Autismus und das prädiktive Gehirn: Ein neuer Blick auf das autistische Denken

Einführung

In der modernen Gesellschaft, die von Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit geprägt ist, benötigen wir ein Gehirn, das schnell und unbewusst Vorhersagen treffen und den jeweiligen Kontext angemessen berücksichtigen kann. Das Konzept des "prädiktiven Gehirns" bietet einen innovativen Ansatz zum Verständnis der Informationsverarbeitung im Gehirn und wirft ein neues Licht auf Autismus. Dieser Artikel beleuchtet die Grundlagen des prädiktiven Gehirns, seine Bedeutung für Autismus und die daraus resultierenden Implikationen für Diagnostik, Therapie und Inklusion.

Das prädiktive Gehirn: Eine Revolution in der Kognitionswissenschaft

Die traditionelle Sichtweise der Wahrnehmung geht davon aus, dass wir die Welt in drei Schritten erleben: Reizempfang, Reizverarbeitung und Reaktion. Das Gehirn nimmt also passiv Informationen auf und reagiert auf Ereignisse in der Umwelt. Eine alternative Theorie, das "predictive coding", hat sich jedoch als präzisere Erklärung etabliert. Demnach fließen Informationen nicht nur von unseren Sinnesorganen zu den höheren Gehirnarealen, sondern innerhalb dieser Areale werden auch Vorhersagen über Reize aus der Umgebung getroffen, die unsere Wahrnehmung beeinflussen, bevor wir sie tatsächlich erleben. Mit anderen Worten: Das Gehirn ist nicht nur aktiv, sondern proaktiv. Es sagt voraus, was passieren wird, anstatt es nur zu erwarten.

Wie funktioniert prädiktives Codieren?

Das prädiktive Gehirn erstellt kontinuierlich Modelle der uns umgebenden Welt, um die plausibelste Erklärung für das, was gerade passiert, vorherzusagen. Dieser vorausschauende Prozess, auch als "predictive coding" bezeichnet, profitiert von individuellen Erfahrungen und vollzieht sich als ein extrem schnelles, sofortiges und unbewusstes Reagieren auf eine neue Situation oder Information, einen neuen Reiz oder Gedanken. Es ermöglicht uns, unsere Wahrnehmung der Welt so effizient wie möglich zu organisieren.

Ein Beispiel: Wenn wir etwas Kaltes an unserem Fuß spüren und wissen, dass sich eine Katze im Raum befindet, erwarten wir, eine Katze zu sehen, wenn wir nach unten schauen. Wenn wir jedoch eine Metallschnalle entdecken, die von einem Stuhl baumelt, aktualisiert unser Gehirn seine Vorhersage und passt unsere Wahrnehmung an.

Die Bedeutung von Vorhersagefehlern

Das Gehirn gleicht ständig die Realität mit seinen Vorhersagen ab. Bei Abweichungen, sogenannten Vorhersagefehlern, nimmt es eine Überarbeitung seiner bisherigen Antizipation oder Erwartung vor. Würde das Gehirn jedem Vorhersagefehler Aufmerksamkeit widmen, käme es zu einer mentalen Überbelastung. Daher muss es zwischen relevanten und irrelevanten Abweichungen unterscheiden und entscheiden.

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Karl Friston, ein Neurowissenschaftler am University College London, argumentiert, dass das Gehirn bei Fehlfunktionen die gleichen Fehler macht wie ein Statistiker, indem es entweder den Vorhersagen oder den Vorhersagefehlern zu viel Gewicht beimisst.

Autismus und das prädiktive Gehirn: Ein veränderter Blickwinkel

Das Konzept des prädiktiven Gehirns bietet einen neuen Rahmen, um die Besonderheiten der Wahrnehmung und Informationsverarbeitung bei Menschen mit Autismus zu verstehen.

Absolutes Denken versus Kontextblindheit

Peter Vermeulen, ein belgischer Pädagoge und Psychologe, der sich seit über 30 Jahren mit Autismus befasst, argumentiert, dass Menschen mit Autismus oft anders auf Vorhersagen reagieren als nicht-autistische Menschen. Er schlägt vor, den Begriff "Kontextblindheit" durch den neutraleren Begriff "absolutes Denken" zu ersetzen, um eine weniger defizitorientierte Sichtweise zu fördern.

Menschen mit Autismus verlassen sich dem Anschein nach weniger auf Verallgemeinerungen und eher auf konkrete Informationen, die sie unmittelbar wahrnehmen. Sie nehmen die Welt detaillierter wahr und schenken auch kleinen Details viel Aufmerksamkeit. Dies kann einerseits eine besondere Stärke sein, die beruflich genutzt werden kann, andererseits aber auch zu einer Überlastung führen, wenn unwichtige Details nicht ignoriert werden können.

Schwierigkeiten bei der Vorhersage sozialer Handlungen

Eine Herausforderung für Menschen mit Autismus besteht darin, soziale Handlungen kontextbezogen vorherzusagen, das eigene Wissen intuitiv und flexibel kontextspezifisch einzusetzen, zwischen wichtigen und unwichtigen Kontextelementen zu unterscheiden oder schnelle kontextabhängige Vorhersagen zu treffen, die benötigt werden, um sich reibungslos und flexibel in der Welt zurechtzufinden.

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Die Rolle von Zilien

Jüngste Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass winzige haarähnliche Strukturen, sogenannte Zilien, die auf der Oberfläche fast jeder Zelle zu finden sind, eine Rolle bei der gemeinsamen Biologie von Autismus und angeborenen Herzfehlern spielen könnten. Eine Studie unter der Leitung von Dr. Helen Willsey von der University of California in San Francisco ergab, dass Mutationen in Genen, die das Wachstum der Nervenzellen beeinflussen und die Funktion der Zilien beeinträchtigen, sowohl das Risiko für Autismus als auch für angeborene Herzfehler erhöhen.

Implikationen für die Praxis

Das Verständnis des prädiktiven Gehirns hat wichtige Implikationen für die Unterstützung von Menschen mit Autismus.

  1. Fokus auf Hyperreaktivität: Anstatt sich auf die Schaffung einer reizarmen Umgebung zu konzentrieren, sollte der Fokus auf den Umgang mit der Hyperreaktivität gelegt werden, die durch Reize im Gehirn erzeugt wird.
  2. Förderung des emotionalen Wohlbefindens: Angebote zur Entspannung oder Aktivitäten, die den individuellen Interessen entsprechen, können helfen, das emotionale Wohlbefinden, das Selbstwertgefühl, Freude und Glücksgefühle zu fördern und Momenten einer Hyperreaktivität vorzubeugen.
  3. Kognitive Verhaltenstherapie: Die kognitive Verhaltenstherapie kann helfen, Ängste abzubauen oder anders über unangenehme Reize zu denken.
  4. Selbstwirksamkeit stärken: Es ist wichtig, Menschen mit Autismus darin zu unterstützen, selbst Reize zu erzeugen, um Ereignisse besser vorhersehbar zu machen und ein Gefühl der Kontrolle über die eigenen Lebensumstände zu gewinnen.
  5. Kontextbezogene Unterstützung: Angebote einer kontextbezogenen Emotionserkennung sowie kontextualisierte Sozialgeschichten oder Skripte, bei denen Kontextvariationen fokussiert werden, sind effektiver als entkontextualisierte Übungsbehandlungen.

Kritik und offene Fragen

Obwohl das Konzept des prädiktiven Gehirns vielversprechend ist, um Autismus besser zu verstehen, ist es wichtig zu betonen, dass es sich nicht um eine allumfassende Erklärung handelt. Autismus ist ein komplexes Phänomen, bei dem immer auch soziale Aspekte eine Rolle spielen. Es wäre ein Missverständnis anzunehmen, Autismus nunmehr restlos durch den Ansatz des "prädiktiven Gehirns" oder "predictive processing" verstehen zu können.

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