Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die zu Störungen der Bewegungen, der Sinnesempfindungen und auch zur Beeinträchtigung von Sinnesorganen führt. In Deutschland leiden schätzungsweise 280.000 Menschen an MS, weltweit etwa 2,8 Millionen. Angesichts der COVID-19-Pandemie stellt sich für MS-Patienten die Frage, wie sie sich am besten schützen können. Dieser Artikel beleuchtet die wichtigsten Aspekte der Corona-Impfung im Zusammenhang mit MS, basierend auf aktuellen Daten und Empfehlungen von Experten.
Impfempfehlungen für MS-Patienten
Fachgesellschaften sind sich einig: Patienten mit Multipler Sklerose (MS) sollten sich gegen COVID-19 impfen lassen. Die Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG), das krankheitsbezogene Kompetenznetz Multiple Sklerose (KKNMS) und der Berufsverband Deutscher Neurologen (BDN) schätzen das Risiko für einen Schub oder eine Krankheitsverschlechterung durch eine SARS-CoV-2-Infektion deutlich höher ein als durch eine Impfung. Die 3 Organisationen betonen in einer gemeinsamen Stellungnahme, dass weder MS noch Immuntherapien Kontraindikationen für eine Impfung seien.
Die Ständige Impfkommission (STIKO) am RKI hat am 25. Mai ihre Impf-Empfehlung zur Corona-Schutzimpfung aktualisiert. Das RKI empfiehlt u.a. die Auffrischungsimpfung für Personen mit einem erhöhten Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf sowie Personen mit erhöhtem SARS-CoV-2-Infektionsrisiko zukünftig weitere Auffrischungsimpfungen - in der Regel im Mindestabstand von 12 Monaten zur letzten Impfung oder Infektion, vorzugsweise im Herbst durchzuführen.
Zeitpunkt der Impfung in Bezug auf MS-Therapie
Vor Beginn einer MS-Therapie sollte immer der Impfstatus kontrolliert und ggf. fehlende Impfungen nachgeholt werden. Zeitlich sollten die Impfungen ca. zwei bis vier Wochen vor Beginn einer langfristigen Immuntherapie abgeschlossen sein, wenn die MS-Therapie entsprechend verschiebbar ist. Je nach Krankheitsaktivität kann individuell eine frühere Einleitung der MS-Therapie erwogen werden. Ein Herauszögern des Beginns einer MS-Therapie aufgrund einer (anstehenden) Covid-19-Impfung oder aktuell der Boosterung ist je nach Wirkstoff der MS-Therapie, der Schwere der MS-Erkrankung bzw. der MS-Krankheitsaktivität und der individuellen Risikoabschätzung einer Infektion mit SARS-CoV-2 abzuwägen.
Das RKI empfiehlt, dass bei einer anstehenden Impfstoffgabe immunsupprimierende oder immunmodulierende Therapien weitergeführt werden können. Für die bestmögliche Impfwirksamkeit sollte der Zeitpunkt der Impfung mit einer möglichst geringen Immunsuppression gewählt werden. D.h., dass der Impfzeitpunkt zum Beispiel in die Mitte der Verabreichungsintervalle der immunsupprimierenden oder immunmodulierenden Medikation gelegt werden sollte.
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Ein Schub sollte, mit und ohne hochdosierte Schubtherapie, mindestens sechs Wochen zurückliegen, bevor eine Impfung gegen Covid-19 erfolgt. Dies gilt auch, wenn in einer MRT-Kontrolle, auch ohne neue Symptome, Kontrastmittel aufnehmende Herde nachgewiesen wurden.
Einfluss verschiedener MS-Therapien auf die Impfantwort
Moderne MS-Therapien haben ein mehr oder weniger „selektives“ immunsuppressives Potential und können daher die Bildung von Antikörpern in unterschiedlichem Ausmaß beeinflussen. Hier eine Übersicht über die Auswirkungen verschiedener MS-Therapien auf die Impfantwort:
- Alemtuzumab (Lemtrada): In den ersten sechs Monaten nach einem Therapiezyklus der Therapie erfolgen noch abgeschwächte Impfantworten, von daher sollte der Abstand mindestens sechs Monate betragen.
- Azathioprin (Imurek): Abgeschwächte Immunantworten in Abhängigkeit von der Dosierung.
- B-Zell depletierende Therapien (Ocrelizumab/Ocrevus, Ofatumumab/Kesimpta, Rituximab/Mabthera u.a., Ublituximab/Briumvi usw.): Erste Antikörperbestimmungen nach erfolgter Corona-Schutzimpfung bei MS-Erkrankten, die mit B-Zell depletierenden Therapien behandelt wurden, zeigen, dass nach Impfungen mit dem BioNTech-Impfstoff, geimpft vier bis sechs Monate nach der letzten Infusion, nur ein 20-prozentiges Ansprechen bezüglich des Impftiters erfolgt. Empfohlen werden kann eine Impfung am besten vier Monate nach der letzten Infusion. Sollten keine ausreichenden Titer festgestellt werden, werden weitere Impfungen empfohlen. Eine erste Studie (Faissner S.) für MS-Erkrankte unter Ofatumumab zeigt, dass die Impfung im ersten Jahr der Therapie noch zu Impfantworten führt. Auffrischungsimpfungen der Corona-Schutzimpfung erhöhen die Antikörpertiter(Ziemssen T.).
- Cladribin (Mavenclad): Bisherige Daten zeigen ein Impfansprechen auf den Corona-Impfstoff von BioNTech, ca. drei bis vier Monate nach der letzten Tabletteneinnahme. Die Impfung erfolgt am günstigsten dann, wenn sich die Lymphozytenzahl weitgehend normalisiert hat, in der Regel drei Monate nach der letzten Tablettengabe.
- Cortison-Therapie: Die übliche Schubtherapie beeinflusst Impfantworten. Impfungen sollten frühestens zwei Wochen, besser vier Wochen nach einer Hochdosistherapie erfolgen.
- Dimethylfumarat (Tecfidera) und Diroximelfumarat (Vumerity): Keine Hinweise auf verminderten Impfschutz.
- Glatirameracetat: (Copaxone 20 und 40, Clift): Impfreaktion gegen Grippe etwas geringer, aber ausreichend; gegen Corona ähnlich erwartet.
- Immunglobuline: Immunglobuline sind körpereigene Immunfaktoren und enthalten viele Antikörper. Sie bieten daher einen gewissen Schutz gegen verschiedene Virusinfekte. Es ist aktuell bereits anzunehmen, dass die in Deutschland verwendeten Immunglobuline schon relevante Antikörper gegen SARS-CoV-2 enthalten.
- Interferon-beta (Avonex, Betaferon, Extavia, Plegridy, Rebif 22 und 44): Impfungen gegen Grippeviren zeigten eine gegenüber nicht Interferon-beta Behandelten vergleichbare Impfantwort. Bezüglich der Covid-19-Impfungen gibt es vereinzelt Hinweise, dass eine Therapie mit Interferon-Präparaten keinen Einfluss auf die Impfantwort hat. Ein Therapiebeginn mit Interferonen-Präparaten sollte nicht aufgrund einer noch ausstehenden Covid-19-Impfung verschoben werden. Während der Therapie ist, wenn möglich, die Impfung zeitlich jeweils an einem anderen Tag als die Interferon-Applikation zu legen.
- Mitoxantron (Novantron, Ralenova): Aufgrund des Wirkungsmechanismus ist während der Therapiezyklen eine verminderte Impfantwort zu erwarten, die auch nach Beendigung des letzten Zyklus, der langfristige Blutbildveränderungen mit sich bringt. Es sollte mindestens ein Abstand von sechs Monaten nach der letzten Gabe zur Durchführung einer Corona-Schutzimpfung eingehalten werden.
- Natalizumab (Tysabri): Impfantworten gegen Grippeviren waren etwas vermindert, aber ausreichend. Bzgl. der Covid-19-Impfungen gibt es vereinzelt Hinweise, dass eine Therapie mit Natalizumab keinen Einfluss auf die Impfantwort hat, sodass die regelmäßigen Infusionen mit der Corona-Schutzimpfung auch zeitnah einhergehen können.
- Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor Modulatoren (Fingolimod/Gilenya, Ozanimod/Zeposia, Siponimod/Mayzent und Ponesimod/Ponvory): Unter der Therapie mit Fingolimod ist ein reduzierter Impferfolg zu berücksichtigen. Bei den Neuen Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor Modulatoren (Siponimod, Ozanimod, Ponesimod) kommt es in den meisten Studien zu einem guten Impferfolg.. Eine Unterbrechung einer Therapie mit Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor-Modulatoren zur Durchführung der Corona-Schutzimpfung ist aufgrund der bekannten, ungünstigen „Rebound-Effekte“ aus unserer Sicht nicht zu empfehlen.
- Autologe Knochenmarkstransplantation (sog. Stammzelltherapie): Es sind mindestens sechs Monate Abstand zwischen Stammzelltransplantation und Impfung zu empfehlen, um eine ausreichende Impfantwort zu erreichen.
- Teriflunomide (Aubagio): Unter Aubagio kann der Impferfolg bei üblichen Impfungen reduziert sein, wird aber im Allgemeinen als ausreichend angesehen.
MS-Schübe und Corona-Impfung
Es gibt Bedenken, dass eine Covid-19-Impfung MS-Schübe verursachen könnte. Diese Sorge ist jedoch unbegründet, wie eine aktuelle Studie aus Frankreich zeigt. Dies galt sowohl für Erst- als auch für Folgeimpfungen. Auch bei einem Vergleich von MS-Patienten mit und ohne Schübe war kein Zusammenhang mit der Impfung zu erkennen. Im Gegenteil: Nach Covid-Impfungen kam es sogar etwas seltener zu Schüben.
Eine Ausnahme besteht bei hoher MS-Aktivität in den letzten zwei Jahren. Das Risiko für einen Schub bei Menschen mit hoher MS-Aktivität, die in den letzten zwei Jahren mindestens zwei Rückfälle hatten, war nach einer dritten Impfung geringfügig erhöht. In solchen Fällen ist Vorsicht geboten und vor einer Auffrischungsimpfung sollte eine krankheitsmodifizierende Behandlung erfolgen.
Antikörperantwort und Booster-Impfungen
Auch nach drei oder vier COVID-19-Impfungen bilden Menschen mit MS, die mit Anti-CD20-Therapien behandelt werden, weniger Antikörper gegen SARS-CoV-2 als gesunde Impflinge. Dennoch entwickelte jeder fünfte Betroffene, der nach zwei Impfungen keine Antikörper im Blut hatte, diese doch noch nach einer dritten Impfung. Interessanterweise verbesserte sich auch die Funktionalität der vorhandenen SARS-CoV-2-Antikörper nach einer dritten oder vierten Impfung - die Antikörper banden stärker an das Virus und neutralisierten neuere SARS-CoV-2-Varianten besser.
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Patienten unter Therapie mit Anti-CD20-Antikörpern oder S1P-Modulatoren wird zu einer Auffrischimpfung schon 4 Wochen nach der 2. Impfung anstatt wie üblich nach frühestens 3 Monaten geraten. Grundsätzlich empfehlen die drei Fachorganisationen in Übereinstimmung mit der Ständigen Impfkommission (STIKO) allen MS-Patienten eine Auffrischimpfung gegen SARS-CoV-2 mit einem mRNA-Impfstoff.
Bedeutung der AHA+L-Regel und frühzeitige Behandlung
Schwer betroffenen MS-Erkrankten wird aufgrund möglicherweise erheblicher Risiken durch eine Covid-19-Infektion weiter die Beachtung der A-H-A+L-Regel empfohlen, insbesondere bei Treffen in geschlossenen Räumen und bei Veranstaltungen.
Für Infizierte mit hohem Risiko für einen schweren Covid-19-Verlauf - auch solchen mit fehlender oder unvollständiger Immunisierung - ist in den ersten Tagen nach Symptombeginn eine frühzeitige Gabe von Virostatika (antivirale Medikamente) wie Paxlovid®, Veglury®, Lagevrio® möglich. Bei Eintreten einer SARS-CoV-2-Infektion und vorhandener Immundefizienz (immunsupprimierte MS-Erkrankte) sollte man sich umgehend mit dem behandelnden Neurologen in Verbindung setzen.
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