Die Wirkung von Skorpiongift auf das Nervensystem

Skorpionstiche sind ein medizinisches Problem, das weltweit vorkommt. Während die meisten Skorpionstiche nur lokale Schmerzen verursachen, können einige Arten schwere systemische Wirkungen haben, insbesondere auf das Herz-Kreislauf-System und das Nervensystem. Dieser Artikel bietet einen umfassenden Überblick über die Wirkung von Skorpiongift auf das Nervensystem, die Symptome von Skorpionstichen und die verfügbaren Behandlungen.

Einleitung

Skorpione sind Spinnentiere, die in vielen Teilen der Welt vorkommen. Es gibt etwa 1500 verschiedene Skorpionarten, von denen neun in Europa vorkommen. In Deutschland gibt es keine Skorpione, aber in Österreich, der Schweiz und Italien kann man die harmlose Gattung Euscorpius finden. Medizinisch gefährliche Skorpione gehören fast ausschließlich zur Familie Buthidae, wobei nur etwa 15 Gattungen von medizinisch-epidemiologischer Bedeutung zu sein scheinen.

Skorpionstiche sind weltweit gesehen nach Schlangenbissen und Bienen- und Wespenstichen die häufigste Ursache für Vergiftungen durch Tiergifte. Allein in Mexiko starben innerhalb von zwölf Jahren 20.352 Menschen durch Skorpionstiche. Am meisten gefährdet sind Kleinkinder und durch Alter oder Krankheit geschwächte Personen.

Allgemeine Symptomatik nach Skorpionstichen

Nach jedem Skorpionstich sind lokale Schmerzen am Verletzungsort zu erwarten. Die Lokalsymptomatik beginnt gewöhnlich direkt nach dem Stich und erreicht oft schon nach fünf Minuten das Schmerzmaximum. Die Schmerzintensität ist bei ungefährlichen Arten einem Wespenstich vergleichbar, erreicht aber bei den gefährlichen Arten starke bis stärkste Intensität und kann auch über Tage anhalten.

Bei nur wenigen bisher bekannten Skorpionen werden durch das Gift schwere, ja lebensbedrohliche Allgemeinsymptome verursacht, die meist schon innerhalb einer bis weniger Stunden die volle Vergiftungssymptomatik zeigen. Systemische Wirkungen nach dem Stich stark giftiger Skorpiongattungen betreffen immer das Herz-Kreislauf-System, den Gastrointestinaltrakt und bei manchen Gattungen zusätzlich das zentrale, periphere oder vegetative Nervensystem, die Atmungsorgane und selten auch das Blutsystem und die Haut.

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Stiche mit geringer Lokalsymptomatik ohne systemische Giftwirkung

Bei ungefährlichen Skorpionstichen wird der Schmerz und die übrige Lokalsymptomatik in der Intensität einen Bienen- oder Hornissenstich nicht überschreiten und innerhalb von Stunden abklingen. In diesen Fällen kann man mit Sicherheit davon ausgehen, dass keine weiteren Symptome mehr folgen werden. Lebensbedrohlich können auch bei diesen harmlosen Gattungen in seltenen Fällen allergische Reaktionen gegen das Skorpiongift verlaufen, entsprechend der Bienenstichallergie. Viele der in deutschen Terrarien gehaltenen Tiere - vor allem die Gattungen Pandinus und Heterometrus - und die mitteleuropäischen Euscorpius-Arten gehören zu dieser Gruppe. Therapeutisch sind außer verbaler Beruhigung, der äußerlichen Wunddesinfektion mit Alkohol und der Überprüfung eines ausreichenden Tetanusschutzes keine weiteren Maßnahmen und keine ärztliche Überwachung nötig.

Stiche mit starker Lokalsymptomatik ohne Systembeteiligung

Gefährlicher sind Skorpione, deren Stich stark schmerzhaft ist und oft auch eine stärkere und länger anhaltende Lokalreaktion verursacht. Aber auch diese zweite Gruppe ruft keine systemischen Symptome durch das Toxin hervor. Leichtere Allgemeinsymptome wie Übelkeit, Schwindel, Kreislaufkollaps und Hyperventilation lassen sich durch vegetative Reaktionen auf den starken Schmerz und durch Angstreaktionen erklären. Derartige Skorpionstiche können den Urlauber bereits in Südeuropa treffen durch Buthus occitanus (vor allem in Spanien, Südfrankreich, Griechenland). Wegen der manchmal sehr starken Schmerzen ist eine Überwachung in einem Krankenhaus zu empfehlen. Außer der Schmerztherapie ist nur die allgemeine Therapie zu berücksichtigen.

Stiche mit Schmerzen und kardiovaskulärer Symptomatik

In der nächst gefährlicheren Gruppe werden bei einem Skorpionstich nach dem starken Lokalschmerz cholinerge Rezeptoren und später durch Katecholaminfreisetzung adrenerge Rezeptoren stimuliert. Als systemische Giftwirkung findet sich bei diesen Gruppen zuerst eine Tachykardie und Hypertonie, Extrasystolen und in schweren Fällen später Hypotonie bis Schock durch Erschöpfung der Katecholaminspeicher. Bradykardie, AV-Blockierungen, selten anfänglich Hypotonie, sind durch cholinerge Giftwirkungen verursacht. Als vegetative, cholinerg verursachte Anfangssymptomatik findet sich oft Speichel-, Nasen-, Bronchial- und Tränenfluss und gastrointestinale Symptome wie Übelkeit mit Erbrechen. Bei schweren Verläufen kann es zu Hyperthermie bis über 41°C, aber auch Hypothermie kommen. Dieses Symptombild verursachen Skorpione aus der Gattung Bothriururs spp. (Südamerika, vor allem Brasilien, Chile und Argentinien) und als wichtigste Vertreter die nordafrikanischen und vorderasiatischen Buthus-Arten, insbesondere Buthus tunetanus (früher B. occitanus tunetanus), im Unterschied zum in Südeuropa vorkommenden Buthus occitanus mit alleiniger Schmerzsymptomatik. Wegen der möglichen schweren Symptomatik sollte jeder Skorpionstich dieser Gruppe mindestens einige Stunden klinisch überwacht werden. Die kardiologischen Symptome sind gut behandelbar. Als spezifische Antidote gibt es mehrere polyvalente Antiseren, deren Wirksamkeit aber umstritten ist.

Stiche mit kardialer und zentralnervöser Symptomatik

Die gefährlichsten Skorpione verursachen durch die große Menge freigesetzter Katecholamine nicht nur lebensgefährliche Herz-Kreislauf-Symptome, sondern durch Stimulierung des Zentralnervensystems auch Erregung, Verwirrtheit und Krampfanfälle und bei der Gattung Centruroides auch extrapyramidale Symptome mit oropharyngealen Dyskinesien und unwillkürlichen Extremitätenbewegungen. Zusätzliche peripher neuromuskulär wirkende Toxinanteile können zu Muskelzuckungen, Muskelkrämpfen und Lähmungen führen. Bei schweren Vergiftungen kommt es in dieser Gruppe zu Herzinfarktzeichen im EKG mit Erhöhung der CK-MB und zu einem kardial und seltener toxisch verursachten Lungenödem. Die gastrointestinale und cholinerge Symptomatik entspricht der vorigen Gruppe. Bei jedem Stichverdacht muss der Patient in den ersten Stunden ärztlich überwacht werden; kommt es in dieser Zeit zu keinerlei Symptomatik, ist mit keiner Verschlechterung des Zustandes mehr zu rechnen. Die Herz-Kreislauf-Probleme sind rein symptomatisch zu behandeln. Gegen die neurologische Symptomatik gibt es für Centruroides spp. und Tityus spp. gut wirkende Antiseren. Von den gefährlichen Skorpionen Nordafrikas und Vorderasiens gehören in diese Gruppe Buthacus spp., die Gattung Hottentotta spp. und vor allem als wichtigste Vertreter Androctonus spp. und Leiurus quinquestriatus. Weiterhin gehören hierher Parabuthus spp. (Südafrika bis Schwarzmeerküste), Mesobuthus spp. mit M. tamulus (Indien), Centruroides spp. (Mittelamerika bis südliche USA) und die Gattung Tityus mit 100 Arten, von denen sechs beim Menschen bekanntermaßen schwere Vergiftungen verursacht haben. Selten sind Stiche von Nebo hierochonticus, der zusätzlich schwere Blutgerinnungsstörungen verursacht, und von Hemiscorpius spp. (Iran und Irak), der zusätzlich Hautnekrosen, eine dermale Vaskulitis und in der Hälfte der Fälle eine schwere Hämolyse verursacht.

Allgemeine Therapiehinweise zu Skorpionstichen

Im Folgenden ist das therapeutische Vorgehen nach einem Skorpionstich zusammengefasst, so dass man auch gemäß der auftretenden Symptome ausreichende Therapiehinweise findet, wenn nicht bekannt ist, welcher Skorpion gestochen hat.

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Lokaltherapie

Nach jedem Skorpionstich sollte die Wunde desinfiziert werden (Desinfektionsspray). Chirurgische Inzision, Ausschneiden (ausgenommen bei Hemiscorpius-lepturus-Stichen) und alle anderen Manipulationen sind kontraindiziert. Prophylaktische Antibiotikagabe wird nicht empfohlen. Auf intakten Tetanusschutz ist zu achten. Beengende Gegenstände (zum Beispiel Ringe) sind zu entfernen, um Durchblutungsstörungen im Falle einer Schwellung zu vermeiden. Treten starke Schmerzen auf oder ist mit einem gefährlichen Stich zu rechnen, sollte das betroffene Glied immer auf einer Schiene ruhiggestellt werden. Abbinden der betroffenen Extremität ist kontraindiziert, die venöse Kompressionsmethode ist normalerweise nicht angezeigt.

Allergie

Bei jedem Skorpionstich (auch bei ungefährlichen Skorpionen) ist die sehr seltene allergische Reaktion möglich, die mit Antihistaminika und Prednisolon behandelt wird sowie mit Adrenalin in Bereitschaft wegen der Gefahr eines anaphylaktischen Schocks.

Ärztliche Beobachtung

Sobald stärkere Schmerzen in den ersten 30 Minuten nach dem Stich auftreten, sollte der Patient immer mindestens vier bis sechs Stunden ärztlich überwacht werden, ob systemische Vergiftungszeichen auftreten.

Schmerztherapie

Die Schmerzen nach einem Skorpionstich werden mit Schmerzmitteln (Paracetamol bis Opiate) eventuell in Kombination mit einem Antiphlogistikum (zum Beispiel Ibuprofen) behandelt. Ist dies nicht ausreichend, kann an eine Leitungsanästhesie mit Lokalanästhetika gedacht werden (wegen der adrenergen Skorpiongiftwirkung keine adrenergen Zusätze verwenden).

Cholinerge Symptome

Atropintherapie sollte nur zurückhaltend eingesetzt werden, eventuell nur bei stärkerer Bradykardie, da berichtet wird, dass die adrenerge Phase nach vorheriger Atropingabe mit größerer Heftigkeit einsetzen kann (vor allem nach Mesobuthus-tamulus-Stichen in Indien).

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Herz-Kreislauf-System

Nach Skorpionstichen mit Herz-Kreislauf-Toxizität sollte der Patient mit EKG-Monitor und häufigen Blutdruckkontrollen überwacht werden. Die Hypertonie sollte mit gut steuerbaren vasodilatierenden Antihypertensiva behandelt werden, wie Ca2+-Antagonisten vom Dihydropyridintyp, Nitraten und Alphablockern. In der Literatur sind vor allem Nifedipin, Nitrate, Hydralazin als gut wirksam beschrieben; neuere Präparate wie Nitrendipin oder Nimodipin sind möglicherweise besser steuerbar. Bei einer Hypotonie sind Volumenersatz und Katecholamine indiziert. Bei einem Lungenödem sollte neben Sauerstoff und forcierter Diurese auch Dobutamin zur Verbesserung der Herzfunktion gegeben werden.

ZNS-Symptome

Bei ZNS-Symptomen wie Erregung und Krampfanfällen sind Benzodiazepine (Diazepam, Midazolam) indiziert. Bei extrapyramidalen Symptomen (Dyskinesien) können Biperiden oder andere Anticholinergika hilfreich sein. Bei Lähmungen ist eine intensivmedizinische Überwachung mit Beatmung notwendig.

Antiseren

Die Wirksamkeit von Antiseren ist bei vielen Gattungen zweifelhaft und bei moderner Intensivtherapie meist überflüssig. Ausnahmen sind die schweren Verläufe nach Bissen der Gattungen Tityus und Centruroides. Bei diesen Gattungen kann die Gabe von Antiseren den Verlauf der Vergiftung deutlich verkürzen und die Letalität senken.

Skorpiongift in der medizinischen Forschung

Skorpiongifte sind nicht nur gefährlich, sondern auch eine Quelle für medizinisch wertvolle Substanzen. Forscher untersuchen Skorpiongifte auf ihre potenziellen Anwendungen bei der Behandlung von Krebs, neurologischen Erkrankungen und anderen Krankheiten.

Skorpiongift als Transportmittel für Medikamente

Ein Forschungsteam der Universität Wien und des Austrian Institute of Technology untersucht, wie sich bestimmte Peptide aus Tiergiften in Transportvehikel verwandeln lassen. Im Labor simulieren die Wissenschaftler eine künstliche Blut-Hirn-Schranke, um zu testen, welche Substanzen diese Barriere passieren können. Einige Bestandteile der Gifte, wie das Skorpiongift-Chlorotoxin oder ein Peptid eines australischen Froschs, zeigen vielversprechende Ergebnisse. Diese Substanzen könnten künftig als eine Art Shuttle fungieren, die das Medikament sicher und gezielt ins Gehirn transportiert.

Skorpiongift in der Krebsforschung

Chlorotoxin, ein Toxin aus dem Gift des gelben Mittelmeerskorpions (Leiurus quinquestriatus), bindet spezifisch an manche Tumorzellen wie Gliomzellen. Das Polypeptid erkennt unter anderem einen Chlorid-Ionenkanal, der bevorzugt auf veränderten bösartigen Gliomzellen, nicht jedoch auf gesunden Bindegewebszellen des Gehirns (gesunden Gliazellen) vorkommt. Derzeit läuft eine kleine Phase-I-Studie mit Glioblastom-Erkrankten mit Rückfall, bei der patienteneigene T-Zellen gentechnisch so verändert werden, dass sie an eine Struktur angelehnt sind, die Chlorotoxin ähnelt. Erste Ergebnisse deuten bei einzelnen Teilnehmenden auf eine Krankheitsstabilisierung hin. Chlorotoxin und verwandte Substanzen könnten künftig auch als Transporter benutzt werden. Im Labor hergestellte Nanopartikel, die mit Chlorotoxin und zum Beispiel einem Chemotherapeutikum beladen werden, sollen Medikamente gezielt in Krebszellen bringen.

Skorpiongift als Quelle für neue Schmerzmittel

Ein multinationales Wissenschaftlerteam hat herausgefunden, dass ein Alpha-Toxin des Gelben Israelischen Skorpions hochselektiv an Ionenkanäle des peripheren Nervensystems andockt. Diese Eigenschaft ist im Rahmen der Entwicklung neuartiger Schmerztherapeutika äußerst interessant. Allerdings wird zur Schmerztherapie ein Mittel benötigt, welches die Ionenkanäle in entgegengesetzter Richtung beeinflusst. Der Giftstoff verhindert nämlich ein Schließen der Kanäle und löst dadurch Schmerzen aus. Die Forscher wollen nun herausfinden, welche molekulare Konstellation dafür verantwortlich ist, dass Lqh III so präzise an die Ionenkanäle im peripheren Nervenzellen andockt. Gelänge es anschließend, mit solchen "Pfadfinder-Molekülen" ein Therapeutikum zur Ionenkanal-Blockade zu koppeln, hätte man ein ideal wirksames und sehr gut verträgliches Schmerzmittel in Händen.

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