Menschen mit Demenz erleben einen fortschreitenden Verlust ihrer Kompetenzen, der ihr Identitätsgefüge aus dem Gleichgewicht bringt. Um Pflegekräften ein tieferes Verständnis für diese Situation zu ermöglichen, hat Barbara Klee-Reiter das Demenz-Balance-Modell entwickelt. Dieses Modell zielt darauf ab, Empathie und Sensibilität im Umgang mit Menschen mit Demenz zu fördern.
Die Notwendigkeit von Empathie in der Demenzpflege
Je weiter eine Demenzerkrankung fortschreitet, desto weniger können Betroffene den Verlust kognitiver Fähigkeiten aus eigener Kraft kompensieren. Sie sind auf Menschen angewiesen, die sich in ihre Welt einfühlen und ihre Art des Erlebens, Denkens und Fühlens verstehen. Nur so kann man empathisch und angemessen auf ihre Bedürfnisse eingehen. Hier setzt das Demenz-Balance-Modell an.
Vorstellung des Demenz-Balance-Modells
Das Demenz-Balance-Modell wurde von Demenz-Expertin Barbara Klee-Reiter entwickelt und auf einer Fachveranstaltung am 14. November 2023 vorgestellt. Es ermöglicht einen Perspektivwechsel durch eine Selbsterfahrungsmethode, die fragt: "Was wäre, wenn ich selbst dement wäre?" Barbara Klee-Reiter berät seit vielen Jahren Mitarbeiter in stationären Einrichtungen der Altenhilfe und in Krankenhäusern zum Thema Demenz.
Die Selbsterfahrungsmethode im Detail
In ihren Fortbildungen und Schulungen versetzen sich die Teilnehmenden in die Situation eines Demenzerkrankten. Sie erleben eindrücklich, wie zunehmende demenzbedingte Einschränkungen ihre innere Balance stören und was sie benötigen, um diese Balance wiederherzustellen. Das Ziel ist es, Pflegekräften eine Vorstellung von den Gefühlen und Bedürfnissen von Menschen mit Demenz zu vermitteln. Diese Einsichten und Erfahrungen sollen die Beziehungen zu und den Umgang mit Menschen mit Demenz in der Pflege nachhaltig verändern.
Die Fragen und ihre Bedeutung
Am Anfang stand die Idee, eine Methode zu entwickeln, die es ermöglicht, die Situation von Menschen mit Demenz ansatzweise nachzuempfinden. Da es eine solche Methode nicht gab, entwickelte Barbara Klee-Reiter sie selbst. Die Fragen beziehen sich auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Beispiele sind:
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- „Welche Person hat Sie in Ihrer Kindheit positiv beeindruckt?"
- „Was bringt Sie so richtig auf die Palme?"
- „Welchen Traum möchten Sie sich in Zukunft gerne erfüllen?"
Die Teilnehmenden werden gebeten, ihre Antworten in Stichworten in ein beliebiges Kästchen der Arbeitsmaterialien einzutragen, die symbolisch eine Person darstellen.
Die drei Schritte zum Verlust der Balance
In drei Schritten erleben die Teilnehmenden, wie ihnen immer mehr Lebensabschnitte und Kompetenzen aus ihrer „Person" abhandenkommen und ihr Identitätsgefüge aus der Balance gerät.
- Schritt 1: Der erste Verlust. Schon beim Verlust von drei von 16 Abschnitten fühlen sich die meisten „wie aus dem Gleichgewicht geraten". Viele hoffen, sich mit eigener Kraft wieder in Balance bringen zu können.
- Schritt 2: Wachsende Hilflosigkeit. Fehlen zehn symbolisierte Lebensabschnitte, schwindet die Hoffnung, sich aus eigener Kraft wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Einige Teilnehmende äußern starke Gefühle wie Angst, Hilflosigkeit, Leere oder Unsicherheit. Andere betonen die Wichtigkeit der verbliebenen Abschnitte und haben das Gefühl, damit noch gut zurechtzukommen. In dieser Phase werden Bedürfnisse wie „vertraute Personen", „so sein zu dürfen wie ich bin", „Respekt" oder „Wertschätzung" genannt.
- Schritt 3: Der totale Verlust. Im letzten Schritt verlieren die Teilnehmenden alle Abschnitte aus ihrer „Person". Diese Situation löst bei einigen große Erleichterung aus, weil der „Kampf" vorbei ist, während sie bei anderen mit starken Gefühlen wie Schmerz und Entsetzen verbunden ist. Unabhängig davon wird allen deutlich, dass der Grad der Bedürftigkeit und der Abhängigkeit von anderen existenzielle Ausmaße annimmt.
Der Kern des Ansatzes: Balance und ihre Wiederherstellung
Der zentrale Begriff des Demenz-Balance-Modells ist „Balance". Es vermittelt eine Idee davon, was notwendig ist, um die aus dem Gleichgewicht geratene Balance wiederherzustellen. Wenn eine Person durch die Veränderungen der Demenz in seelische Not gerät, braucht sie einen Menschen, der sich für diese Not ernsthaft interessiert. Wenn jemand wichtige Ereignisse aus seinem Leben vergessen hat, braucht er Menschen, die etwas über das Vergessene erzählen können. Wenn ein Mensch selbst nicht mehr viel Vertrauen in seine Fähigkeiten hat, braucht er Personen, die ihm etwas zutrauen und ihm die Gelegenheit geben, das erfahren zu dürfen. Fachlich ist Barbara Klee-Reiter durch den Person-zentrierten Ansatz von Tom Kitwood geprägt.
Die Bedeutung der Selbsterfahrung
„Durch die Selbsterfahrung habe ich eindrücklich erlebt, wie mit den zunehmenden Verlusten mein inneres Gleichgewicht verloren ging. Ich habe eine Ahnung davon bekommen, mit welchen Gefühlen ich zu kämpfen hätte, aber auch welche Bedürfnisse dann bei mir im Vordergrund stünden", so Barbara Klee-Reiter.
Stimmen der Teilnehmenden
Eine Teilnehmerin fasste ihre Erfahrungen so zusammen: „All diese Einsichten haben mich tief berührt und mir gezeigt, dass Pflege nur über eine angemessene Beziehung möglich ist. Davon profitieren nicht nur die Demenzkranken, sondern auch ich".
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Positive Ergebnisse einer wissenschaftlichen Untersuchung
Eine wissenschaftliche Untersuchung unter Pflegeheim-Mitarbeitern hat die positiven Auswirkungen des Ansatzes von Barbara Klee-Reiter bestätigt. Im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales gaben die Mitarbeiter in Fragebögen und Gruppengesprächen an, sich kompetenter und gelassener im Umgang mit demenziell erkrankten Menschen zu fühlen.
Indikatoren und Erfahrungswerte
Die Erhebung zeigte, dass es in der Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz nicht um „die richtigen Konzepte", Methoden und Gesprächstechniken geht, sondern um die Kompetenz der Pflegenden, sich in die betroffene Person einzufühlen. Diese Erfahrung verändert den Umgang mit Demenzpatienten nachhaltig.
Konkrete Ergebnisse der Untersuchung
In vier von sechs Einrichtungen lernten insgesamt 61 Mitarbeiter das „Demenz-Balance-Modell“ kennen. Ihr Ziel ist es, Empathie und Sensibilität für die Gefühle und Bedürfnisse von Menschen mit Demenz zu erhöhen und im Austausch mit anderen Selbst- und Sozialkompetenzen zu erweitern. Sowohl in den Fragebögen als auch in den Gruppengesprächen wurde die Arbeit mit dem Modell als außerordentlich positiv beurteilt. Die subjektiven Erfahrungen, die es ermöglicht, wurden als emotional stark berührend und wertvoll eingeschätzt. Durch das sich Einfühlen in das Krankheitsbild Demenz wird das Verständnis gegenüber den Bewohnern vertieft. Man fühlt sich nicht nur im Umgang mit ihnen sicherer und kompetenter, sondern vor allem auch gelassener, ruhiger und entspannter, was sich wiederum positiv auf die Beziehung zu den Bewohnern und deren Verhalten auswirkt.
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