederholen, Bilder, Farben und Symbole schnell zu benennen oder vorherzusagen, wie ein gesprochener Satz weitergehen könnte.

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Der Vergleich zwischen Analphabeten und geübten Lesern zeigt immer wieder, wie sehr das Lesenlernen unser Gehirn verändert. Menschen, die nicht oder kaum lesen können, haben nicht nur größere Schwierigkeiten, Buchstabenfolgen zu analysieren, sondern auch Bildstrecken aufzugliedern.

Die Bedeutung der Alphabetisierung

Weltweit sind nach Angaben der UNESCO nach wie vor 15 Prozent der Menschen Analphabeten. Dies schränkt nicht nur sie selbst ein, sondern die Menschheit als Ganzes. José Morais argumentiert, dass Alphabetisierung nicht endet, wenn Kinder und Jugendliche Lesen gelernt haben, sondern dass das dauerhafte und tiefgehende Auswirkungen auf ihr Denken und Wissen hat.

Die Fähigkeit zum Lesen und Schreiben ist die Voraussetzung für die Analyse von komplexen Problemen und für einen Strom von Ideen und kritischem Denken. Sie ermöglicht eine sachlich fundierte öffentliche Debatte und eine sinnvolle kollektive Entscheidungsfindung.

Wie Lesen das Gehirn verändert

Forscher des Max-Planck-Instituts fanden heraus, dass sich die Verknüpfungen im Gehirn durch das Lesen erhöhen. Einzelne Bereiche werden besonders stimuliert und gestärkt, wie die Großhirnrinde oder die Verbindung zwischen Sehrinde und Thalamus. Vielleser können daher besser zwischen wichtigen und unwichtigen Informationen unterscheiden.

Ein Team von Hirnforschern des "College de France" in Paris fand heraus, dass belletristisches Lesen die linke Gehirnhälfte im Besonderen anspricht und die Handlungen der Bücher dadurch im Gehirn als simulierte Situationen verbucht werden. Dies führt zu einer erhöhten Fähigkeit zum Perspektivwechsel und verbesserten sozialen Kompetenzen.

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Lesen als Prävention und Therapie

Lesen soll eine vorbeugende Wirkung in Bezug auf eine mögliche Demenzerkrankung haben. Wer sein ganzes Leben geistig aktiv war, schützt sein Gehirn vor dem frühen Abbau. Lesen wird auch als Therapiemethode eingesetzt, das sogenannte "shared reading" (geteiltes Lesen). Durch eine bewusste Literaturauswahl können Therapeuten zur Reflektion des eigenen sozialen Handelns anregen und Konfliktsituationen bearbeiten.

Tiefgreifende Veränderungen im Gehirn durch Lesenlernen

Eine Studie mit indischen Analphabetinnen hat gezeigt, dass das Lesenlernen nicht nur die Funktion der Großhirnrinde verändert, sondern auch Umstrukturierungen in Gang setzt, die bis in den Thalamus und den Hirnstamm hineinreichen. Bestimmte Areale im Hirnstamm und im Thalamus passen ihre Aktivitätsmuster im Laufe der Zeit enger an die Feuerrate der Sehzentren in der Großhirnrinde an und übernehmen Assistenzaufgaben beim Entziffern der Schrift.

Michael Skeide vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften vermutet, dass die Areale am Hirnstamm zudem die Augenbewegungen koordinieren helfen, mit denen wir die Buchstaben fixieren.

Neue Erkenntnisse über Lese-Rechtschreib-Schwäche

Die Studie könnte auch ein neues Licht auf die Lese-Rechtschreib-Schwäche werfen. Bisher wurde spekuliert, dass angeborene Fehlfunktionen im Thalamus eine Rolle spielen könnten. Angesichts der jetzt festgestellten Plastizität dieser Areale bezweifeln Skeide und seine Kollegen dies jedoch.

Sprachverarbeitung im Gehirn: Tübinger Studie

Ein Forschungsteam um Professor Dr. Markus Siegel von der Universität Tübingen hat untersucht, ob der Inhalt und die Produktion von Sprache im Gehirn getrennt verarbeitet werden. Mithilfe der Magnetoenzephalographie (MEG) gelang es den Forschern, in der Hirnaktivität den Inhalt unabhängig von der motorischen Produktion zu identifizieren und vorherzusagen, welchen von zwei feststehenden Lauten die Probanden gleich äußern würden.

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Die Ergebnisse der Studie liefern grundlegende Erkenntnisse über die neuronalen Prozesse, die der Produktion von Sprache zugrunde liegen und könnten langfristig dazu beitragen, Sprachprothesen zu entwickeln und effizienter zu machen.

Lesen für ein längeres und gesünderes Leben

Lesen lindert Stress, fördert Entspannung und kann das Risiko für eine Demenz senken. Eine US-amerikanische Studie hat gezeigt, dass eifrige Leser im Durchschnitt 23 Monate länger leben als Personen, die keine Bücher lesen. Lesen steigert nicht nur die Lebensqualität, sondern auch die Lebenserwartung.

Was bewirkt Lesen im Gehirn?

An der Emory University in Atlanta haben Forschende zeigen können, dass das Lesen im Gehirn sogar auf biologischer Ebene Spuren hinterlässt. In einem Gehirnbereich, der für die Aufnahme von Sprache zuständig ist, war die Konnektivität erhöht. Das heißt, der Informationsfluss der Neuronen funktionierte besser. Das Gleiche galt für die Zentralfurche des Gehirns (Sulcus centralis), die mit Körperempfindungen in Verbindung gebracht wird.

Lesen vs. Fernsehen

Während regelmäßiges Lesen Demenz womöglich vorbeugen kann, fördert Fernsehen die Gehirntätigkeit anscheinend nicht im positiven Sinne. Eine Langzeitstudie hat Hinweise darauf gefunden, dass intensiver Fernsehkonsum das Risiko für eine Demenz erhöhen könnte, weil es vermutlich dazu beiträgt, dass Gehirnzellen früher absterben.

Motivation zum Lesen

Um selbst mehr zu lesen oder Kinder zum Lesen zu motivieren, ist es wichtig, Bücher zu Themen zu finden, die wirklich interessieren. Lesen sollte regelmäßig in den Alltag eingebaut und so zur Gewohnheit gemacht werden. Bei Kindern ist es sinnvoll, Lesen mit einem Ritual zu verbinden und kleine Ziele zu setzen.

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