Die Apraxie ist eine neurologische Störung, die die Fähigkeit beeinträchtigt, willkürliche, zielgerichtete Bewegungen auszuführen, obwohl keine motorischen oder sensorischen Beeinträchtigungen vorliegen. Betroffene haben Schwierigkeiten, erlernte Handlungsabfolgen korrekt auszuführen oder den Umgang mit Gegenständen zu planen und umzusetzen. Diese Störung kann erhebliche Auswirkungen auf die Selbstständigkeit und Lebensqualität der Betroffenen haben. Die Apraxie tritt häufig nach einem Schlaganfall auf, kann aber auch andere Ursachen haben.
Definition und Abgrenzung
Apraxie ist definiert als die Unfähigkeit, zielgerichtete Bewegungen auszuführen, die zuvor beherrscht wurden, obwohl die Muskelkraft, die Sensibilität und die Koordination intakt sind. Es handelt sich also nicht um eine Lähmung oder eine Koordinationsstörung im eigentlichen Sinne. Vielmehr ist die Planung und Ausführung von Bewegungsabläufen gestört. Die Betroffenen sind körperlich und geistig in der Lage, bestimmte Bewegungen oder Handgriffe auszuführen, schaffen es jedoch nicht, die notwendigen Muskelbewegungen einzuleiten und zu koordinieren.
Es ist wichtig, die Apraxie von anderen Störungen abzugrenzen, die ähnliche Symptome verursachen können. Dazu gehören:
- Aphasie: Eine Sprachstörung, die das Sprechen, Verstehen, Lesen und Schreiben beeinträchtigt.
- Dysarthrie: Eine motorische Sprechstörung, bei der die Artikulation, Stimmgebung und Sprechatmung beeinträchtigt sind.
- Sprechapraxie: Eine Störung der Planung von Sprechbewegungen, die nicht auf einer motorischen Schwäche oder einer Sprachstörung beruht.
- Neglect: Eine Wahrnehmungsstörung, bei der eine Hälfte der Umgebung oder des eigenen Körpers nicht wahrgenommen wird.
- Ataxie: Eine Störung der Bewegungskoordination.
- Demenz: Eine fortschreitende Verschlechterung der kognitiven Fähigkeiten, die auch die motorischen Funktionen beeinträchtigen kann.
Ursachen der Apraxie
Wenn ein Mensch bestimmte Bewegungsabläufe nicht mehr ausführen kann, die er zuvor beherrscht hat, sprechen Fachleute von einer erworbenen Apraxie. Die häufigste Ursache für eine Apraxie ist ein Schlaganfall der linken Hirnhälfte oder ein beidseitiger Schlaganfall. Die Apraxie tritt meist nach einer Schädigung der sprachdominanten Hirnhälfte auf. Dadurch kann es zu Schädigungen bestimmter Teile des Großhirns und/oder der Nervenbahnen kommen. Weitere mögliche Ursachen sind:
- Hirntumore
- Unfälle mit Verletzungen des Gehirns (Schädel-Hirn-Trauma)
- Neurodegenerative Erkrankungen wie Demenz (insbesondere Morbus Alzheimer, Lewy-Körperchen-Demenz und frontotemporale Demenz)
- Multiple Sklerose
- Alkoholmissbrauch
Formen der Apraxie
Fachleute unterscheiden die Apraxie je nach Art der vorliegenden Störung in verschiedene Kategorien. Die Einteilung kann nach der Lokalisation der Hirnschädigung, der Art der beeinträchtigten Bewegung oder dem zugrunde liegenden kognitiven Defizit erfolgen.
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Klassifikation der Apraxien
| Apraxieform | Beschreibung |
|---|---|
| Ideomotorische Apraxie | Der oder die Erkrankte kann zwar einen Bewegungsablauf gedanklich richtig planen, scheitert aber an der Ausführung. Typische Symptome sind zum Beispiel unvollständig ausgeführte Bewegungen und fehlerhafte Ersatzbewegungen. Betroffene können zum Beispiel nicht richtig Winken oder Bewegungen nachmachen. Nach der älteren Nomenklatur wurde dies als fehlerhafte Planung komplexer Bewegungen bezeichnet. |
| Ideatorische Apraxie | Die betroffene Person hat Probleme damit, Bewegungen sinnvoll zu planen. Häufige Symptome sind, dass Handlungsabfolgen durcheinandergeraten: Jemand dreht beispielsweise eine Flasche vor dem Trinken zu oder hat keine Vorstellung mehr davon, wie man eine Zange, eine Gabel oder eine Haarbürste richtig benutzt. Nach alter Nomenklatur bezeichnete man dies als ideatorische Apraxie. |
| Gliedkinetische Apraxie | Besonders feine und zielgerichtete Bewegungen von Händen und Fingern sind gestört oder wirken ungeschickt. Dabei fehlen die fein abgestimmten Finger- und Handbewegungen, die beispielsweise notwendig sind, um ein kleines Objekt, etwa ein Schräubchen, mit den Fingerspitzen zu ergreifen oder ein Ei so zu halten, dass es weder herunterfällt noch zerquetscht wird. |
| Okulomotorische Apraxie | Bestimmte Augenbewegungen sind gestört. Betroffene können sie zum Teil durch ruckartige Kopfbewegungen ausgleichen. |
| Konstruktive Apraxie | Jemand kann zum Beispiel eine Form nicht mehr nachzeichnen, kneten oder anders gestalten kann, obwohl er oder sie zu den notwendigen Bewegungen in der Lage wäre. |
| Visuomotorische Apraxie | Die Betroffenen haben Probleme, einen Gegenstand zu greifen. Eine oder beide Hände fassen daneben. |
| Bukkofaziale Apraxie | Hier sind bestimmte Zungen- und Gesichtsbewegungen nicht möglich, sodass die Betroffenen zum Beispiel nicht die Nase rümpfen oder über ihre Lippen lecken können. |
| Gliedmaßenapraxie | Die kontextbezogene Konzeption und Ausführung von Handlungen ist gestört. Das kann sich dadurch äußern, dass pantomimische Darstellung oder Imitation von Gesten beeinträchtigt sind. Auch die konkrete bestimmungsgemäße Anwendung von Werkzeugen und Objekten kann gestört sein. Binkofski zufolge charakterisiert die Beschreibung von Defiziten in den 3 beschriebenen motorischen Domänen - Imitation, Pantomime und Werkzeuggebrauch - die Gliedmaßenapraxie besser als die grobe Einteilung in ideomotorisch oder ideatorisch. |
| Exekutive Apraxie | Dabei fehlen die fein abgestimmten Finger- und Handbewegungen, die beispielsweise notwendig sind, um ein kleines Objekt, etwa ein Schräubchen, mit den Fingerspitzen zu ergreifen oder ein Ei so zu halten, dass es weder herunterfällt noch zerquetscht wird. |
Symptome der Apraxie
Eine Apraxie kann sich in sehr unterschiedlichen Symptomen äußern. Während einige Formen im Alltag schnell auffallen, sind andere nur schwer zu erkennen. Die Symptome hängen von der Art der Apraxie und dem Ausmaß der Hirnschädigung ab.
Typische Symptome sind:
- Schwierigkeiten bei der Ausführung von Handlungen auf Aufforderung
- Probleme bei der Nachahmung von Bewegungen
- Unfähigkeit, Werkzeuge oder Gegenstände korrekt zu benutzen
- Schwierigkeiten bei der Planung und Sequenzierung von Handlungen
- Fehlerhafte Ausführung von Bewegungen
- Verlangsamte Bewegungen
- Ungeschicklichkeit
- Schwierigkeiten bei der räumlichen Orientierung
- Probleme bei der Gesichtsmimik oder der Artikulation
Betroffene können zum Beispiel nicht mehr wissen, wie man eine Zahnbürste benutzt oder Wasser in ein Glas einschenkt. Sie können auch Schwierigkeiten haben, kommunikative Handgesten zu machen, zum Beispiel „per Anhalter fahren“ oder „einen Vogel zeigen“. Manche Menschen mit Apraxie bemerken selbst nicht, dass sie zum Beispiel die Gabel als Messer benutzen oder ihr Minenspiel sich verändert hat.
Diagnose der Apraxie
Ärztinnen und Ärzte sollten also bei auffälligen Bewegungsstörungen bereits einen konkreten Verdacht haben, wenn jemand zuvor einen Schlaganfall erlitten hat oder an Demenz leidet. Die Diagnose einer Apraxie erfordert eine umfassende neurologische Untersuchung. Zunächst wird der Arzt oder die Ärztin die Krankengeschichte erheben (Anamnese). Oft benötigt er dabei Unterstützung: Da die Betroffenen meist auch an einer Sprachstörung (Aphasie) leiden, sind hier die Angehörigen und das Pflegepersonal gefragt (Fremdanamnese). Wichtige Informationen sind zum Beispiel Beobachtungen bzgl. des Patientenverhaltens: Kann der Patient seine Wünsche durch Gesten vermitteln oder nicht? Versucht er, die Suppe mit der Gabel zu essen oder aus einer noch verschlossenen Tube Zahnpasta herauszudrücken? Zusätzlich kann der Arzt oder die Ärztin gezielte Fragen und Aufgaben stellen, zum Beispiel:
- pantomimisch vorzuführen, wie man eine Zahnbürste benutzt oder Wasser in ein Glas einschenkt
- mit „echten“ Objekten bestimmte Handlungen zu demonstrieren, zum Beispiel mit einer Schere ein Blatt in zwei Hälften zu schneiden
- kommunikative Handgesten zu machen, zum Beispiel „per Anhalter fahren“ oder „einen Vogel zeigen“
- bestimmte Bewegungen der Hände oder des Gesichts nachzuahmen, zum Beispiel die Nase zu rümpfen oder die Lippen zu spitzen
- einen Gegenstand von einer Oberfläche mit einer oder beiden Händen zu greifen
- Wörter mit und ohne Betonung nachzusprechen
Oft ist auch das Gespräch mit Angehörigen sinnvoll, die die Patientin oder den Patienten im Alltag beobachten können.
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Anhand verschiedener weiterer Untersuchungen, etwa einer Computertomografie (CT) oder einer Magnetresonanztomografie (MRT), können Fachleute erkennen, ob ein Hirnschaden vorliegt und welcher Bereich des Gehirns betroffen ist. Auch eine Messung der Hirnströme per EEG (Elektroenzephalografie) kann sinnvoll sein, ebenso wie eine Punktion des Rückenmarks, um den Liquor (Gehirn-Rückenmark-Flüssigkeit) auf Infektionen zu untersuchen.
Neuropsychologische Testung
Im Rahmen der neuropsychologischen Diagnostik werden verschiedene Tests eingesetzt, um die spezifischen Defizite der Apraxie zu identifizieren. Dazu gehören Aufgaben zur:
- Imitation von Gesten
- Benutzung von Werkzeugen
- Ausführung von Handlungsabfolgen
- Räumlichen Konstruktion
Therapie der Apraxie
Die Chancen auf eine Verbesserung beziehungsweise Heilung der Apraxie sind je nach zugrundeliegender Krankheit sehr unterschiedlich. So schreiten bei einer Demenz die Apraxie-Symptome in der Regel weiter fort; eine Therapie kann diesen Prozess lediglich bremsen. Menschen mit einem Schlaganfall hingegen haben zum Teil gute Chancen, verlorene Bewegungsabläufe neu zu lernen. Behandlungsbedürftig ist eine Apraxie nur dann, wenn die Erkrankung den Betroffenen im Alltag behindert.
Ergotherapie
Hier hilft dann beispielsweise eine gezielte Ergotherapie, die auf die jeweiligen Symptome und die Bedürfnisse der betroffenen Person zugeschnitten ist. Bei der Therapie stehen ergotherapeutische Maßnahmen im Vordergrund. Die Ergotherapie bei Apraxie umfasst Strategien zur Bewältigung der spezifischen Bewegungsschwierigkeiten, Übungen zur Verbesserung der motorischen Planung und der Ausführung von Bewegungen, sowie Anpassungen der Umgebung, um die Selbstständigkeit im Alltag zu maximieren. Die ergotherapeutische Behandlung bei Apraxie beginnt mit einer detaillierten Begutachtung der motorischen Fähigkeiten und der spezifischen Bedürfnisse des Patienten. Anschließend entwickeln unsere Therapeuten einen maßgeschneiderten Behandlungsplan, der auf die Wiederherstellung oder Kompensation der beeinträchtigten Funktionen abzielt. Die Therapie kann spezifische Übungen zur Verbesserung der motorischen Planung, zur Steigerung der Beweglichkeit und zur Stärkung der Muskulatur umfassen. Außerdem setzen wir auf den Einsatz von Hilfsmitteln und Technologien, die die Ausführung von alltäglichen Aufgaben erleichtern.
Physiotherapie und Logopädie
Häufig ist auch eine Kombination mit Physiotherapie und Logopädie hilfreich. Wichtig ist, dass die Erkrankten üben, die fehlerhaften Bewegungen Schritt für Schritt wieder durch die richtigen zu ersetzen. Dabei können Pflegefachkräfte und Angehörige helfen. Je nach Form der Apraxie unterstützen sie die Betroffenen am besten durch genaue sprachliche Anleitungen oder ein Vor- und Mitmachen der Bewegungen. Unerlässlich ist eine enge Rücksprache mit dem ärztlichen sowie dem physio- und ergotherapeutischen Team.
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Angehörigenberatung und -schulung
Angehörige, Freunde und Bekannte sollten Patienten liebevoll und mit Respekt behandeln, denn deren Selbstwertgefühl leidet oft sehr unter der Apraxie. Um die Beeinträchtigungen selber akzeptieren und entspannter damit umgehen zu können, brauchen die Betroffenen die größtmögliche Unterstützung ihres Umfelds. Die Einbeziehung der Angehörigen in die Therapie ist ein wichtiger Faktor für den Erfolg der Behandlung. Durch Schulungen und Beratungen können Angehörige lernen, wie sie die Betroffenen im Alltag unterstützen und die Therapieziele fördern können.
Technische Hilfsmittel
Technische Alltagshilfen, wie beispielsweise Erinnerungs-Apps oder elektronische Orientierungssysteme, können die Selbstständigkeit fördern.
Neuroplastizität und Rehabilitation
Das Gehirn beginnt sich nach Erkrankung oder Schädigung neu zu organisieren - und das bietet auch Chancen für einen guten Verlauf der Aphasie. Die Deutsche Schaganfallhilfe gibt an, dass sich die Beeinträchtigungen von Schlaganfallpatienten mit Aphasie in etwa einem Drittel der Fälle binnen der ersten vier Wochen normalisieren und die Fähigkeiten der Sprache dementsprechend wieder zurückgewonnen werden können. Wesentliche Ziele der Aphasie-Therapie sind die Reorganisation und Kompensation der Hirnareale - bei der Reorganisation erlernen die früheren Nervenzellen ihre alten Aufgaben wieder. Bei der Kompensation lernen andere Nerven die Aufgaben zu übernehmen. Außerdem sollen Betroffene ihre Fähigkeiten aufbauen und zum Sprechen und sozialem Kontakt animiert werden.
Forschungsperspektiven
Welche Hirnnetzwerke sind notwendig, um komplexe Bewegungen zu imitieren, pantomimisch darzustellen oder auszuführen? Können neue Therapien entwickelt werden, die Apraxiebetroffenen helfen, diese Fähigkeiten wiederzuerlangen? Diese Fragen wurden im Rahmen des Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Neurologie 2023 intensiv diskutiert. Im BMBF-Verbundprojekt Apraxie gehen mehrere Forschergruppen verschiedenen Fragen der gestörten Bewegungssteuerung nach, um ihr Wissen miteinander zu verknüpfen.
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