AstraZeneca und Multiple Sklerose-Studien: Eine umfassende Analyse

Die Entwicklung von Impfstoffen, insbesondere im beschleunigten Tempo während der COVID-19-Pandemie, wirft wichtige Fragen hinsichtlich Sicherheit und möglicher Nebenwirkungen auf. Die Studien zu AstraZeneca und deren Auswirkungen auf Multiple Sklerose (MS) sind dabei von besonderem Interesse. Dieser Artikel beleuchtet die verfügbaren Informationen und Studienergebnisse, um ein umfassendes Bild der Thematik zu vermitteln.

Vorläufige Unterbrechung von Studien und mögliche Nebenwirkungen

Klinische Studien werden üblicherweise unterbrochen, wenn schwere Nebenwirkungen auftreten. Im Fall von AstraZeneca wurde die Rekrutierung für eine Studie kurzzeitig unterbrochen, nachdem ein sogenannter "Verdachtsfall einer unerwarteten schwerwiegenden Nebenwirkung" (SUSAR) aufgetreten war. Dabei wurde eine transverse Myelitis beschrieben, also eine Entzündung des Rückenmarks. Es wurde untersucht, ob ein ursächlicher Zusammenhang mit dem Impfpräparat (Impfung) bestehen könnte.

Ein Chefarzt der Infektiologie und Tropenmedizin der München Klinik Schwabing erklärte, dass die beschriebene Transverse Myelitis eine Nebenwirkung der Impfung sein könnte, aber auch eine reine Koinzidenz ohne kausalen Zusammenhang. Die Inzidenz für dieses Krankheitsbild sei äußerst selten, konkret circa 1,3 Fälle auf eine Million Einwohner pro Jahr.

Transverse Myelitis und mögliche Ursachen

Prinzipiell handelt es sich bei einer Transversen Myelitis um eine Entzündung des zentralen Nervensystems (ZNS), in diesem Fall des Rückenmarks. Diese Rückenmark-Entzündung kann spontan oder idiopathisch auftreten. Sie kann aber auch durch Bakterien und insbesondere Viren induziert werden. Damit ist also ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung auf der Basis eines adenoviralen Vektors vorstellbar.

Gentechnisch manipulierte Adenoviren werden bei dem Impfstoff AZD1222 als Vektoren genutzt. Sie haben die Erbinformationen für das Coronavirus (Spike-Protein) integriert. Die Adenoviren sind dabei so abgeschwächt, dass sie nicht mehr im menschlichen Körper wachsen können. Jedoch wird das Coronavirus-Spikeprotein, nachdem es über das Adenovirus in den Wirt gelangt ist, im geimpften Probanden vermehrt und löst eine Immunreaktion aus.

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Dieses Prinzip des ‚Trojanischen Pferdes‘ hat jedoch einen ‚Haken‘: Es könnte eben nicht nur eine Immunreaktion gegen das Spikeprotein von SARS-CoV-2 ausgelöst werden, sondern auch gegen adenovirale Proteine des Vektors. Es gibt noch einen weiteren Grund, warum der Adenovirus-Vektor in diesem Fall für eine unspezifische Immunreaktion verantwortlich sein könnte: er stammt nicht vom Menschen, sondern vom Affen (Schimpansen). Damit ist mit Überschreitung der Artengrenze eine Reaktion auf ein Affen-Fremdprotein im Bereich des Möglichen. Insofern kann man sich vorstellen, dass mit jeder Impfung - falls Mehrfachimpfungen mit diesem Impfstoff erforderlich sein sollten - diese immunologische Reaktion gegen das Affen-Fremdprotein getriggert werden könnte.

Falls sich eine Reaktion gegen die adenovirale Komponente nicht bestätigen lässt, wäre ansonsten auch eine überschießende Reaktion des Körpers gegenüber dem Corona-Spike-Protein vorstellbar. In ersten Testungen mit AZD1222 zeigte sich, dass die Antikörper-Titer gegen das Coronavirus um ein Mehrfaches über dem Niveau liegen, wie wir es von COVID-19 Patienten kennen. Die Immunreaktion könnte also zu stark sein und anderes gesundes Gewebe, wie eben Nervengewebe, attackieren und eine Rückenmarkentzündung (Myelitis) auslösen.

Ethische Standards und transparente Kommunikation

Die weiteren Untersuchungen mittels molekularbiologischer und aerologischer Testungen aus Blut und Rückenmarkflüssigkeit (Liquor) müssen mit aller Sorgfalt durchgeführt und abgewartet werden, um eine finale Einschätzung vornehmen zu können. Sollte sich ein ursächlicher Zusammenhang zum Impfstoff bestätigen, wäre dies ein herber Rückschlag, nicht nur für diesen konkreten Impfstoff, sondern auch für andere Impfstoffe auf der Basis von Adenovirus-Vektoren. Denn nichts muss so sicher sein, wie ein Impfstoff, der voraussichtlich in vielen Millionen Menschen zur Anwendung kommen soll.

Am 8. September 2020 erklärten neun westliche Impfstoff-entwickelnde Firmen, darunter AstraZeneca, bei der Erprobung von SARS-CoV-2-Impfstoffen keinerlei Kompromisse einzugehen. Zwei Tage zuvor, am 6. September 2020, hatte AstraZeneca die Erprobung des Vektorimpfstoffes AZD1222 wegen des Verdachts auf ein schweres unerwünschtes Ereignis, offenbar eine transverse Myelitis, unterbrochen, ohne den Stopp oder die näheren Umstände zu kommunizieren. AstraZeneca erklärte später lediglich, die Patientin habe sich von einer schweren Erkrankung des Rückenmarks erholt und sei nicht mehr hospitalisiert. Auf konkrete Nachfrage teilte die Firma mit, „keine weiteren medizinischen Informationen offenlegen“ zu können.

Bereits im Juli gab es eine nicht öffentlich kommunizierte Studienunterbrechung, nachdem ein Teilnehmer Symptome einer transversen Myelitis entwickelt hat, die jedoch keine Behandlung erforderte. Später wurde eine nicht mit dem Impfstoff assoziierte Multiple Sklerose diagnostiziert. Dies wurde erst im September durch einen Bericht über eine Telefonkonferenz von AstraZeneca und Investoren bekannt.

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Nach wie vor mangelt es an Informationen, die die rasche Wiederaufnahme der multinationalen Studie in Großbritannien bereits nach sechs Tagen nachvollziehbar machen. In den USA fehlten dem Sicherheitskomitee zu diesem Zeitpunkt hinreichende Hintergrundinformationen, um über eine Fortsetzung der Studie entscheiden zu können. Eine sorgfältige Prüfung erscheint ratsam, da die Häufigkeit einer transversen Myelitis, die durch virale Infektionen ausgelöst werden kann, zum Teil aber auch mit Impfungen in Verbindung gebracht wird, auf lediglich 1 : 250.000 Personen geschätzt wird. Die Abwägung, ob es sich um eine Koinzidenz oder um eine Impfschädigung handelt, ist komplex und schwierig. Die US-amerikanischen National Institutes of Health (NIH) sind „sehr besorgt“, betont Avindra NATH, klinischer Direktor des National Institute of Neurological Disorder and Stroke.

Impfstoffproduzenten tragen mit dazu bei, den Zeitdruck, unter dem sie stehen, zu verstärken: So kündigte AstraZeneca an, bereits im September bzw. Oktober 2020 30 Millionen Dosierungen an Großbritannien und 300 Millionen Dosierungen in die USA zu liefern. Aus diesem Grund produziert AstraZeneca - wie andere Firmen auch - den Impfstoff bereits großtechnisch, während die Erprobung mit Freiwilligen noch läuft - auch auf die Gefahr hin, produzierte Ware entsorgen zu müssen. Möglich wird dies offenbar durch staatliche Subventionierung der Impfstoffentwicklung. Die Strategie - erproben und gleichzeitig produzieren - folgt der öffentlichen Erwartung, so schnell wie möglich gegen SARS-CoV-2 impfen zu können. Akzeptanz in der Bevölkerung für die neuen Vakzinen, mit denen in Kürze Millionen Menschen immunisiert werden sollen, kann aber nur auf der Basis offener Kommunikation und seriöser Erprobung entstehen, die Erkenntnisse zum Ausmaß des Nutzens liefert sowie die zu erwartenden unerwünschten Wirkungen einordnet.

Expertenmeinungen und Empfehlungen zur COVID-19-Impfung bei MS

Im Rahmen eines Expertenchats mit Prof. Mathias Mäurer wurden Fragen rund um die Covid19-Impfung bei Multipler Sklerose beantwortet. Dabei wurde deutlich, dass es keine spezifischen Daten aus den Zulassungsstudien von BioNTech/Pfizer, Moderna oder AstraZeneca zu MS-Patienten gibt.

Einige der wichtigsten Punkte aus dem Chat sind:

  • Impfstoffwahl: Es mag gewisse Unterschiede zwischen den Impfstoffen geben, aber da derzeit keine freie Wahl besteht, ist dies zweitrangig.
  • Impfzeitpunkt bei MS-Therapie: Bei Einnahme von Siponimod sollte die Impfung möglichst vor Beginn der Medikation erfolgen. Unter Ocrevus sollte zwischen letzter Impfung und Ocrevus-Infusion mindestens 2 Wochen liegen.
  • Nebenwirkungen: MS-Kranke müssen aufgrund ihrer Krankheit nicht mit besonderen Nebenwirkungen rechnen. Es kann jedoch vorkommen, dass bestimmte Symptome der MS kurzfristig wieder spürbar werden.
  • Impfung und Schubrisiko: Es gibt keine Bedenken bezüglich eines neuen Schubs durch die Impfung gegen Covid 19.

Prof. Mäurer betonte, dass er jedem MS-Patienten zur Impfung raten würde, da COVID eine unangenehme Erkrankung ist, die es zu vermeiden gilt.

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Aktuelle Empfehlungen zur Corona-Schutzimpfung bei MS

Die Ständige Impfkommission (STIKO) am RKI hat ihre Impf-Empfehlung zur Corona-Schutzimpfung aktualisiert und empfiehlt die Auffrischungsimpfung für alle ab dem 12. Lebensjahr. Menschen mit einer Immundefizienz sollen drei Monate nach einer vollständigen Impfserie eine Auffrischung erhalten. Die STIKO empfiehlt die zweite Auffrischung generell für Menschen ab 70 Jahren, für Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeeinrichtungen sowie Tätige in medizinischen Einrichtungen und Pflegeeinrichtungen.

Menschen mit MS, wie auch andere mit Immundefizienz, können den voraussichtlich ab Ende Februar zur Verfügung stehenden Impfstoff Nuvaxovid® erhalten, insbesondere dann, wenn sie eine produktspezifische medizinische Kontraindikation gegen mRNA-Impfstoffe haben oder wenn eine solche nach der ersten Impfung entstanden ist. Dann kann die Impfserie mit Nuvaxovid® fortgesetzt werden.

Der DMSG-Bundesverband befürwortet das Impfen gegen Covid-19 weiterhin nachdrücklich. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass auch geimpfte oder genesene Personen als Überträger der Erkrankung eine Rolle spielen können. Die Hygieneregeln sollten daher von allen unbedingt eingehalten werden.

Studienergebnisse zu Ocrelizumab und Frühtherapie mit monoklonalen Antikörpern

Inzwischen liegen aus zwei Studien Daten zur Impfantwort unter Ocrelizumab vor, die zeigen, dass ein Teil der Behandelten keine ausreichenden Antikörper gegen das Spike-Protein bilden, aber die zelluläre Abwehr gegenüber der unbehandelten Vergleichsgruppe sogar überlegen ist. Für den Einzelfall versucht man eine Optimierung des Impfansprechens, z. B. durch Verschieben erneuter Anti-CD20-Gabe, zu erreichen.

Da auch eine vollständige Impfung gegen das Coronavirus niemanden zu 100 Prozent vor einer Infektion schützt, sind MS-Erkrankte, bei denen aufgrund der Immuntherapie (speziell bei B-Zell-Hemmern und auch bei den sogenannten S1P1-Antagonisten) eine nicht ausreichende Immunreaktion auf die Impfung vermutet werden kann, besonders im Falle einer Infektion mit dem Sars-CoV-2-Virus gefährdet. Der Einsatz von neutralisierenden monoklonalen Antikörpern (nMAB) oder neuen antiviralen Medikamenten in der Frühphase (innerhalb von fünf Tagen nach Auftreten der Symptome) einer Erkrankung mit dem SARS-CoV-2-Virus bei Menschen mit Immundefizienz (dazu zählen auch immunsupprimierte MS-Erkrankte) kann einen schweren Verlauf verhindern.

Corona-Schutzimpfung bei Minderjährigen

Die STIKO empfiehlt seit dem neunten Dezember 2021 auch Kindern im Alter von fünf bis elf Jahren mit Vorerkrankungen wie der Multiplen Sklerose die COVID-19-Impfung. Zusätzlich wird die Impfung auch Kindern empfohlen, in deren Umfeld sich Kontaktpersonen mit hohem Risiko für einen schweren Covid-19-Verlauf befinden, die selbst nicht oder nur unzureichend durch eine Impfung geschützt werden können. Dies könnte bei MS-Erkrankten unter bestimmten Medikationen der Fall sein. Kinder erhalten nur ein Drittel der Impfdosis von Erwachsenen.

Beobachtungsstudie von DMSG und MS-Register

Gemeinsam mit dem Deutschen MS-Register erhebt die DMSG mittels einer Online-Befragung Daten von MS-Erkrankten in Zusammenhang mit der Corona-Schutzimpfung. Ziel ist es, bessere Erkenntnisse über die Corona-Schutzimpfung bei MS zu erfahren, um besser über Nebenwirkungen der Schutzimpfung, mögliche Schübe im zeitlichen Zusammenhang damit und den Schutz vor einer COVID-19-Infektion mit und ohne Schutzimpfung zu erfassen und auszuwerten.

Neue Studie zeigt: COVID-19-Impfung verursacht keine MS-Schübe

Eine neue Studie im Fachmagazin „Neurology“ zeigt, dass eine Covid-19-Impfung keine MS-Schübe verursacht. Die Studie aus Frankreich ergab, dass es sowohl für Erst- als auch für Folgeimpfungen keinen Zusammenhang mit MS-Schüben gab. Im Gegenteil: Nach Covid-Impfungen kam es sogar etwas seltener zu Schüben.

Allerdings rät Dr. Xavier Moisset von der Universität Clermont Auvergne in Clermont-Ferrand zur Vorsicht bei Patienten mit der höchsten Entzündungsaktivität. Sie sollten vor einer Auffrischungsimpfung eine krankheitsmodifizierende Behandlung erhalten, da das Risiko für einen Schub bei Menschen mit hoher MS-Aktivität, die in den letzten zwei Jahren mindestens zwei Rückfälle hatten, nach einer dritten Impfung geringfügig erhöht war.

Frühere Studienunterbrechungen und der Fall AstraZeneca

Der britisch-schwedische Pharmakonzern AstraZeneca hat die klinische Studie für seinen Corona-Impfstoff nicht zum ersten Mal gestoppt. Die entscheidende Phase-III-Studie mit dem Kandidaten AZD1222 musste am 6. September unterbrochen werden, da eine britische Probandin schwere neurologische Symptome entwickelt hatte. Die Frau hatte Symptome einer transversen Myelitis gezeigt, wie Astra-Zeneca bestätigte.

Bereits im Juli war die Testung ein erstes Mal ausgesetzt worden, da bei einem Probanden neurologische Symptome aufgetreten waren. Bei diesem wurde eine Multiple Sklerose diagnostiziert, deren Entwicklung nicht ursächlich auf die Impfung zurückzuführen war, sondern nur in einem zeitlichen Zusammenhang stand.

Kein Impfschaden durch Hepatitisimpfung bei MS

In Baden-Württemberg ist ein früherer Bundeswehrsoldat vor dem Landessozialgericht damit gescheitert, seine Erkrankung an Multipler Sklerose (MS) als Impfschaden durch eine dienstlich veranlasste Hepatitisschutzimpfung anerkennen zu lassen. Das Gericht urteilte, dass der Warnhinweis in der Packungsbeilage über eine MS als sehr seltene Nebenwirkung der Impfung als Beleg nicht ausreicht. Außerdem hätten mehrere Studien keinen Zusammenhang zwischen Hepatitisimpfungen und MS gezeigt.

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