Das menschliche Gehirn: Ein Wunderwerk der Natur

Das menschliche Gehirn ist zweifellos das komplexeste Organ, das die Natur hervorgebracht hat. Mit seinen rund 100 Milliarden Nervenzellen und einer noch größeren Anzahl an Kontaktpunkten übertrifft es in seinen Fähigkeiten selbst modernste Supercomputer. Seine bemerkenswerteste Eigenschaft ist seine Lernfähigkeit, die es uns ermöglicht, uns an neue Situationen anzupassen und uns kontinuierlich weiterzuentwickeln.

Die lebenslange Lernfähigkeit des Gehirns

Lange Zeit gingen Wissenschaftler davon aus, dass sich das Gehirn eines Erwachsenen nicht mehr verändert. Diese Annahme hat sich jedoch als falsch erwiesen. Heutzutage wissen wir, dass das Gehirn bis ins hohe Alter einem ständigen Umbau unterliegt. Einige Neurobiologen vergleichen es sogar mit einem Muskel, der durch Training gestärkt werden kann.

Die Vorstellung, dass das Gehirn ein Leben lang lernfähig bleibt, ist aus wissenschaftlicher Sicht unbestritten. Nur so können wir die vielfältigen Herausforderungen meistern, denen wir im Laufe unseres Lebens begegnen. Wir können im hohen Alter noch eine Fremdsprache lernen, Yoga praktizieren, uns das Gesicht und die Stimme eines neuen Kollegen merken oder den Weg zu einer neuen Pizzeria finden.

Synaptische Plastizität: Die Grundlage des Lernens

Lernen findet an den Synapsen statt, den Verbindungsstellen, an denen elektrische Signale von einer Nervenzelle zur nächsten übertragen werden. Neurowissenschaftler haben herausgefunden, dass Synapsen die Effektivität der Übertragung variieren können. Dieses Phänomen wird als synaptische Plastizität bezeichnet.

Eine Synapse kann durch einen Prozess namens Langzeitpotenzierung (LTP) verstärkt werden, indem sie mehr Botenstoff ausschüttet oder mehr Botenstoffrezeptoren bildet. Die Übertragung von Signalen kann aber nicht nur verstärkt oder abgeschwächt werden, sondern auch neu ermöglicht oder vollständig gekappt werden. So wissen Neurowissenschaftler heute, dass Synapsen selbst im erwachsenen Gehirn noch komplett neu gebildet oder abgebaut werden können. An wenigen Stellen, wie zum Beispiel im Riechsystem, können sogar zeitlebens neue Nervenzellen gebildet werden.

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Daher ist es nicht übertrieben zu sagen: Unser Gehirn ähnelt zeitlebens einer Baustelle. Stärkung und Schwächung, Auf- und Abbau - die Stärke, mit der Signale zwischen Nervenzellen übertragen werden, wird laufend angepasst. Vereinfacht ausgedrückt, könnte man sich vorstellen, dass die Signalübertragung verstärkt wird, wenn das Gehirn etwas speichert, und abgeschwächt wird, wenn es etwas vergisst. Ohne die Plastizität würde dem Gehirn etwas Fundamentales fehlen: seine Lernfähigkeit.

Trainingseffekte und Gehirnjogging

Viele Wissenschaftler bezweifeln jedoch, dass Gehirnjogging-Übungen die generelle Leistungsfähigkeit des Gehirns steigern. Sie gehen davon aus, dass sich der Trainingseffekt nur auf die unmittelbar trainierte Aufgabe auswirkt.

Mit dem Lernen verhält es sich wie mit dem Sport: Je mehr eine bestimmte Fähigkeit gefordert wird, desto effektiver wird sie erledigt. Wer beispielsweise Taxi fährt, muss sich gut orientieren und Routen merken können. Durch die tägliche Arbeit wird so das Ortsgedächtnis immer besser. Das hinterlässt auch Spuren im Gehirn, zum Beispiel im Gehirn Londoner Taxifahrer: Forscher haben herausgefunden, dass in ihrem Gehirn der Hippocampus - eine für das Ortsgedächtnis zentrale Region im Gehirn - über die Jahre größer wird. Offenbar braucht ein derart trainiertes Orientierungsvermögen auch mehr Raum!

Die Reparaturfähigkeit des Gehirns

Seine Plastizität hilft dem Gehirn zudem, Schäden zumindest teilweise zu reparieren. Sterben beispielsweise bei einem Schlaganfall Nervenzellen ab, können benachbarte Hirnregionen die Aufgaben des betroffenen Gebiets zum Teil übernehmen. Am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften haben Forscher herausgefunden, dass das Gehirn so die Schäden nach einem Schlaganfall zum Teil kompensieren kann.

Die Struktur des Gehirns

Das menschliche Gehirn lässt sich nach verschiedenen Kriterien untergliedern. Entwicklungsgeschichtlich beispielsweise besteht es wie das aller Wirbeltiere aus dem End-, Zwischen-, Mittel-, Hinter- und Markhirn, auch als Tel-, Di-, Mes-, Met- und Myelencephalon bezeichnet.

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Besonders auffällig ist die zum Endhirn gehörende sogenannte Großhirnrinde, der sogenannte Kortex. Sie ist im Laufe der Evolution so stark gewachsen, dass sie fast das gesamte Gehirn umgibt. Die Großhirnrinde ist Sitz vieler höherer geistiger Fähigkeiten. Einzelne Bereiche haben dabei unterschiedliche Aufgaben. So sind manche Areale darauf spezialisiert, Sprache zu verstehen, Gesichter zu erkennen oder Erinnerungen abzuspeichern. In der Regel ist aber keine Region allein für eine bestimmte Fähigkeit verantwortlich, sondern nur im Zusammenspiel mit anderen.

Welche Gehirngebiete miteinander verbunden sind, untersuchen Wissenschaftler mithilfe der sogenannten Magnetresonanztomografie (MRT). Mit dieser Technik können sie die zu Fasersträngen gebündelten Fortsätze von Nervenzellen sichtbar machen, die die Areale der Großhirnrinde miteinander verbinden. Auf diese Weise haben Sprachforscher beispielsweise eine für das Sprachvermögen zentrale Gehirnregion entdeckt: den sogenannten Fasciculus Articuatus. Ohne dieses Nervenfaserbündel können Kleinkinder keine komplexen Sätze bilden und verstehen. Dies gelingt erst, wenn diese Verbindung genug entwickelt ist. Bei Menschenaffen hingegen sind diese Nervenfasern zeitlebens schwach ausgebildet. Folglich schaffen die Tiere es trotz jahrelangen Trainings nicht, selbst einfachste Sätze zu bilden - und das, obwohl andere erforderliche Hirnareale sowie anatomische Voraussetzungen zum Sprechen durchaus vorhanden sind.

Mit einer Variante dieser Technik, der sogenannten funktionellen Magnetresonanztomografie, können Wissenschaftler zwischen aktiven und nicht aktiven Gehirnregionen unterscheiden. Damit haben sie viel über den Aufbau und die Funktionsweise des Gehirns gelernt. So haben Max-Planck-Forscher aus Leipzig herausgefunden, warum bei Menschen, die stottern, ein Ungleichgewicht zwischen der Hirnaktivität von linker und rechter Großhirnhälfte auftritt: Innerhalb des überaktiven rechten Netzwerkes haben sie eine Faserbahn entdeckt, die bei den Betroffenen deutlich stärker ausgebildet ist, als bei Menschen ohne Sprechprobleme.

Das Konnektom: Der Schaltplan des Gehirns

Einen exakten Schaltplan des Gehirns lässt sich jedoch mit der MRT-Technik nicht erstellen, dafür ist die Genauigkeit der Methode nicht hoch genug. Schließlich sitzen bis zu 10.000 Synapsen auf einer Nervenzelle, 100 Billionen sind es insgesamt. Dies zeigt, wie dicht das Kommunikationsnetz im Gehirn ist. In diesem Netz können einerseits benachbarte Nervenzellen miteinander verknüpft sein, andererseits auch Zellen, die weit voneinander entfernt sind.

Die Wissenschaftler entwickeln deshalb neue Methoden, mit denen sie das Konnektom entschlüsseln können. Als Modellfälle dienen ihnen dafür Mäuse: Zuletzt haben sie die Verschaltung von Bereichen der Netzhaut des Auges sowie der Großhirnrinde aufgeklärt und herausgefunden, dass Nervenzellen im sogenannten entorhinalen Kortex der Großhirnrinde wie ein Transistor organisiert sind: Bevor eine Nervenzelle eine andere Zelle aktivieren kann, kontaktiert sie eine hemmende Zelle und wird so in ihrer eigenen Aktivität behindert. Anhand solcher Schaltpläne wollen Wissenschaftler lernen, wie das Gehirn funktioniert.

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An Max-Planck-Instituten arbeiten sie bereits heute daran, die Prinzipien der Informationsverarbeitung aufzuklären. Derzeit konzentrieren sie sich auf einfacher aufgebaute Gehirne, die weniger Nervenzellen und -fasern besitzen als das Gehirn des Menschen. Mäuse sind ein solcher Modellfall für Neurowissenschaftler. Sie besitzen als Säugetiere ein ähnlich aufgebautes und funktionierendes Gehirn wie der Mensch. Noch einfacher aufgebaut und leichter zu untersuchen ist das Gehirn von Zebrafischen und ihrer Larven. So besitzt das Gehirn einer Fischlarve nicht nur lediglich 100.000 Nervenzellen und damit eine Million Mal weniger als das des Menschen, es ist auch noch nahezu völlig transparent.

Auch Wirbellose können ein Modell für Neurowissenschaftler sein. Ihre Nervenzellen sind zwar sehr klein, dadurch kann ihre Aktivität nicht so leicht gemessen werden. Dafür lassen sich wegen der vergleichsweise einfacheren Architektur die Prinzipien von Verschaltungen zur Wahrnehmung und Verarbeitung von Umweltreizen analysieren. So können Forscher anhand des Gehirns von Fruchtfliegen lernen, wie der Geruch von Nahrung die Fortpflanzung beeinflusst. Durch die Analyse des Sehsystems von Schmeißfliegen wollen sie herausfinden, wie die Insekten Bewegungen so unglaublich schnell wahrnehmen können. Selbst ein so einfach aufgebauter Organismus wie der Fadenwurm C.

Das Gehirn im Kontext des menschlichen Verhaltens

Fundiertes Wissen über das Gehirn und seine Systeme erklärt viele Verhaltensweisen. Psychologisches Fachwissen ist sehr wichtig, um menschliches Verhalten besser zu verstehen und akkurat zu erklären. Um jedoch ein noch tieferes Verständnis über das menschliche Verhalten z.B. bei Kaufentscheidungen (z.B. Aktien oder Lebensmittel) oder auch in fußballspezifischen Situationen zu erlangen, müssen zusätzlich zu den psychologischen auch neurowissenschaftliche Methoden angewendet werden. Denn nur durch Methoden aus der Hirnforschung wird es letztlich möglich, die Systeme im Kopf datenbasiert zu „durchleuchten“. Durch diese Messungen werden Zusammenhänge sichtbar, die vorher im Verborgenen geblieben sind.

Ein Beispiel vom Aktienmarkt: Warum nehmen wir Verluste viel stärker wahr als Gewinne? Da dieses Prinzip mehrere irrationale Verhaltensweisen erklärt (sogenannte kognitive Verzerrungen, wie u.a. den Besitztumseffekt und den Trugschluss der versunkenen Kosten), ist es erfreulich, dass hier die Hirnforschung bereits herausfinden konnte, welche Hirnregionen und Systeme dieses Prinzip und das damit einhergehende irrationale Verhalten hervorrufen.

Die Bedeutung des Gehirns für die Zukunft

Es ist sehr wahrscheinlich, dass uns die Themen „Gehirn“ und „Neuro“ in den nächsten Jahren und Jahrzehnten im persönlichen Alltag und auch medial immer weiter und tendenziell auch noch immer intensiver begleiten wird. Um all diese neuen Informationen besser zu verstehen und akkurat einschätzen zu können, hilft jedem von uns ein besseres Verständnis über die grundlegenden Abläufe und Anatomie des Gehirns.

Funktionale Bereiche des Gehirns und Intelligenz

Sehr stark vereinfacht ausgedrückt können die funktionalen Bereiche des Gehirns den drei Intelligenzzentren des Menschen zugeordnet werden. Die Intelligenzzentren unterscheiden die rationale Intelligenz, die emotionale Intelligenz und den Instinkt. Volkstümlich und eingängig können sie als Kopf-, Herz- und Bauchdenken unterschieden werden. Die Intelligenz ist ein Schlüsselfaktor für das Wissen, Verstehen und Erkennen. Sie spielt in der Mediation eine wichtige Rolle, wenn es die Parteien sind, die selbst die Lösung finden sollen. Sie bestimmt die kognitiven Prozesse und Fähigkeiten einer Person, wie sie ihre mentalen Aktivitäten nutzt und spielt eine signifikante Rolle bei der Bestimmung ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit.

Bauer verweist auf Kommandostrukturen des Gehirns, wie sie von der Neurowissenschaft erläutert werden.

  • Die obere Kommandoebene: Die obere Kommandoebene betrifft das Selbstsystem, womit die innere Aufstellung gemeint ist. Hier finden sich Antworten auf die Frage, "Was denke ich über mich?" oder "Was glaube ich, was gut für mich ist?".
  • Die untere Kommandoebene: Die untere Kommandoebene produziert Botenstoffe, mit denen das Herz-, Kreislauf- und Immunsystem beeinflusst werden.

Beide Kommanoebenen beeinflussen sich gegenseitig. Das Gehirn entscheidet für uns, ohne dass wir es merken. Es versucht, die Umgebung im Inneren nachzubilden. Indem es jeden Sinneseindruck und jeden Reiz interpretieren muss, schafft es sich eine ganz eigene Welt. Was heute neurowissenschaftlich belegt werden kann, hat die Philosophie schon lange zuvor mit dem Konstruktivismus zum Ausdruck gebracht. Hier können wir unterstellen, dass alles was wir und klein denken, um es besser begreifen zu können, auch groß denken können. Wer sich die Zeit nimmt, den spannenden Vortrag von Professor Dr. Manfred Spitzer über „Neurobiologie und Erziehung" am 21.Juni 2012 an der Universität zu Köln anzuschauen, lernt die Funktionsweise ebenso kennen, wie die Möglichkeiten und Grenzen.

Denken und Emotionen im Gehirn

Wir denken im Gehirn und dort meistens in der Großhirnrinde. Tatsächlich sind an einem einzelnen Denkvorgang Milliarden von Nervenzellen, die sogenannten Neuronen, beteiligt. Ein Gedanke verstreut sich immer gleichzeitig auf das ganze Gehirn. Um einen Gedanken entstehen zu lassen, ist der Austausch zwischen den Neuronen entscheidend. Die Verbindung wird durch die Synapsen hergestellt.

Wenn wir über etwas nachdenken oder eine Entscheidung treffen, werden bestimmte Gehirnregionen aktiviert. Zum Beispiel werden bei der visuellen Vorstellung bestimmter Dinge oder Personen Bereiche im visuellen Cortex aktiviert, während beim Erinnern von Erlebnissen bestimmte Teile des Hippocampus aktiviert werden. Neurotransmitter, wie Dopamin, Serotonin und Noradrenalin helfen bei der Verarbeitung von Informationen. Sie beeinflussen unsere Stimmung, Aufmerksamkeit und Motivation und können dazu beitragen, dass wir uns auf eine bestimmte Aufgabe konzentrieren und uns erinnern können.

Die Denkleistung ist stets abhängig von der neuronalen Vernetzung. Es gibt kein übergeordnetes Kontrollsystem. Dieses Konzept ermöglicht nicht nur die Lernfähigkeit. Auch das Entstehen von Emotionen basiert auf einem komplexen Prozess im Gehirn. Hier spielen sowohl biologische, wie auch psychologischen Faktoren eine Rolle. Die Verarbeitung von Emotionen wird überwiegend dem limbischen System zugeschrieben.

Ein emotionaler Reiz findet zwei Routen im Gehirn, eine schnelle und eine langsamere. Auf der schnellen Rote wird der Reiz vungebremst vom Thalamus direkt zur Amygdala weitergeleitet. Die Amygdala ermöglicht grobe Fight or Flight-Reaktionen (Kampf-oder-Fluchtmodus). Die Freisetzung von Neurotransmittern wie Adrenalin und Noradrenalin soll dem Menschen helfen, blitzschnell auf eine Gefahr zu reagieren. Auf der langsameren Route leitet der Thalamus den Reiz u.a. Gerät ein Mensch wie z.B.bei Konflikten unter Stress, kann es zur Kompetenz-Amnesie kommen. Die Amygdala veranlasst die Ausschüttung von Hormonen wie Cortisol und Adrenalin, wodurch der Mensch in den in den "Kampf-oder-Flucht"-Modus wechselt.

Das Gehirn hat eine Menge an Informationen zu verarbeiten. Wenn es alle Informationen aufnehmen müsste, die in dort eintreffen, müsste es in jeder Sekunde etwa 11 Millionen Bits (Informationseinheiten). Das Auge allein sendet 10 Millionen Bits ans Gehirn, die Haut 1 Million, das Ohr und die Nase jeweils 100.000 und der Geschmackssinn 1.000. Der Vergleich hinkt jedoch, weil die Datenberechnungen nur eine bedingte Aussage über die Leistungsfähigkeit des Gehirns liefern. Trotzdem steht fest, dass unser Gehiorn nicht alle Informationen verarbeiten kann, die auf uns einprasseln. Es schützt sich also, indem es nur das bewusst wahrnimmt, was es auch verarbeiten kann.

Wissen und Verstehen im Gehirn

Die Ausführungen von Spitzer belegen nicht nur die Funktionsweise des Gehirns. Sie enthalten auch eine Darlegung, was Wissen ist und wie das Wissen im Gehirn als ein Vorgang des Verstehens generiert wird. Das Wissen ensteht aus einem Einzelwissen, das gegebenenefalls aus einem Erleben oder einer Erfahrung heraus gebildet wird. So lernen Menschen Einzelheiten zu verstehen. Indem sie ein Detailwissen erwerben und vielleicht noch ein weiteres, verstehen sie plötzlich größere Zusammenhänge. Und wenn sie die Zusammenhänge verstanden haben, verstehen sie dadurch die Einzelheiten besser und dann verstehen Sie wieder die Zusammenhänge besser, wenn sie die Einzelheiten in der Summe verstanden haben. Die Ausführungen lassen sich auf den Verstehensprozess der Mediation beziehen, indem sie die Lernfähigkeit des Gehirns beschreiben. Wissen ist immer vernetzt und anwendungsrelevant. Das Gehirn ist keine Festplatte, die voll werden kann. Es ist, wenn man so will, ein unendlicher, stets wachsener Speicher.

Gedächtnis und Erinnerung: Fragilität und Manipulation

In W. G. Sebalds Roman "Austerlitz" entdeckt der Protagonist, dass seine bisherige Biografie eine Fiktion war. Mühsam muss er daraufhin Gedächtnisarbeit betreiben, erforschen und rekonstruieren, woher er eigentlich stammt. Dass unser Gedächtnis und die sich daraus speisende Erinnerung so unfehlbar und stabil nicht sind, wie man lange annahm, kann man nicht nur in den Künsten und speziellen geisteswissenschaftlichen Theorien, etwa von Jan und Aleida Assmann, erfahren, sondern leicht auch im Alltag. Oder könnte man sich wirklich ohne weiteres erinnern, was man vor zwanzig Jahren, im Oktober 1996 gemacht hat? Ein paar Tage Herbstferien, Spaziergang unter bunten Baumkronen? All unsere Erinnerungen daran aber wären allemal brüchig, von anderen überlagert oder womöglich ganz falsch.

Julia Shaw erklärt in ihrem Buch "Das trügerische Gedächtnis", warum sich unsere Erinnerungen "formen lassen wie eine Kugel aus Lehm". Anhand zahlreicher Fallbeispiele aus Alltag und Forschung zeigt Shaw auf, wie fragil und unzuverlässig das menschliche Erinnerungsvermögen ist. Gerade im Bereich der frühkindlichen Erfahrungen erscheint bemerkenswert, wie weit eigene Wahrnehmung und Realität auseinanderklaffen. Über die häufigen Berichte von Menschen, die behaupten, sich an die eigene Geburt erinnern zu können, kann Shaw nur verwundert den Kopf schütteln, entsprechende Phänomene mit anschaulichen Studien und den neuesten Erkenntnissen über Aufbau und Funktionsweise des menschlichen Gehirns widerlegen. Hält dieses beispielsweise für Neugeborene noch eine Vielzahl Neuronen bereit, werden im Laufe des Heranwachsens entsprechende überflüssige Verbindungen gekappt. Die sogenannte "synaptische Bereinigung" sorgt dafür, dass das Gehirn mit wachsender Größe optimiert wird und nicht mehr benötigte Information verloren gehen. Wir erleben diesen Prozess als Vergessen.

Shaw räumt auf mit weitverbreiteten Mythen wie den von der Hypnose als Verstärkungshilfe für das Erinnerungsvermögen oder der landläufigen Vorstellung des fotografischen Gedächtnisses, die untersucht auch alle möglichen Aspekte, die mit der Wahrnehmung, der Speicherung und dem Verlust von Erinnerungen korrelieren: Schlafverhalten, Selbstüberschätzung, Erregungszustand oder Aufmerksamkeit. Gerade bei letzterer stellt sich oft eine Art Betriebsblindheit ein, wie ein komisches Experiment zeigt: Eine Gruppe von Teilnehmern sollte zählen, wie oft sich Menschen in einem Video einen Ball zuwarfen. Sie waren so mit der Aufgabenerfüllung beschäftigt, dass die wenigsten eine Frau im Gorillakostüm bemerkten, die durchs Bild ging.

Man hat selber immer wieder erfahren, wie einfach unser Gedächtnis manipulierbar ist: Mithilfe gefälschter Fotos, subtiler Beeinflussung oder emotionsbesetzten Erzählungen können Erinnerungen erzeugt werden, die es in der Realität niemals gab. Die Autorin selbst konnte Probanden von Straftaten überzeugen, die sie nicht begangen hatten. "Das Hirn funktioniert ein bisschen wie Wikipedia: Sie können es aufrufen und es verändern, aber andere können das auch", wird eingangs die amerikanische Psychologin Elisabeth Loftus zitiert. Eine endgültige Kontrolle über unsere Gehirn-Wiki-Einträge gibt es nicht.

Die größte wissenschaftliche Herausforderung des 21. Jahrhunderts

Das Gehirn zu verstehen, gilt als die größte wissenschaftliche Herausforderung des 21. Jahrhunderts. Neurobiologen, Chirurgen, Verhaltensforscher und Psychologen suchen gemeinsam nach Antworten auf die zahlreichen Rätsel unseres Gehirns:

  • Wie lernt der Mensch?
  • Lässt sich das Gehirn trainieren wie ein Muskel?
  • Lassen sich Krankheiten wie Multiple Sklerose oder Alzheimer eines Tages heilen?
  • Können Hirnschrittmacher Angststörungen oder Parkinson unterdrücken?
  • Vielleicht werden Mediziner eines Tages gar das Gehirn - ähnlich wie das Herz - transplantieren können.

Die ethischen Grenzen der Hirnforschung werden in dieser Langen Nacht ebenso diskutiert wie die therapeutischen Perspektiven. Die Lange Nacht der Gehirnforschung unternimmt eine Expedition in das Innere unseres Kopfes.

Das Gehirn: Sitz von Freude, Leid und Erkenntnis

Hippokrates (460 bis 370 vor Christus) erkannte bereits: "Die Menschen sollen wissen, dass von nichts anderem als dem Gehirne unsere Freude, unser Entzücken, Lachen und Vergnügen herrühren, woher auch Kummer und Schmerzen, Angst und Trauer stammen. Mit ihm vor allem denken und überlegen, sehen und hören wir und unterscheiden das Hässliche vom Schönen, das Schlechte vom Guten und das Angenehme vom Unangenehmen. Dasselbe Organ lässt uns in Raserei und Wahnsinn verfallen, und es treten Angst und Furcht an uns heran, sowohl des Nachts als auch am Tage, dazu Schlaflosigkeit, Irrtümer, unpassende Sorgen, Nichterkennen der wirklichen Lage und auch das Vergessen. Alles dies erleiden wir durch das Gehirn, wenn es nicht gesund ist. Deshalb bin ich der Meinung, dass das Gehirn im Menschen die größte Macht hat."

Das Gehirn ist das aktivste Organ des Menschen und hat dementsprechend einen enormen Sauerstoff- und Energiebedarf: Etwa 20 Prozent des Bluts werden vom Herzen ins Gehirn gepumpt; schon der kurzzeitige Ausfall der Sauerstoffversorgung führt zu Hirnschäden und bereits nach wenigen Minuten ist der Gehirntod festzustellen.

Das Gehirn des Menschen ist allerdings auch ein sehr anpassungsfähiges Organ. So ist es beispielsweise möglich, dass eine Gehirnhälfte die Arbeit der anderen mitübernimmt, falls diese nicht mehr arbeitsfähig ist.

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