Claudia Schreiber und Alzheimer: Eine Reise der Liebe, des Verlusts und der Akzeptanz

Die Diagnose Alzheimer ist ein Schock, nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für ihre Familien. Für Claudia Schreiber, eine erfolgreiche Romanautorin und Journalistin, bedeutete die Diagnose eine einschneidende Veränderung ihres Lebens. Ihr Sohn, Lukas Sam Schreiber, begleitete sie auf einer Reise, die nicht nur ihren lang gehegten Wunsch erfüllte, sondern auch zu einem tief berührenden Zeugnis ihrer Beziehung und dem Umgang mit der Krankheit wurde.

Aitutaki Blues: Eine Reise zu den Wurzeln und ins Ungewisse

Als Claudia Schreiber die Diagnose Alzheimer erhielt, hatte sie einen Herzenswunsch: eine Reise nach Aitutaki, einer Südseeinsel, die sie seit über 30 Jahren faszinierte. Ihr Sohn Lukas Sam Schreiber erfüllte ihr diesen Wunsch, und gemeinsam begaben sie sich auf eine unvergessliche Reise. Aus dieser Reise entstand der achtteilige Audible-Podcast „Aitutaki Blues - Die letzte Reise mit meiner Mutter & Alzheimer“, eine herzerwärmende Mutter-Sohn-Geschichte, die für den Grimme Online Award 2022 in der Kategorie „Kultur und Unterhaltung“ nominiert wurde.

Lukas Sam Schreiber beschreibt seine Familie als sehr ‚publizierend‘. Sein Vater war Auslandskorrespondent und Kriegsreporter, seine Mutter eine erfolgreiche Schriftstellerin. So war es für beide klar, dass er ihre Reise dokumentieren würde. Zunächst war die Idee ein Buch, das Lukas im Herbst veröffentlichen wird. Doch sein bevorzugtes Medium war der Podcast.

Die Entstehung von "Aitutaki Blues"

Bei der Umsetzung eines solchen Projekts nimmt man verschiedene Rollen ein, so Lukas Sam Schreiber. In der produzierenden Rolle dachte er nicht über die Zielgruppe nach. Zusammen mit der Podcast-Agentur, die hauptsächlich aus ehemaligen Musikproduzenten besteht, konzentrierte er sich darauf, das Narrativ so gut wie möglich zu gestalten und das Projekt so wahnsinnig wie möglich klingen zu lassen. Die Zuhörer würden von selbst kommen.

Erst im Laufe der Produktion und nach der Veröffentlichung kristallisierte sich die Zielgruppe heraus. Es stellte sich heraus, dass fast jeder jemanden kennt, der mit Alzheimer in Berührung gekommen ist. Das Thema ist im Leben vieler Menschen präsent. Eine Pflegekraft sagte, dass sie durch den Podcast erst nach zehn Jahren Arbeit mit Demenzerkrankten verstanden habe, wie sich diese Menschen fühlen. Dies war ein großes Kompliment für Lukas.

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Der Podcast half, einen neuen Einblick in die Krankheit zu bekommen und die Situation von Betroffenen besser einzuschätzen. Es gibt noch wenig Aufklärung über Alzheimer, da die Krankheit selbst noch nicht ausreichend erforscht ist und die Gründe für ihre Entstehung nicht ganz klar sind.

Einblicke in die Gefühlswelt einer Alzheimer-Patientin

Lukas Sam Schreiber hatte keine vorgefertigte Vorstellung davon, wie die Gespräche mit seiner Mutter verlaufen würden. Der Podcast beinhaltet verschiedene Ebenen: eine Mutter-Sohn-Geschichte, die eine besondere Bindung thematisiert. Oft zeigen Männer sich in solchen Beziehungen von ihrer weichsten und verletzlichsten Seite. Zugleich werden sie in eine Rolle gedrängt, in der sie mutig sein müssen, auch wenn sie es nicht wollen.

Lukas möchte im Podcast nicht den Eindruck erwecken, er hätte vollkommen verstanden, wie mit Alzheimer umzugehen ist. Er möchte auch nicht explizit mit Fakten aufklären, sondern vermitteln, wie sich Alzheimer für Betroffene anfühlt. Seine Mutter Claudia kann dies besonders gut beschreiben. Sie schildert, wie es sich anfühlt, des eigenen Instruments beraubt zu werden, wenn man sich zuvor immer auf seinen eigenen Kopf verlassen hat.

Claudia Schreiber beschreibt ihre Alzheimer-Erkrankung anschaulich: „Als wäre ein Fremder plötzlich in meinem Kopf“, „in mir ist keine Struktur“ und „das Vergessen ist ganz schnell“.

Unterstützungssysteme und Schwachstellen in der Gesellschaft

Claudia Schreiber erhält durch das deutsche Gesundheitssystem viel Unterstützung. Die Krankenversicherung deckt Ergotherapie, Physiotherapie oder Neuropsychologie ab. Die Schwachstelle liegt jedoch in der Forschung. Es gibt kaum Fortschritte, die Entstehungsgründe der Krankheit sind noch nicht herausgearbeitet, und es gibt kein Medikament, das wirklich gegen Alzheimer hilft und den Prozess nicht nur verlangsamt oder große Nebenwirkungen hervorruft.

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Es muss sich der Umgang mit betroffenen und kranken Menschen und deren Unterstützung verändern. Alzheimer-Patienten sind nicht die Zielgruppe, an denen die Pharmaindustrie oder die Krankenhäuser gut verdienen könnten. Deswegen sind die Anreize nicht richtig gesetzt.

Emotionale Achterbahnfahrt und die Kraft der Sublimierung

Der Podcast ist eine Vertonung der tiefen Verbindung zwischen Mutter und Sohn. Sie sind sehr kommunikativ und sprechen offen über alles. Die Gesprächsthemen gehen in die Tiefe, und sie sind sehr offen zueinander. Lukas hat es genossen, so aufzuwachsen. Er war nicht überrascht, dass sie Tacheles über alles sprechen konnten - besonders darüber, wie sich die Krankheit für seine Mutter anfühlt.

Claudia Schreiber spricht offen darüber, dass sie nie wieder knutschen wird, weil sich niemand in demente Frauen verliebt. Sie verspürt einen großen Frust und spielt mit dem Gedanken, sich das Leben zu nehmen, weil sie den Albtraum dieser Krankheit nicht erleben möchte.

Lukas hat im Nachhinein den Begriff der Sublimierung gelernt: die kreative Auseinandersetzung mit noch nicht bestehenden Traumata. All die Gespräche mit Claudia waren für beide eine kreative Auseinandersetzung mit ihrer Krankheit. Lukas kennt jeden Satz seiner Mutter in- und auswendig. Er ist dankbar dafür, denn jetzt geht er mit einer neuen Festigkeit mit dieser Situation um und weiß, wie er für Claudia am besten da sein kann. Er ist sich auch der Fehler bewusst, die er vorher in der Kommunikation gemacht hat, und wird diese nie wieder machen.

Reaktionen auf den Podcast und die Bedeutung offener Kommunikation

Lukas Sam Schreiber hat ausschließlich tolles Feedback für den Podcast bekommen. Die Leute lieben seine Mutter, und viele junge Männer sagten ihm, dass sie noch nie so offen mit ihrer Mutter gesprochen haben und dass ihnen diese Art von Kommunikation fremd ist. Einige haben sich nach dem Podcast mit ihrer Mutter hingesetzt und Fragen gestellt, die sie zuvor noch nie gestellt hatten.

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Der Podcast und die tiefgründigen Gespräche mit seiner Mutter haben Lukas' Sichtweise auf das Leben geprägt. Er hat von ihr gelernt, wie wichtig es ist, den Göttern den Mittelfinger zu zeigen und es dennoch zu machen. Auch ihre große Arbeitswut und ihre Fähigkeit, ein Narrativ aufzubauen und den roten Faden des Lebens wahrzunehmen, haben ihn berührt.

Die Auseinandersetzung mit dem Sterben und der Sterbehilfe

Ein Thema, das sich durch den Podcast zieht, ist die Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterben und besonders die Art und Weise, wie man von der Welt gehen möchte. Nach der Rückkehr von Aitutaki stellte sich ständig diese sehr konkrete Frage. Eines der Probleme bei Alzheimer ist, dass Claudia sich oft nicht an vergangene Gespräche erinnern kann. Lukas begann, Möglichkeiten zu recherchieren, wie sie sterben könnte.

Die Sterbehilfesituation in Deutschland hat sich verändert, seitdem das Verfassungsgericht Anfang 2020 das Verbot über die geschäftsmäßige Sterbehilfe aufgehoben hat. Diese Möglichkeit ist für Claudia aber ausgeschlossen, da Demenzerkrankte nicht die freie Willensentscheidung dafür haben. Lukas denkt nicht, dass Claudia sterben möchte, sondern vielmehr Angst davor hat, wie es für sie weitergeht.

Sie haben viel darüber geredet und schließlich eine Produktion mit sterbenden Menschen gestartet. Dabei handelt es sich um Menschen am Rande ihres Lebens, die ihm erzählt haben, wie sie auf ihr Leben blicken. Claudia ist auch ein Teil davon. Jedoch kommen sie jetzt an einen Punkt in ihrer Krankheit, wo nicht mehr so viel möglich ist. Daher handelt es sich wahrscheinlich um das letzte gemeinsame Projekt.

Lukas schreibt zurzeit das Buch zu „Aitutaki Blues“, wozu er sich zusammen mit seiner Mutter auf den Balkon gesetzt hat und ihr daraus vorgelesen hat, da sie selbst nicht mehr lesen kann. Sie hat ihm sehr gute Hinweise gegeben. Als er ihr vorlas, sagte sie plötzlich zu ihm: „Lukas, ich kann jetzt noch gar nicht sterben, ich muss doch zu deiner ersten Lesung!“

Forschung und Behandlung von Alzheimer

Alzheimer ist eine Krankheit, über die man immer noch erschreckend wenig weiß. Klar ist, dass die Erkrankung schon lange beginnt, bevor sie sich nach außen bemerkbar macht. Bei Alzheimer handelt es sich um einen komplizierten Krankheitsprozess mit vielen Akteuren und Unbekannten.

Es gibt jedoch Hoffnung. Ein neuer Wirkstoff namens Aducanumab wurde in den USA zur Behandlung von Alzheimer zugelassen. Zudem gibt es verschiedene Möglichkeiten, die Erkrankung zu entschleunigen. Menschen sollten so lange wie möglich aktiv am Leben teilnehmen, eine Sprache lernen, ein Instrument spielen, tanzen oder Computerspiele spielen.

Die medizinische und pflegerische Versorgung von Demenz-Erkrankten ist eine der größten Herausforderungen unserer Gesellschaft. Es braucht innovative Versorgungskonzepte, eine frühe Diagnostik und eine individuelle Betreuung der Betroffenen, die idealerweise multiprofessionell organisiert ist. Speziell geschulte Pflegekräfte können die häusliche Versorgung von Menschen mit Demenz deutlich verbessern.

Die Suche nach dem guten Tod

Lukas Sam Schreiber hat sich im Podcast „Die Suche nach dem guten Tod“ auf die Suche nach dem Tod gemacht - für seine an Alzheimer erkrankte Mutter. Er trifft Menschen, die dem Tod näher als dem Leben sind, und den Sterbeforscher Sheldon Solomon.

Die Recherche und eine kreative Verarbeitung helfen Lukas, einen Umgang mit der Situation seiner Mutter zu finden. Für ihn liegt der Schlüssel in der Akzeptanz dessen, was ist: "Ruhe in der Hoffnungslosigkeit finden". Denn so absurd es klingen mag, liefere Hoffnungslosigkeit eben auch Planungssicherheit.

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