Wir sehen mit dem Gehirn: Wie das Sehen wirklich funktioniert

Das Sehen ist ein komplexer Prozess, der weit mehr als nur die Funktion der Augen umfasst. Obwohl wir mit den Augen sehen, findet die eigentliche Verarbeitung des Bildes im Sehzentrum des Gehirns statt. Dieser Artikel beleuchtet, wie das Gehirn visuelle Informationen interpretiert, die Rolle der Augen dabei und wie verschiedene Gehirnbereiche zusammenarbeiten, um uns die Welt um uns herum visuell erfahrbar zu machen.

Die Rolle des Gehirns beim Sehen

Das Gehirn ist die Steuerzentrale für lebenswichtige Abläufe im Körper, und das Sehen bildet hier keine Ausnahme. Es nimmt Sinneseindrücke auf und verarbeitet sie. Das Gehirn besteht aus verschiedenen Teilen und Milliarden von vernetzten Nervenzellen, die alle wichtigen Fähigkeiten des Menschen steuern: was wir wahrnehmen und empfinden, was wir wissen und denken oder wie wir uns verhalten. Es stellt sicher, dass unsere Organe richtig arbeiten und steuert all unsere Bewegungen. Das Gehirn ist ein gigantisches Netzwerk von Nervenzellen, das all unsere Organe und Körperfunktionen steuert. Man unterscheidet verschiedene Bereiche im Gehirn, wobei jeder Bereich auf bestimmte Aufgaben spezialisiert ist.

Manche vergleichen das Gehirn mit einem Hochleistungs-Computer, der Reize aus der Umgebung und dem Körperinneren aufnehmen, Reaktionen und Verhalten steuern oder auch Wissen speichern und verarbeiten kann. Dies geschieht mithilfe von Nervenzellen, die einen kleinen Körper und sehr lange, fadenartige Fortsätze (Axone und Dendriten) haben. Diese können sich durch das gesamte Gehirn ziehen und sich miteinander verbinden und kommunizieren. Nervenzellen tauschen Informationen an speziellen Verbindungsstellen aus, den Synapsen, von denen eine einzelne Nervenzelle oft unzählige besitzt. Durch den wiederholten Informationsaustausch zwischen den Nervenzellen können sich die Verknüpfungen verstärken.

Die Bedeutung der Vernetzung

Intelligenz hängt nicht so sehr von der Größe des Gehirns ab, sondern vielmehr davon, wie gut die einzelnen Nervenzellen und Gehirnbereiche miteinander vernetzt sind. Die Hauptverbindungen im Gehirn entwickeln sich schon vor der Geburt, aber aus der Gehirnforschung wissen wir, dass sich neue Kontakte zwischen Nervenzellen über das gesamte Leben ausbilden und alte Verknüpfungen sich verändern können.

Die Anatomie des Gehirns und ihre Funktionen beim Sehen

Das Gehirn besteht aus verschiedenen Bereichen, die jeweils spezifische Aufgaben bei der Verarbeitung visueller Informationen übernehmen:

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  • Hirnstamm: Der Hirnstamm ist der älteste Gehirn-Teil in der Entwicklungsgeschichte des Menschen und verbindet das Gehirn mit dem Rückenmark. Er besteht aus verlängertem Mark, Mittelhirn und Brücke. Durch den Hirnstamm verlaufen wichtige Nervenbahnen, die eingehende Sinneseindrücke aus dem Körper an das Großhirn weiterleiten und umgekehrt Informationen vom Großhirn zu den Nervenzellen des Rückenmarks leiten. Er regelt lebenswichtige Systeme wie Herzschlag, Atmung und Blutdruck und beherbergt wichtige Körperreflexe.
  • Zwischenhirn: Das Zwischenhirn ist für viele überlebenswichtige Empfindungen und Instinkte des Menschen verantwortlich. Hier werden Durst, Hunger und Schlaf gesteuert. Es ist auch an der Verarbeitung von Sinneseindrücken wie Sehen, Hören oder Tasten beteiligt. Der Thalamus ist die wichtigste Schaltstation für Informationen aus den Sinnesorganen. Äußere Sinneseindrücke wie Sehen, Hören oder Tasten gehen hier ein, werden verarbeitet und bewertet, bevor wichtige Informationen an das Großhirn weitergeleitet und dort bewusst gemacht werden. Der Thalamus ist ein wichtiger Informationsfilter, der das Großhirn und das Bewusstsein nicht von Signalen überflutet. Der Hypothalamus regelt zahlreiche automatische Vorgänge im Körper, wie Körpertemperatur, Wasser- und Salzhaushalt oder die Magen-Darm-Funktion. Er ist auch am Entstehen des Durst-, Hunger- und Sättigungsgefühls beteiligt und reguliert gemeinsam mit der Hirnanhangdrüse (Hypophyse) wichtige Hormone im Körper. Im Zusammenspiel mit anderen Gehirnbereichen ist der Hypothalamus auch für Gefühle zuständig.
  • Limbisches System: Zum limbischen System gehören verschiedene Teile im Zentrum des Gehirns. Es spielt eine wichtige Rolle bei Gefühlen und triebgesteuertem Verhalten (z. B. essen oder trinken).
  • Kleinhirn: Das Kleinhirn ist wichtig für das Gleichgewicht und die Koordination. Gemeinsam mit dem Großhirn steuert es die Muskeln und somit die Bewegungen. Außerdem sorgt es ganz wesentlich mit dafür, dass die Muskelspannung des Körpers erhalten bleibt. Während das Großhirn vorrangig für bewusste Bewegungen zuständig ist, steuert das Kleinhirn bereits gelernte Bewegungsabläufe. Hier werden bestimmte Bewegungsabfolgen wie Tanzschritte oder das Schalten beim Autofahren gespeichert.
  • Großhirn: Das Großhirn ist der jüngste und größte Teil des menschlichen Gehirns. Es ermöglicht die sogenannten „höheren“ Hirnfunktionen, wie Motivation, Lernen, Denken oder Verstehen. Die Großhirnrinde bedeckt die gesamte Oberfläche des Großhirns und enthält fast drei Viertel aller Nervenzellen des Gehirns. Hier gehen wichtige Sinneseindrücke ein, werden sortiert, bewusst gemacht, gespeichert und sinnvoll miteinander verknüpft. Dadurch ist es dem Menschen möglich, zielgerichtet zu handeln. In der Großhirnrinde sitzen auch die Wahrnehmung und der Wille. Auch wesentliche Teile unseres Gedächtnisses liegen in der Großhirnrinde. Denken und Erinnern sind hier verankert, willentliche Bewegungen werden gesteuert. Die Großhirnrinde ist in verschiedene Unterbereiche, sogenannte Gehirnlappen, gegliedert: Stirnlappen, Schläfenlappen, Scheitellappen und Hinterkopflappen. In ihnen haben Nervenzellen mit ganz bestimmten Aufgaben ihren Sitz. Unterhalb der Großhirnrinde verlaufen die Fortsätze der Nervenzellen, die Informationen übertragen. Unterhalb des Großhirns liegen auch die Basalganglien, sehr dichte Verbünde von Nervenzellen.

Die Sehbahn: Eine Hochgeschwindigkeitsstrecke für visuelle Signale

Die Sehbahn leitet visuelle Signale blitzschnell an das Gehirn weiter. Die Sehnerven beider Augen überkreuzen am Chiasma opticum. Etwa die Hälfte der Fasern beider Nervenstränge wechselt hier die Seite, sodass Signale aus dem linken Auge auch in der rechten Hirnhälfte verarbeitet werden und umgekehrt. Jenseits der Kreuzung werden die Sehnerven als Sehtrakt oder Tractus opticus bezeichnet. Die meisten Nervenfasern ziehen über den seitlichen Kniehöcker in den visuellen Cortex, ein kleiner Teil jedoch gibt dem Prätektum Input, etwa für die “innere Uhr” oder den Pupillenreflex.

Störungen auf der visuellen Hochgeschwindigkeitsstrecke haben gravierende Konsequenzen. Krankheiten, die die Sehnerven schädigen, führen häufig dazu, dass ganze Areale des Gesichtsfelds eines Auges nicht mehr im Gehirn registriert werden. Beeinträchtigt beispielsweise ein Tumor, eine Entzündung oder eine Blutung den rechten oder linken Sehnerv zwischen Netzhaut und Sehnervenkreuzung, fehlt die gesamte Information aus dem jeweiligen Auge. Geschieht der Schaden an oder nach der Sehnervenkreuzung, treten besondere Ausfallmuster auf: Etwa die "Scheuklappenblindheit", also ein Ausfall des äußeren Gesichtsfeldes, wenn die sich überkreuzenden Bahnen im Chiasma opticum betroffen sind.

In Schicht 2, 3 und 5 des seitlichen Kniehöckers enden jeweils Fasern aus dem ipsilateralen Auge, in Schicht 1, 4 und 6 die Stränge aus dem kontralateralen Auge. Schicht 1 und 2 des seitlichen Kniehöckers sind die magnozellulären Schichten mit größeren (lateinisch: magnus) Zellkörpern und Axondurchmessern. Sie reagieren vor allem auf Bewegungen. Die parvozellulären Schichten 3 bis 6 setzen sich aus kleineren (lateinisch: parvus) Nervenzellen zusammen und liefern Input für die Verarbeitung von Form und Farbe.

Wie das Auge funktioniert

Das Auge funktioniert ähnlich wie eine Kamera: Es kann Licht bündeln und so ein scharfes Bild erzeugen. Das Bild steht zwar gemäß den optischen Gesetzen auf dem Kopf und ist zudem seitenverkehrt, aber dies wird vom Gehirn korrigiert. Die optischen Impulse, die das Auge empfängt, werden über die Sehnerven in Sehbahnen zur Sehrinde des Gehirns geleitet. Auf dem Weg dorthin kreuzen sich die Sehbahnen beider Augen und passieren das sogenannte Sehknie. Erst im Sehzentrum werden die Nervenimpulse zu einem Bild zusammengesetzt.

Die Sehrinde sorgt dafür, dass die Bilder aus dem Sehzentrum mit dem Gedächtnis des Gehirns verbunden werden. Nur so wird ein Bild für uns erkennbar. Ist die Sehrinde nicht funktionsfähig, können wir zwar Bilder sehen, diese aber nicht verarbeiten. Und wenn das Sehzentrum beschädigt ist, z.B.

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Die Bestandteile des Auges und ihre Funktionen

Das Auge ist von den präzisen Abständen seines Aufbaus abhängig. Erst das Zusammenspiel und die Zusammenarbeit aller Komponenten ermöglichen es uns zu sehen. Nur der vordere Teil eines Auges ist von außen sichtbar. Der restliche Augapfel liegt geschützt in der Augenhöhle.

  • Das Augenweiß: Der sichtbare Bereich der festen Außenhülle des Augapfels.
  • Die Regenbogenhaut (Iris): Der farbige Teil des Auges, der wie eine Scheibe mit einem Loch in der Mitte (der Pupille) aussieht. Die Iris enthält Muskeln, mit denen sie die Größe der Pupille verändern kann. Dadurch steuert sie, ähnlich wie die Blende einer Kamera, wie viel Licht ins Auge gelassen wird: Wenn es sehr hell ist, verengt die Iris die Pupille, um eine „Überbelichtung“ zu vermeiden. Im Dunkeln stellt sie sie weit, damit so viel Licht wie möglich aufgenommen werden kann.
  • Die Hornhaut (Kornea): Eine lichtdurchlässige Schicht, die Iris und Pupille bedeckt. Zusammen mit den Augenlidern, Wimpern und der Tränenflüssigkeit dient sie vor allem dazu, die Augen vor Fremdkörpern und Verletzungen zu schützen. Die Hornhaut spielt aber auch beim Sehen eine Rolle, da die Lichtstrahlen, die ins Auge fallen, durch sie hindurch müssen und bereits hier gebrochen werden.
  • Das Kammerwasser: Eine Flüssigkeit, die sich im Inneren der Kuppel zwischen Hornhaut und Iris befindet.
  • Die Linse: Liegt dicht hinter der Pupille und ist mit festen Fasern an Muskeln befestigt. Ziehen sich diese Muskeln zusammen, verändert sich die Form der Linse, und das einfallende Licht wird je nach Form unterschiedlich stark gebrochen. Auf diese Weise kann sich das Auge auf „nah“ oder „weit“ einstellen.
  • Der Glaskörper: Eine durchsichtige, gelartige Masse, die dem Augapfel seine prall-elastische Form gibt und sich hinter der Linse befindet. Der Glaskörper ist wie die Hornhaut und die Linse durchsichtig, was eine wichtige Voraussetzung für gutes Sehen ist.
  • Die Netzhaut (Retina): Kleidet den Augapfel von innen aus und enthält in ihrem hinteren Bereich - dem sogenannten Augenhintergrund - Millionen von Sinneszellen. Durch die Linsenbrechung entsteht genau dort ein scharfes Bild von den Dingen, die gerade betrachtet werden. Zapfen sind für das Sehen von Farben zuständig, während Stäbchen das „Schwarz-Weiß-Sehen“ ermöglichen. Sie benötigen weniger Licht und ermöglichen das Sehen während der Dämmerung und in der Nacht. Die Nervensignale aus den Zapfen und Stäbchen werden über den Sehnerv ins Gehirn weitergeleitet.

Räumliches Sehen: Die Zusammenarbeit von Augen und Gehirn

Pro Sekunde nehmen unsere Augen zehn Millionen Informationen auf und geben diese an die Sehrinde weiter. Im Gehirn verschmelzen die Seheindrücke des linken und des rechten Auges zu einem Bild. Damit das räumliche Sehen richtig funktionieren kann, müssen beide Augen zusammenarbeiten - schließlich nimmt jedes unserer beiden Augen eine etwas andere Abbildung der Realität wahr. Das Gehirn setzt die beiden Seheindrücke zu einem dreidimensionalen Bild zusammen. So erhalten wir eine räumliche Vorstellung unserer Umgebung und können z.B. auch Entfernungen abschätzen.

Monokulares und binokulares Sehen

Der Mensch nimmt seine Umwelt zu einem großen Teil mit den Augen wahr und kann abschätzen, wie weit entfernt Dinge liegen, welche Position sie zueinander haben und vieles mehr. Räumliche Wahrnehmung entsteht durch die Interpretation von Bildinformationen, die mit den Augen aufgenommen und im Gehirn verarbeitet werden. Die Mechanismen, mit denen unser Gehirn den Seheindruck aus den Bildern auf der Netzhaut gewinnt, beruhen auf dem monokularen (einäugigen) und dem binokularen (zweiäugigen) Sehen.

Das monokulare Sehen sorgt dafür, dass wir bereits beim Betrachten einer zweidimensionalen Abbildung - wie etwa einer Fotografie oder beim Blick mit nur einem Auge - eine Wahrnehmung von Tiefe haben. Wer schon mal ein Landschaftsbild gemalt hat, könnte bewusst oder unbewusst die sogenannte lineare Perspektive verwendet haben. Linien, die in der Realität parallel sind, scheinen am Horizont zusammenzulaufen. Ein weiterer monokularer Effekt ist, dass Objekte, die nah am Horizont liegen, von unserem Gehirn als weiter weg interpretiert werden, als solche, die deutlich darunter oder darüber liegen. Daher wirkt der Mond, wenn er knapp über dem Horizont steht oft größer, als wenn er höher am Himmel zu sehen ist.

Bei vielen bekannten Objekten wissen wir bereits, welche von ihnen etwa in der gleichen Größenordnung liegen, zum Beispiel Bäume, Häuser und Straßenlaternen. Da die relative Größe auf einem zweidimensionalen Abbild im Verhältnis zur Entfernung zwischen Beobachter und Objekt steht, vergleicht das menschliche Gehirn die Objekte im Sehfeld miteinander und greift dabei auf bisherige Erfahrungen zurück. Danach müssen sich ähnlich große Objekte, die auch im aktuellen Abbild gleich groß sind, in etwa derselben Entfernung befinden. Unsere Erfahrung hilft uns außerdem dabei, Gegenstände, die im Hintergrund nur teilweise zu sehen sind, tatsächlich als verdeckt wahrzunehmen und nicht etwa als abgeschnitten oder durchtrennt. Dieser Mechanismus wird zum Beispiel im Theater mit versetzt stehenden Kulissen genutzt, um den Eindruck von Tiefe zu verstärken.

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Der Lichteinfall ist ein weiterer Faktor, der die räumliche Wahrnehmung beim monokularen Sehen bestimmt. Räumliche Körper haben eine bestimmte Helligkeitsverteilung auf ihrer Oberfläche, Erhöhungen und Vertiefungen werfen zusätzlich Schatten. Um Innen- und Außenwölbungen ohne Widerspruch zu unterscheiden, muss das Gehirn die Position der Lichtquelle kennen. Der Mensch nimmt dabei vorzugsweise Licht von oben an, da die Sonne unsere natürliche Lichtquelle ist. Bei der Abschätzung der Entfernung orientieren wir uns ebenfalls am Licht. Da Staubartikel in der Luft das Licht trüben, erscheinen weit entfernte Objekte unschärfer und bläulich eingefärbt. Dieser Effekt ist auf Fotografien ebenso erkennbar wie in der dreidimensionalen Wirklichkeit.

Beim binokularen Sehen wird der Seheindruck aus den leicht unterschiedlichen Bildern zusammengesetzt, die unsere Augen liefern. Einer der stärksten Effekte beim binokularen Sehen ist die Parallaxe. Sie beruht darauf, dass die Augen ein nahes Objekt aus deutlich anderen Perspektiven abbilden. Daher scheint unser Daumen zu „springen“, wenn wir ihn nah vors Gesicht halten und abwechselnd mit dem einem und dem anderen Auge betrachten. Zum binokularen Sehen gehört weiterhin die sogenannte Konvergenz. Beim Betrachten eines Objekts liegt der Brennpunkt der beiden Augen am selben Punkt, die zwei Blicklinien bilden einen Winkel. Dieser Winkel ist bei nahen Objekten größer als bei weit entfernten. Damit das Bild auf der Netzhaut immer scharf bleibt, müssen sich die Augenlinsen in der Regel stärker krümmen, je näher das Objekt liegt.

Die Kombination aller Mechanismen des monokularen und binokularen Sehens erzeugt einen räumlichen, dreidimensionalen Seheindruck. Nur mit dem monokularen Sehen, zum Beispiel beim Betrachten eines Fotos oder eines klassischen Films, sind vollständig räumliche Eindrücke jedoch nicht möglich. Um in einem 3D-Film einen vergleichbaren Seheindruck zu schaffen wie in der Wirklichkeit, müssen deshalb zwei unterschiedliche Abbilder vom rechten und linken Auge wahrgenommen werden.

Innere Zustände des Gehirns beeinflussen die Wahrnehmung

Innere Zustände des Gehirns bestimmen mit, wie die Sinneseindrücke der Augen kodiert werden. Was wir sehen, ist nicht einfach nur eine neuronale Repräsentation des optischen Eindrucks im Auge, sondern eine Interpretation dieses Bildes, bei der auch unsere Bedürfnisse und Erwartungen einfließen. Diese Faktoren werden durch frühere Erfahrungen geprägt und hängen auch von inneren Zuständen wie unserer Verhaltensaktivität und unserer Wachsamkeit oder Aufmerksamkeit ab - zusammen oft als „Erregungszustand" (engl. „arousal“) bezeichnet.

Die Rolle des visuellen Thalamus

In einer neuen Publikation, die kürzlich im Fachmagazin PLOS Biology veröffentlicht wurde, haben Forschende der LMU, der Universität Freiburg sowie des Bernstein Centers for Computational Neuroscience die neuronale Aktivität im visuellen Thalamus analysiert. Dabei handelt es sich um ein Hirnareal, das visuelle Signale direkt vom Auge über den Sehnerv empfängt, verarbeitet und weitergibt.

„Es ist seit Langem bekannt, dass die Neuronen des dLGN, wie auch die Neuronen in anderen thalamischen Kernen, auffällige Aktivitätsmuster aufweisen, die mit Erregung in Verbindung stehen“, erklärt LMU-Professorin Laura Busse, Leiterin der Studie und künftig Principal Investigator im Exzellenzcluster SyNergy. Insbesondere wurden zwei zustandsabhängige Feuerungsmodi beschrieben: Burst-Firing, das eher bei niedriger Erregung und Verhaltensinaktivität auftritt, und tonisches Feuern, das bei Wachsamkeit beobachtet wird. „Das hat zu der Hypothese geführt, dass Thalamuskerne Burst- und Tonic-Firing-Modi verwenden, um den Informationsfluss zu und zwischen kortikalen Bereichen je nach Erregungszustand des Tieres dynamisch zu steuern oder zu verändern.“ Experimentell überprüft wurde diese These bisher aber noch nicht. „Die neuronalen Mechanismen, mit denen Erregung die Verarbeitung visueller Informationen beeinflusst, sind nach wie vor ungeklärt.“

In der neuen Studie verglich Busses Team die im Thalamus gemessene Aktivität deswegen direkt mit dem Erregungsgrad. „Die Erregung spiegelt sich im Pupillendurchmesser von Säugetieren wider, wobei größere Pupillen auf einen erregten Zustand hindeuten“, erläutert die Neurobiologin. Auf diese Weise könne man anhand von Veränderungen in der Pupillengröße auf den Erregungszustand eines Tieres schließen. „Wir entdeckten, dass während bestimmter Phasen der Pupillenerweiterung und -verengung unterschiedliche Muster neuronaler Aktivierung auftreten“, so Professor Christian Leibold von der Universität Freiburg und dem Bernstein Center for Computational Neuroscience, ebenfalls Autor der Studie. „Die elektrische Aktivität im visuellen Thalamus ist über zeitliche Skalen von Sekunden bis mehrere Minuten mit der Pupillendynamik gekoppelt.“ Diese Verschiebung der neuronalen Aktivitätsmuster bei Erregung war robust: Sie hing nicht von anderen Faktoren ab, wie zum Beispiel davon, was das Tier sah und ob es sich bewegte, still saß oder seine Augen bewegte.

„Unsere Forschung zeigt also, dass grundlegende visuelle Informationen in verschiedenen Phasen der Erregung mit unterschiedlichen Kodierungen an ‚höhere‘ Hirnareale wie den visuellen Kortex übermittelt werden“, meint Neurobiologin Laura Busse. Das liefere eine erste mechanistische Erklärung dafür, wie die visuelle Wahrnehmung durch Veränderungen des Erregungszustands beeinflusst werden könne.

Wahrnehmung ist selektiv

Wahrnehmung ist immer selektiv: Das Gehirn entscheidet ständig, welche Informationen wichtig genug sind, um ins Bewusstsein vorgelassen zu werden. Ein internationales Forschungsteam hat nun untersucht, welche Gehirnaktivitäten mit Änderungen in der subjektiven Wahrnehmung einhergehen, und dabei charakteristische Muster von Gehirnwellen im präfrontalen Cortex gefunden.

Sehen und Wahrnehmen sind zwei verschiedene Dinge: Ein Großteil der Informationen, die permanent von den Sinnesorganen ins Gehirn strömen, wird nicht bewusst verarbeitet. Komplexe Mechanismen filtern die eingehende Sinnesinformation und gestalten das Bild der Welt, das in unseren Köpfen entsteht. Ein gutes Beispiel dafür ist das Phänomen der binokularen Rivalität: Wenn dem rechten Auge ein Apfel und gleichzeitig dem linken Auge eine Rose gezeigt wird - was beispielsweise mit Hilfe einer Spiegelkonstruktion möglich ist -, können wir niemals beide Objekte gleichzeitig wahrnehmen. Vielmehr sehen wir manchmal bewusst die Rose, dann wieder den Apfel. Die Wahrnehmung wechselt spontan, ohne Einfluss äußerer Reize, vom einen zum anderen Objekt. Das wirft die Frage auf, welche Mechanismen am Werk sind, wenn das Bewusstsein umschaltet.

Max-Planck-Forscher haben nun zur Aufklärung dieser Frage beigetragen: Anhand der Gehirnwellen im präfrontalen Cortex, einem Bereich der Großhirnrinde, der für komplexe Verhaltensweisen wie Entscheidungsfindung und Problemlösung wichtig ist, lassen sich die Wechsel in der Wahrnehmung vorhersagen. Gehirnwellen sind im gesunden Gehirn immer präsent; sie entstehen dadurch, dass Gruppen von Neuronen ihre Aktivität synchronisieren. Betawellen beispielsweise werden üblicherweise mit aktivem Nachdenken und Konzentration in Verbindung gebracht, während gewisse langsamere Wellen eine wichtige Rolle für Schlaf und Erholung spielen.

„Wir haben typische Muster gefunden, wie sich die Aktivität im Bereich von niedrigfrequenten (1 bis 9 Hertz) und Betawellen (20 bis 40 Hertz) unmittelbar vor einem Wahrnehmungswechsel ändert“, sagt Abhilash Dwarakanath, der vormals in der Abteilung Physiologie kognitiver Prozesse am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik in Tübingen arbeitete und nun am Institut NeuroSpin in Paris arbeitet. Gemeinsam mit Vishal Kapoor, der ebenfalls in Logothetis’ Team war und nun Projektleiter am International Center for Primate Brain Research in Shanghai ist, war Dwarakanath federführend bei der Interpretation der Daten, die aus elektrophysiologischen Messungen an Makakenaffen stammen.

Die Ergebnisse stellen eine weitverbreitete neurowissenschaftliche Auffassung in Frage. Im primären visuellen Cortex, wo die visuellen Rohdaten zuerst ankommen, sind manche Neuronen ausschließlich für Informationen aus einem der beiden Augen zuständig. Bislang führten Forschende die Wahrnehmungswechsel darauf zurück, dass diese Neuronen miteinander im Wettstreit liegen und um Aufmerksamkeit konkurrieren. „Man glaubte lange, dass die Impulse einzelner Neuronen ausschlaggebend für bewusste Wahrnehmung seien“, sagt Dwarakanath. „Doch nun stellt sich heraus, dass die langsamen Schwingungen größerer Gehirnregionen die eigentliche Arbeit erledigen; sie entscheiden als Türhüter, welche Sinnesinformation Zugang zu unserem Bewusstsein bekommt.“

Weiterentwicklung einer Bewusstseinstheorie

Dwarakanath betont, es sei unmöglich, Bewusstseinsinhalte aus den Gehirnwellen abzulesen: „Wir können nur sagen, dass das ein bestimmtes Muster der Wellen verlässlich von einem Wechsel in der Wahrnehmung gefolgt wird; Bewusstseinsinhalte können wir aus den Wellen nicht dekodieren.“ Weiter gibt er zu bedenken, es sei unmöglich, aus den Daten abzuleiten, ob die Gehirnwellenmuster den Wechsel verursachen oder ob sie ihm lediglich vorangehen.

Die Ergebnisse berührt eine tiefergreifende Frage, über die in Philosophie und Neurowissenschaft gleichermaßen gestritten wird: Wie können bewusste Erfahrungen im Gehirn entstehen? Theofanis Panagiotaropoulos, der das Projekt konzipierte und leitete, nennt die neuen Ergebnisse eine „Verfeinerung der Globalen Arbeitsraumtheorie“, einer Bewusstseinstheorie, die dem präfrontalen Cortex eine zentrale Rolle zuschreibt. Panagiotaropoulos ist an einem großangelegten Kollaborationsprojekt beteiligt, das die beiden konkurrierenden Haupttheorien des Bewusstseins gegeneinander testet.

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