Das menschliche Gehirn ist ein faszinierendes Organ, um das sich viele Mythen ranken. Einer der hartnäckigsten ist die Vorstellung, dass wir nur einen geringen Teil unserer Gehirnkapazität nutzen, meistens wird von 10 Prozent gesprochen. Aber was steckt wirklich hinter dieser Behauptung? Ist es ein wissenschaftlich fundierter Fakt oder nur ein populärer Mythos? Dieser Artikel untersucht die Ursprünge, die Widerlegung und die Implikationen dieser Vorstellung.
Der Ursprung des 10-Prozent-Mythos
Die genaue Entstehung des 10-Prozent-Mythos lässt sich nicht eindeutig zurückverfolgen. Oft wird er fälschlicherweise Albert Einstein oder Margaret Mead zugeschrieben. Der Ursprung der Geschichte liegt vermutlich in spekulativen Interpretationen von frühen Forschungsergebnissen über die Gehirnkapazität. Diese Ergebnisse wurden verzerrt dargestellt und über etwa zwei Jahrhunderte von verschiedenen Neurowissenschaftlern aus einer fehlerhaften Perspektive weitergegeben.
Auch in jüngerer Zeit wurde der Mythos von Persönlichkeiten wie Ron Hubbard, dem Gründer von Scientology, und dem Illusionisten Uri Geller verbreitet. Sie nutzten die Vorstellung des ungenutzten Potenzials des menschlichen Geistes, um ihre Botschaften zu untermauern und die Aktivierung der restlichen 90 Prozent zu propagieren.
Die Widerlegung des Mythos
Es gibt zahlreiche wissenschaftliche Beweise dafür, dass der 10-Prozent-Mythos falsch ist.
Evolutionäre Perspektive
Das Gehirn macht etwa 2 % der Körpermasse aus, verbraucht aber etwa 20 % des Energiebedarfs des Körpers. Aus evolutionärer Sicht wäre es ineffizient und unlogisch, wenn 90 % des Gehirns ungenutzt blieben. Die Evolution hätte wahrscheinlich zu kleineren und energieeffizienteren Gehirnen geführt, wenn ein Großteil der Kapazität unnötig wäre.
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Hirnschädigungen
Schäden an selbst kleinen Bereichen des Gehirns können zu erheblichen Beeinträchtigungen führen. Wenn wir tatsächlich nur 10 % unseres Gehirns nutzen würden, blieben die meisten Hirnschädigungen ohne Folgen. Die Realität zeigt jedoch, dass fast jede Hirnschädigung zu Einschränkungen führt, was darauf hindeutet, dass die betroffenen Hirnregionen zuvor eine wichtige Funktion hatten.
Bildgebende Verfahren
Moderne bildgebende Verfahren wie die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) und die Positronenemissionstomographie (PET) ermöglichen es, die Aktivität des Gehirns in Echtzeit zu beobachten. Diese Verfahren zeigen, dass verschiedene Bereiche des Gehirns bei unterschiedlichen Aktivitäten aktiv sind. Auch im Schlaf ist die Aktivität im Gehirn deutlich höher als 10 %.
Neuroplastizität
Das Gehirn besitzt die Fähigkeit, sich an neue Umstände anzupassen und seine Funktionalität entsprechend den Erfordernissen zu verändern. Dies wird als Neuroplastizität bezeichnet. Studien haben gezeigt, dass sich die Hirnstruktur von blinden Menschen verändert und die Bereiche, die zuvor für die visuelle Verarbeitung zuständig waren, neue Funktionen übernehmen. Dies deutet darauf hin, dass das Gehirn keine starre Masse ist, sondern flexibel auf die Umwelt reagiert.
Wie das Gehirn wirklich funktioniert
Das Gehirn ist ein komplexes Netzwerk von Milliarden von Nervenzellen, die durch Milliarden von Verbindungen miteinander verbunden sind. Bestimmte Gehirnareale arbeiten je nach Aufgabe und Aktivität zu unterschiedlichen Zeiten zusammen. Das gesamte Gehirn wird auf vielfältige Weise genutzt, aber nicht alle Bereiche sind immer gleichzeitig aktiv.
Das Gehirn kann man sich wie ein Orchester vorstellen, in dem verschiedene Instrumente (Zelltypen) unterschiedliche Rollen spielen. Einige Zellen steuern Muskelbewegungen, andere die Sprache, und wieder andere sorgen für die Versorgung der übrigen Zellen. Die Mehrheit der Zellen im Gehirn sind Versorgerzellen, ohne die die anderen Zellen ihre Arbeit nicht verrichten könnten.
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Welche Zellen gerade besonders aktiv sind, hängt davon ab, welcher Gedanke gedacht oder welche Bewegung ausgeführt wird. Die Präzision einer Bewegung oder der Inhalt eines gesprochenen Satzes hängt nicht davon ab, wie viele Zellen aktiv sind, sondern ob die richtige "Melodie" gespielt wird.
Weitere Mythen rund um das Gehirn
Neben dem 10-Prozent-Mythos gibt es noch weitere populäre Vorstellungen über das Gehirn, die wissenschaftlich nicht haltbar sind.
Dominante Hirnhälfte
Der Mythos, dass die linke Hirnhälfte für logisches Denken und die rechte Hirnhälfte für Kreativität und Emotionen zuständig ist, ist ebenfalls weit verbreitet. Studien haben jedoch gezeigt, dass beide Gehirnhälften durch starke neuronale Verbindungen vernetzt sind und zusammenarbeiten, um kreatives und analytisches Denken zu ermöglichen.
Geschlechtsspezifische Unterschiede
Die Behauptung, dass das weibliche Gehirn anders arbeitet als das männliche Gehirn, basiert auf vereinfacht ausgelegten Studienergebnissen, die nur minimale Abweichungen zeigen. Es gibt zwar Unterschiede in Größe, Synapsendichte und Lokalisation, aber daraus lassen sich keine eindeutigen geschlechtsspezifischen Muster ableiten. Hormonelle und soziale Einflüsse haben einen größeren Einfluss auf die Entwicklung des Gehirns.
Zucker als Gehirndoping
Die Vorstellung, dass Traubenzucker beim Lernen hilft, ist ebenfalls ein Mythos. Zucker liefert nur kurzfristig Energie, die nicht länger als 20 Minuten anhält. Für eine länger anhaltende Konzentration ist ein stabiler Blutzuckerspiegel erforderlich, der durch langkettige Kohlenhydrate in Vollkornprodukten erreicht werden kann.
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Mozart-Effekt
Der sogenannte Mozart-Effekt, der besagt, dass das Hören von Mozart-Musik die Intelligenz steigert, wurde in späteren Studien widerlegt. Es wurde festgestellt, dass das Hören von Musik im Allgemeinen das räumliche Denkvermögen verbessern kann, aber ob dies tatsächlich mit einer Steigerung des IQs zusammenhängt, ist noch nicht abschließend geklärt.
Das Gehirn trainieren und formen
Obwohl wir bereits unser gesamtes Gehirn nutzen, können wir seine Leistungsfähigkeit dennoch verbessern. Studien haben gezeigt, dass sich das Gehirn an neue Umstände anpasst und durch Erfahrungen und Tätigkeiten geformt wird.
Gehirnjogging
Regelmäßiges Gehirnjogging mit Logikrätseln, Knobelaufgaben und Zahlenspielen kann dazu beitragen, geistig fit zu bleiben und Alterskrankheiten wie Demenz oder Alzheimer vorzubeugen. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass der Nutzen und Effekt von Gehirnjogging schwer zu beweisen ist. Es verbessert vor allem die Fertigkeiten, die regelmäßig geübt werden.
Lebenslanges Lernen
Das Gehirn ist plastisch und formbar, auch im hohen Alter. Das bedeutet, dass auch ältere Menschen ihr Gehirn trainieren und neue Fähigkeiten erlernen können, z. B. eine neue Sprache oder ein Instrument. Vielfältige geistige Herausforderungen in Bildung, Beruf und Freizeit sowie soziale Kontakte und Sport können dazu beitragen, mentalen Abbau vorzubeugen.