Das Gehirn ist ein komplexes Organ, nicht nur beim Menschen, sondern auch bei Insekten wie der Fliege. Obwohl das menschliche Gehirn mit seinen über 80 Milliarden Neuronen und 100 Billionen von Verbindungen unvorstellbar komplex ist, bietet das viel einfachere Gehirn der Fliege wertvolle Einblicke in die grundlegenden Funktionsmechanismen von Gehirnen.
Die Faszination des Fliegengehirns
Fliegen sind faszinierende Flugkünstler. Eine Stubenfliege kann mit zwei Metern pro Sekunde durch den Raum schießen und mit einer halben Rolle rückwärts an der Zimmerdecke landen. Im Gegensatz zum Menschen erfasst die Fliege die gesamte Welt auf einen Blick, da ihre großen Facettenaugen einen 360°-Panoramablick ermöglichen. Optische Informationen verarbeitet die Fliege viel schneller als der Mensch. Eine Schmeißfliege würde einen Kinofilm mit 100 Bildern pro Sekunde noch als Einzelbilder erkennen, während der Mensch die dunklen Pausen bereits ab 24 Bildern pro Sekunde nicht mehr wahrnimmt.
Besonders attraktiv für Neurowissenschaftler ist die vergleichsweise geringe Anzahl an Nervenzellen im Fliegengehirn. Während es im Säugetiergehirn mehrere hundert Milliarden Nervenzellen gibt, sind es im Fliegengehirn gerade einmal rund 100.000 Zellen. Dies ermöglicht es, die Aufgaben einzelner Nervenzellen und ihr Zusammenspiel im Netzwerk deutlich leichter zu untersuchen. Die detaillierte Analyse eines solchen überschaubaren Modellsystems ist ein wichtiger Schritt, um auch die Vorgänge in komplexeren Gehirnen zu verstehen.
Das Konnektom der Fruchtfliege: Ein Durchbruch in der Gehirnforschung
Viele Neurowissenschaftler glauben, dass das Verständnis der Gehirnfunktion durch die Kartierung aller Neuronen und Verbindungen des Gehirns - das Konnektom - möglich wird. Einem Team um Katharina Eichler von der Uni Leipzig gelang die erste vollständige Kartierung des Konnektoms des erwachsenen Drosophila- (Fruchtfliegen-)Gehirns. Das Projekt basierte auf im Jahre 2018 gesammelten Elektronenmikroskopie-Bildern, die mit neuen Bildgebungstechnologien aufgenommen wurden. Das Team, Teil des internationalen FlyWire-Konsortiums, entwickelte Methoden zur präzisen Ausrichtung der Bilder und nutzte maschinelles Sehen, um einzelne Neuronen automatisch zu rekonstruieren. Um Fehler zu korrigieren, bauten die Wissenschaftler eine computerbasierte Infrastruktur auf, die es Forschenden weltweit ermöglichte, die Neuronen-Rekonstruktionen zu überprüfen.
Das Konnektom der Fruchtfliege enthält Informationen über Zelltypen, Synapsen, Neurotransmitter und Netzwerkeigenschaften. Dabei werden Zellen durch ihren definierenden chemischen Botenstoff farblich gekennzeichnet - blau: GABA; gelb: Acetylcholin (ACH); rosa: Glutamat (GLUT). Auf dem fertigen Schaltplan, auch Konnektom genannt, sind nun alle 139.255 Neuronen und 54,5 Millionen Synapsen der Fliege verzeichnet. Das sind rund sieben Mal mehr Neuronen und fast vier Mal mehr Schaltstellen als bei der Hirnkarte, die zuvor als die umfassendste galt. „Das ist ein großer Erfolg“, sagt Seniorautorin Mala Murthy von der Princeton University. „Es gibt kein anderes vollständiges Hirnkonnektom für ein erwachsenes Tier dieser Komplexität.”
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Die Arbeitsweise des Fliegengehirns: Erkenntnisse und Überraschungen
Die detaillierte Kartierung des Fliegengehirns hat bereits zu einigen wichtigen Erkenntnissen geführt. So fanden die Wissenschaftler beispielsweise drei Neuronen, die Fliegen in ihrer Bewegung innehalten lassen: Foxglove, Bluebell und Brake genannt. Dies zeigt genauer als je zuvor, wie Körper und Gehirn miteinander kommunizieren und wie die Struktur des Gehirns dessen Funktion bestimmt.
Beim Vergleich der neuen Karte mit früheren Teilkarten des Fliegengehirns fanden die Wissenschaftler zudem erhebliche Ähnlichkeiten hinsichtlich der Verschaltung der Hirnzellen. Nur 0,5 Prozent der Neuronen waren anders verknüpft. Das Team schließt daraus, dass einzelne Gehirne sehr ähnlich aufgebaut und nicht einzigartig wie eine Schneeflocke sind.
Einige Forschungsergebnisse haben auch überraschende Parallelen zwischen der neuronalen Verarbeitung bei Fruchtfliegen und Wirbeltieren ans Licht gebracht. So beginnt die Verarbeitung von Bildern bei Wirbeltieren bereits in der Netzhaut der Augen. Hier spalten die Nervenzellen das Gesehene vor seiner Weitergabe an das Gehirn in Bilder mit unterschiedlichem Informationsgehalt auf. Tatsächlich passiert etwas ganz ähnliches auch im Fliegenhirn. Direkt nach den Fotorezeptoren werden hier Informationen zu Kontraständerungen in zwei Bildkanäle aufgetrennt: Während die L2-Zelle nur „Licht-aus“-Informationen weitergibt, reagieren die den L1-Zellen nachgeschalteten Neurone nur bei „Licht-an“.
Die Bedeutung von Adhäsions-GPCR für die Wahrnehmung mechanischer Reize
Sensorische Nervenzellen haben die Aufgabe, Reize unserer Umwelt wahrzunehmen und an das Gehirn weiterzuleiten. Wissenschaftler der Universitäten Leipzig und Würzburg haben am Tiermodell der Fruchtfliege beobachten können, wie eine bisher wenig erforschte Klasse von Rezeptorproteinen als molekulare Antennen für die Wahrnehmung von mechanischen Reizen in die Kommunikation von Nervenzellen eingreift.
Im Fokus der Forschungen stehen die Rezeptoren einer bestimmten Molekülfamilie, die als Adhäsions-G-Protein-gekoppelte Rezeptoren (Adhäsions-GPCR) bezeichnet werden. Diese Moleküle sitzen auf der Oberfläche von Zellen und können an benachbarte Zellen oder Material anhaften, ähnlich wie Klettverschlüsse. Gleichzeitig sind diese Klettverschlüsse gekoppelt mit Schaltern, die ein äußeres Signal in eine biologische Information übersetzen und ins Zellinnere leiten können. So tragen die Rezeptoren dazu bei, dass äußere mechanische Reize wie Berührungen oder Druck wahrgenommen werden.
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Die Forscher fanden heraus, dass der Rezeptor Latrophilin/CIRL bei der Übertragung von mechanischen Signalen wie der Lautstärkeregler an der Stereoanlage funktioniert. Da die Molekülfamilie, zu der auch Adhäsions-GPCR zählen, zu Hunderten im menschlichen Erbgut kodiert sind, liefern die aktuellen Studienergebnisse einen wichtigen Beitrag zur Grundlagenforschung dieser Zellantennen.
Verhaltenssteuerung und Entscheidungsfindung bei Fruchtfliegen
Neurophysiologe Prof. Dr. David Owald und seine Arbeitsgruppe „Verhaltensbiologische und physiologische Neurogenetik“ am Institut für Neurophysiologie der Charité nutzen Drosophila melanogaster, um Antworten auf die Frage zu finden, wie wir gesteuert werden. Die Experimente finden mit Fruchtfliegen statt, da sich bestimmte Grundbedürfnisse und die damit verbundenen Verhaltensmuster mit dem Menschen überlappen und genetisch modifizierte Fruchtfliegen Forschenden die Chance bieten, einzelne Nervenzellen zu aktivieren und dabei zuzusehen, wie sich ihr Verhalten ändert.
Die Forscher interessieren sich dafür, welche Aktivitätsmuster basalem Verhalten zu Grunde liegen und wie sich Hirnstrukturen beispielsweise durch eine Zucker-Belohnung verändern und wie sich das dann wiederum auf das Gedächtnis und das Verhalten auswirkt. Im Projekt „Simple Minds“ geht es um die Filterung sensorischer Informationen, um Schlaf bzw. das Ein- und Durchschlafen zu ermöglichen.
Die Heterogenität im visuellen System der Taufliege
Die Arbeitsgruppe von Marion Silies am Institut für Entwicklungsbiologie und Neurobiologie hat sich auf das Sehsystem spezialisiert und neue Aspekte zur Verarbeitung visueller Informationen entdeckt. Entgegen den Erwartungen ist ein bestimmter Zelltyp im Auge der Taufliege, genannt Tm9, nicht einheitlich, sondern unterschiedlich verschaltet. Dies könnte die Erklärung dafür sein, dass die Zellen auf einen bestimmten Reiz nicht immer in gleicher Art und Weise reagieren. „Offenbar sieht das Auge der Fliege an verschiedenen Punkten unterschiedlich.“
Ausblick: Die Zukunft der Gehirnforschung
Mithilfe der Techniken, die zur Konstruktion des Schaltplans des Fruchtfliegengehirns verwendet wurden, könnten künftig auch die Gehirne anderer Arten kartiert werden. Die Studie ebnet so den Weg für die vollständige Kartierung größerer Gehirne, einschließlich dem des Menschen. Nächste Etappenziele sind jedoch zunächst die Kartierung der Gehirne von männlichen Fruchtfliegen sowie von Mäusen.
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Die Entwicklung könnte eines Tages zu maßgeschneiderten Behandlungen für Hirnerkrankungen und psychische Erkrankungen führen. Das Fliegenkonnektom gibt Einblicke, wie Informationen im Gehirn verarbeitet und in Verhalten umgewandelt werden. Langfristig könnte dieser wissenschaftliche Durchbruch ein essenzieller Schritt sein, um eines der größten Rätsel der Neurowissenschaften zu beantworten: Wie funktioniert ein Gehirn tatsächlich?