Die alkoholische Polyneuropathie ist eine Form der Polyneuropathie, die durch chronischen Alkoholkonsum verursacht wird. Dabei kommt es durch die neurotoxischen (nervenschädigenden) Wirkungen des Alkohols zu funktionellen Beeinträchtigungen der peripheren Nerven.
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Was ist eine Polyneuropathie?
Unter dem Begriff „Polyneuropathien“ wird eine Gruppe von Erkrankungen zusammengefasst, bei denen es zu Schädigungen des peripheren Nervensystems kommt. Infolge dieser Schädigungen ist die Funktion der betroffenen Nerven gestört. Weil mehrere Nerven beziehungsweise ganze Nervenstrukturen betroffen sind, spricht man von Polyneuropathie (griechisch poly = viel, mehrere).
Das periphere Nervensystem (PNS) umfasst aus anatomischer Sicht jenen Teil der Nerven, der nicht zum zentralen Nervensystem (ZNS) gehört - also nicht innerhalb des Schädels oder des Wirbelkanals liegt. Die Nerven des PNS sind allerdings funktionell mit dem zentralen Nervensystem verbunden. Sie leiten Impulse aus dem Gehirn und Rückenmark an die zu versorgenden Organe und Gewebe weiter und sorgen damit für eine physiologische Reaktion an den Zielorganen.
Zum peripheren Nervensystem gehören alle Nerven, die außerhalb des Gehirns und des Wirbelkanals liegen, also nicht Teil des zentralen Nervensystems sind. Periphere Nerven steuern Muskelbewegungen und Empfindungen wie Kribbeln oder Schmerz. Auch das vegetative Nervensystem ist Teil des peripheren Nervensystems. Seine Nervenstränge koordinieren automatisch ablaufende Körperfunktionen wie Atmen, Verdauen oder Schwitzen.
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Abhängig von der Ausprägung der Nervenschäden und der Körperstelle unterscheiden Fachleute vier Formen:
- Symmetrische Polyneuropathie: Die Schäden an den Nervenbahnen betreffen beide Körperhälften.
- Asymmetrische Polyneuropathie: Die Erkrankung beeinträchtigt eine Seite des Körpers.
- Distale Polyneuropathie: Die Nervenschädigung zeigt sich in Körperteilen, die von der Körpermitte entfernt sind. Dazu gehören unter anderem die Hände, die Beine und die Füße.
- Proximale Polyneuropathie: Bei dieser seltenen Form der Polyneuropathie konzentrieren sich die Nervenschäden auf rumpfnahe Körperbereiche.
Neben der Einteilung nach Ausfallerscheinungen gibt es noch weitere Möglichkeiten Polyneuropathien einzuteilen, z. B. nach Nervenfasertyp oder Innervationsgebiet. Ist eine Neuropathie nicht klassifizierbar, so handelt es sich um eine idiopathische Polyneuropathie.
Ursachen der alkoholischen Polyneuropathie
Alkohol ist ein zell- und nervenschädigendes Gift, das im Körper großen Schaden anrichten kann. Eine Polyneuropathie kann laut aktuellem medizinischem Forschungsstand durch mehr als 500 unterschiedliche Ursachen entstehen. Dennoch gilt die Alkoholsucht und die daraus resultierende Mangelernährung neben Diabetes als Hauptauslöser der Krankheit. Zwischen 22 und 66 % aller Alkoholiker entwickeln früher oder später eine Form dieser Erkrankung. Männer sind signifikant häufiger betroffen als Frauen.
Weshalb eine Neuropathie vor allem bei Menschen mit einem besonders hohen Alkoholkonsum auftritt, ist bislang noch nicht vollständig geklärt. Alkohol bzw. Ethanol ist eine neurotoxische Substanz. Demzufolge spricht man in diesem Zusammenhang von einer exotoxischen, d. h. von einer durch eine äußere Substanz hervorgerufenen Schädigung.
Durch eine Alkoholsucht kann es zur Vernachlässigung der Ernährung kommen. Mögliche Folgen sind Unter- und Mangelernährung, bei der dem Körper lebensnotwendige Vitamine und Nährstoffe nicht ausreichend zugeführt werden, so dass es zu einer peripheren Neuropathie kommen kann. Vor allem die B-Vitamine spielen im Krankheitsverlauf eine wichtige Rolle. So wurde ein Vitamin B1-Mangel oder eine dauerhaft unzureichende Versorgung mit dem Vitamin B12 in vielen Fällen als Ursache für die Entstehung der Erkrankung ermittelt. Weitere Vitamine, die im Verdacht stehen bei einer unzureichenden Versorgung zu einer Schädigung der peripheren Nerven zu führen, sind die Vitamine B6 und B9.
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Neben Alkohol, Diabetes und einem Vitaminmangel können Vergiftungen durch Schwermetalle, Infektionskrankheiten, Nebenwirkungen chemotherapeutischer Behandlungen sowie autoimmunbiologische Faktoren Neuropathien auslösen.
Risikofaktoren für Polyneuropathien:
- Hoher Alkoholkonsum schädigt direkt die Nerven und die Leber
- Rauchen beeinträchtigt die Sauerstoffversorgung der Nerven
- Mangelernährung oder einseitige Kost führen zu Vitamin- und Nährstoffmangel
- Bewegungsmangel verringert die Durchblutung und damit auch die Sauerstoffversorgung
- Starkes Übergewicht fördert Leber- und Gefäßschäden
- Drogen- oder Medikamentenmissbrauch schädigt Leber und Nieren
Symptome der alkoholischen Polyneuropathie
Die alkoholische Polyneuropathie entwickelt sich in der Regel langsam. Der Verlauf der Erkrankung ist individuell. Welche peripheren Nerven betroffen sind, wie stark die körperlichen Beeinträchtigungen sind und wann die ersten Symptome auftreten, kann nicht vorausgesagt werden.
Bei der toxischen, durch Alkohol ausgelösten Polyneuropathie (alkoholische Polyneuropathie) kann es teilweise sogar vorkommen, dass gar keine Symptome identifiziert werden. Normalerweise reichen die Symptome bei Patienten von einfachen Missempfindungen wie einem leichten Kribbeln in Händen oder Füßen über Störungen in der Temperatur- und Druckwahrnehmung bis hin zu starken Schmerzen und Lähmungen in den Extremitäten.
Die sensiblen Neuronen sind in der Regel am anfälligsten für Schädigungen durch einen zu hohen Konsum von Alkohol. Für gewöhnlich sind die Zehen als erstes von Schmerzen, Kribbeln oder anderen Störungen betroffen, die meist symmetrisch auftreten. Das bedeutet, dass die Störungen auf beiden Körperseiten wahrgenommen werden.
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Häufige Symptome sind:
- Missempfindungen wie Kribbeln, Brennen und „Ameisenlaufen“
- Schmerzen in den betroffenen Körperbereichen, häufig in den Beinen
- Störungen des Berührungs-, Schmerz- oder Temperaturempfindens
- Muskelschwäche, Muskelzucken, Muskelkrämpfe bis hin zu Lähmungen der Muskulatur
- Muskelschwund
- Herzrhythmusstörungen
- Völlegefühl und Appetitlosigkeit
- Aufstoßen, Blähungen, Durchfall und Verstopfung
- Urininkontinenz, Stuhlinkontinenz
- Impotenz
- Störung der Schweißregulation
- Kreislaufprobleme, z. B mit Schwindel beim (raschen) Aufstehen
- Schwellung von Füßen und Händen
Wenn Teile des vegetativen Nervensystems in Mitleidenschaft gezogen werden, kann dies im schlimmsten Fall sogar lebensbedrohliche Folgen nach sich ziehen. Schließlich sind die vegetativen Nerven dafür verantwortlich, dass lebenswichtige Organe ihre Aufgaben ordnungsgemäß erfüllen. In einem solchen Fall kann es zu einem Atemstillstand oder Herzrhythmusstörungen kommen.
Diagnose der alkoholischen Polyneuropathie
Die Diagnostik der Krankheit erfordert einige Erfahrung. Die Diagnose von Polyneuropathien erfolgt meist in mehreren Schritten. Es ist wichtig, Krankheiten mit ähnlichen oder gleichen Symptomen vor dem Beginn einer Behandlung durch sorgfältige Untersuchungen auszuschließen (Differenzialdiagnostik).
Zunächst erfolgt ein Arzt-Patient-Gespräch, in dem die Krankengeschichte des Betroffenen erhoben wird (Anamnese). Neben einer Schilderung der bestehenden Beschwerden erfolgt eine Nennung eventueller Grund- und Vorerkrankungen. Hierbei sind Angaben zum Alkohol- und Drogenkonsum besonders wichtig. Um eine Alkoholische Polyneuropathie zuverlässig zu diagnostizieren, ist eine ehrliche Antwort notwendig.
Um die Symptome einer Polyneuropathie zu lindern, ist regelmäßige Bewegung sehr wichtig. Man kann eine Polyneuropathie vermuten, wenn sich das Gefühl in den Füßen beim Sockenanziehen verringert oder wenn eine Gangunsicherheit auftritt, ohne dass eine andere Erkrankung als Ursache in Frage kommt.
Körperliche Untersuchung:
- Überprüfung von Muskelkraft, Reflexe sowie die Wahrnehmung von Berührungen, Temperatur und Vibration.
- Test auf Berührungsempfindlichkeit: z. B. mit einem Nylonfaden, der leicht auf Hände und Füße gedrückt wird
- Test auf Vibrationsempfindlichkeit (Stimmgabeltest): Eine angeschlagene Stimmgabel wird an den Hand- oder den Fußknöchel gehalten. Der Stimmgabeltest prüft, ob die Tiefensensibilität erhalten ist.
- Untersuchung der Muskeleigenreflexe
- Bestimmung des Druck- und Temperaturempfinden
Elektrophysiologische Untersuchungen:
- Die Elektroneurografie (ENG) misst, wie schnell Nerven eine Erregung weiterleiten.
- Die Elektromyografie (EMG) zeichnet die Aktivität eines Muskels in Ruhe und bei Anspannung auf.
Weitere Untersuchungsmethoden:
- Bluttests können behandelbare Ursachen der Polyneuropathie aufdecken, beispielsweise einen Vitamin-B12-Mangel oder einen bis dahin unbekannten Diabetes mellitus.
- Eine Analyse des Nervenwassers (Liquoruntersuchung) hilft beispielsweise, entzündlich bedingte Polyneuropathien festzustellen.
- Bei Anhaltspunkten für eine genetische Polyneuropathie ist eine Erbgutanalyse möglich.
- Der Verdacht auf seltene, aber behandelbare Polyneuropathien kann in besonders schweren Krankheitsfällen eine Probenentnahme aus dem Nervengewebe (Nervenbiopsie) rechtfertigen.
Behandlung der alkoholischen Polyneuropathie
Die Therapie der Polyneuropathie richtet sich nach der festgestellten Ursache und nach dem Beschwerdebild. Um eine Alkoholische Polyneuropathie erfolgreich zu behandeln, sollten die Nervenschäden durch Alkohol möglichst früh erkannt und behandelt werden.
Die wichtigste Voraussetzung ist jedoch immer der Verzicht auf Alkohol. Bei einer durch Alkohol verursachten Polyneuropathie sollte auf Alkohol verzichtet werden, um eine Verschlimmerung zu verhindern. Wer trotzdem weiter Alkohol trinkt, riskiert eine Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes und muss in Kauf nehmen, dass die Störungen schlimmer und Schmerzen chronisch werden.
Da es Suchtkranken sehr schwer fällt, aus eigenem Willen auf alkoholische Getränke zu verzichten, ist in vielen Fällen professionelle Unterstützung erforderlich. Im Rahmen eines stationären Entzugs erhalten Betroffene die Gelegenheit, ihren Körper vollständig vom Alkohol zu befreien und zu entwöhnen. Sobald die Alkoholzufuhr beendet wurde, kann sich das geschädigte Nervensystem nach und nach regenerieren. Da bei einem Alkoholentzug starke, teils sogar lebensbedrohliche Entzugserscheinungen auftreten können, sollte dieser ausschließlich unter medizinischer Aufsicht durchgeführt werden.
Weitere Behandlungsansätze:
- Schmerztherapie: Gegen die Schmerzsymptomatik werden Pregabalin oder Gabapentin sowie alternativ Duloxetin oder Amitriptylin eingesetzt. Diese Medikamente modifizieren die Schmerzwahrnehmung auf unterschiedlichen Wegen und haben sich als effektiver gegenüber klassischen Schmerztabletten erwiesen. Hierzu bedarf es der Unterstützung eines erfahrenen Neurologen oder Schmerztherapeuten.
- Vitamin-Substitution: Parallel dazu ist es hilfreich, die Versorgung mit verschiedenen Vitaminen zu verbessern. Da eine Alkoholische Polyneuropathie in vielen Fällen mit einem Nährstoffmangel einhergeht, sollten zu niedrige Nährstoffspiegel durch die Einnahme geeigneter Nahrungsergänzungsmittel, insbesondere von B-Vitaminen, schnellstmöglich ausgeglichen werden. Daneben ist eine dauerhafte Ernährungsumstellung notwendig.
- Physiotherapie und physikalische Maßnahmen: Wenn bisherige Behandlungen nicht zur gewünschten Beschwerdefreiheit geführt haben, ist ein Reha-Aufenthalt eine sinnvolle therapeutische Ergänzung. Physiotherapeutische und physikalische Maßnahmen sind als langfristige Behandlungen am effektivsten.
- Reizstromtherapie (TENS): Eine weitere, vielversprechende Möglichkeit der Behandlung ist die transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS), die auch als Reizstromtherapie bekannt ist. Hierbei handelt es sich um eine Methode, mit der chronische Schmerzen gelindert werden können.
Verlauf und Prognose
Die Frage, ob eine Heilung der Polyneuropathie möglich ist, lässt sich leider nicht eindeutig beantworten. Sie hängt unter anderem vom Zeitpunkt der Diagnose, der zugrundeliegenden Erkrankung und dem Ausmaß der bereits bestehenden Nervenschädigung ab.
Insofern die Erkrankung in einer leichten Form vorliegt, ist eine Alkoholische Polyneuropathie bis zu einem gewissen Grad heilbar. Sobald die Erkrankung in einer fortgeschrittenen Form vorliegt, können bereits bestehende Nervenschäden jedoch nicht mehr rückgängig gemacht werden. Um eine Alkoholische Polyneuropathie zu behandeln, ist in erster Linie der Verzicht auf Alkohol notwendig. Da die Erkrankung meist mit Nährstoffmängeln einhergeht, kann die Einnahme geeigneter Präparate die Heilung unterstützen.
Polyneuropathien beeinflussen für gewöhnlich die Lebenserwartung nicht direkt, jedoch kann die Lebensqualität durch Symptome wie Schmerzen, verminderte Mobilität und die damit verbundene erhöhte Sturzgefahr eingeschränkt sein. Die effektivsten Maßnahmen gegen Polyneuropathie sind regelmäßige Bewegung oder Physiotherapie, eine ausgewogene Ernährung und gegebenenfalls die Substitution von Vitaminen.
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