Fatigue ist eines der häufigsten und belastendsten Symptome bei Multipler Sklerose (MS). Rund 60 bis 80 Prozent der MS-Patienten sind davon betroffen. Fatigue bei MS unterscheidet sich deutlich von normaler Müdigkeit und kann die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen. Betroffene können im Verlauf einer MS durch Fatigue auch arbeitsunfähig werden. Diese chronische Erschöpfung ist gekennzeichnet durch ein anhaltendes Gefühl von Müdigkeit, das selbst nach ausreichend Schlaf nicht verschwindet.
Definition und Häufigkeit der MS-assoziierten Fatigue
Die MS-assoziierte Fatigue wird definiert als eine über das übliche Funktionsniveau im Alltag hinausgehende, anhaltende und subjektive Empfindung von physischer und mentaler Erschöpfung und Mangel an Energie in Zusammenhang mit MS. Das National Multiple Sclerosis Council (NMSC) definierte die MS-assoziierte Fatigue bereits 1998.
Die Häufigkeit von Fatigue bei MS ist hoch:
- 70-97 % aller MS-Patienten klagen über Fatigue.
- Bei ca. 30 % ist Fatigue das Erstsymptom bei MS, ohne dass körperliche Einschränkungen bestehen.
- Fatigue kann in jedem Stadium der MS auftreten.
- Männer und Frauen sind gleichermaßen betroffen.
- Mehr als jeder dritte MS-Patient benennt Fatigue als das belastendste Symptom der MS, insbesondere im Hinblick auf die Arbeit (häufigste Ursache für Berentung bei MS) und das soziale Leben.
Ursachen und Forschungsstand zur Entstehung von Fatigue
Die Ursachen der Fatigue bei MS sind noch nicht vollständig geklärt, aber es wird angenommen, dass mehrere Faktoren zusammenwirken. Es gibt keine sichere Abhängigkeit von:
- Alter
- Geschlecht
- Art der MS (schubförmig vs. progredient)
- Erkrankungsdauer (widersprüchlich)
- T2-Veränderungen im Kernspin (sog. Läsionslast)
- Verteilung der Herde im Kernspin
Hypothesen zur Entstehung von Fatigue umfassen:
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- Lokale Demyelinisierung und Nervenfaserschädigung im Hirnstamm (retikuläres aktivierendes System): Dies kann zu Defiziten in Wachheit, Aufmerksamkeit und Konzentration führen.
- Diffuse Demyelinisierung und Nervenfaserschädigung: Dies kann zu einem verminderten Stoffwechsel im Stirnhirn und den Stammganglien führen, was Defizite bei der Bewegungsprogrammierung zur Folge hat.
- Leitungsschädigung: Eine verzögerte Reizweiterleitung kann zu vermehrter Anstrengung bei der Reizweiterleitung führen.
- Neuroendokrine (hormonelle) Störungen durch entzündliche Botenstoffe (Interleukine…): Dies kann zu Abgeschlagenheit führen.
Symptome der Fatigue
Die Fatigue bei MS ist eine Kombination aus körperlicher, mentaler und emotionaler Erschöpfung, die sich nicht allein durch Ruhe und Schlaf lindern lässt. Zu den Hauptsymptomen gehören:
- Körperliche Fatigue:
- Schwere in den Gliedern: Die Arme und Beine fühlen sich an, als ob sie mit Gewichten beschwert wären.
- Schnelle Muskelermüdung: Die Muskeln ermüden bereits bei kleinsten Belastungen.
- Körperliche Schwäche: Ein allgemeines Schwächegefühl, oft mit einem Verlust der körperlichen Belastbarkeit einhergehend.
- Geistige Fatigue: Konzentrationsschwierigkeiten, Gedächtnisprobleme und Schwierigkeiten, klare Gedanken zu fassen. Es kann schwerfallen, einem Gespräch zu folgen.
- Emotionale Fatigue: Reizbarkeit, Niedergeschlagenheit, Angstzustände und ein allgemeines Gefühl der Hoffnungslosigkeit. Emotionale Reaktionen können verstärkt auftreten.
Diagnostische Einordnung der Fatigue
Fatigue ist ein subjektives Symptom. Bisher existiert kein Goldstandard zur Diagnosestellung. Die Diagnose basiert hauptsächlich auf der Beschreibung der Symptome durch den Patienten. Um das Ausmaß der Fatigue zu bestimmen, werden häufig standardisierte Fragebögen (Scores) eingesetzt:
- Fatigue Severity Scale (FSS): Ein eindimensionaler Score zur Messung der physischen Fatigue.
- Fatigue Impact Scale (FIS): Ein häufiger Score in der Forschung, vor allem bei MS, mit 40 Abfragepunkten zur Messung der Einschränkungen des letzten Monats hinsichtlich kognitiver, physischer und psychosozialer Einschränkungen.
- Modified Fatigue Impact Scale (MFIS): Eine auf 21 Abfragepunkte verkürzte FIS zur Messung von physischer, kognitiver und psychosozialer Fatigue.
- Fatigue Scale for Motor and Cognitive Functions (FSMC): Eine differenzierte Messung der Schwere der Gesamt-Fatigue und der Fatigue beruhend auf Einschränkung der kognitiven und motorischen Funktionen.
Therapie der Fatigue
Eine gezielte Behandlung gegen Fatigue bei MS gibt es bisher nicht. Die Behandlung der Fatigue bei MS fußt auf mehreren Behandlungssäulen, um die Erschöpfungszustände zumindest teilweise und vorübergehend zu bessern. Da die Ursachen der Fatigue vielfältig sind, ist ein multimodaler Therapieansatz oft am wirksamsten.
Nicht-medikamentöse Therapie
- Sport und Bewegung:
- Aerobes Ausdauertraining auf Ergometer oder Laufband bzw. Widerstandstraining haben sich als wirkungsvoll erwiesen. Ausdauersportarten wie Radfahren, Schwimmen oder Laufen können helfen, das Leistungspensum zu halten oder sogar zu steigern. Auch Nordic Walking oder Training auf dem Fahrradergometer sind empfehlenswert.
- Es ist wichtig, das Training moderat anzugehen und sich nicht zu sehr auszupowern. MS-Patienten sollten geduldig sein und sich keinesfalls überfordern.
- Für Patienten in fortgeschrittenen MS-Stadien gibt es spezielle Sportangebote (MS-Sportgruppen oder neurologischen Reha-Sport), bei denen Sport- oder Bewegungstherapeuten das Training anleiten und gemäß dem individuellen Fitnesszustand des Patienten und dem Grad der Behinderung gestalten.
- Energie-Management-Programm (Pacing):
- Prioritätensetzung, Tagesstrukturierung, Einhalten regelmäßiger Pausen.
- Pacing ist eine Strategie des Energiemanagements, die darauf abzielt, mit den begrenzten Energiereserven bei chronischen Erkrankungen wie Multipler Sklerose (MS) bewusst umzugehen.
- Entspannung:
- Entspannungstraining und Yoga.
- Techniken wie autogenes Training, Meditation und progressive Muskelentspannung können helfen, die innere Unruhe zu reduzieren und den Einschlafprozess zu erleichtern.
- Kühlung:
- Klimaanlage, kaltes Duschen, Tragen einer Kühlweste für wärmeempfindliche Patienten.
- Psychologische Interventionen:
- Kognitive Verhaltenstherapie, Gruppenangebote oder Selbstmanagement-Programme.
- Eine Psychotherapie kann viele alte Probleme und Denkweisen auflösen, die belasten.
Medikamentöse Behandlung
- Amantadin: Einige kontrollierte Studien zeigen schwache/inkonsistente Effekte. Die klinische Bedeutung ist unklar.
- Modafinil: Erfolgversprechend in unkontrollierten Studien.
- Pemolin, L-Carnitin, Prokarin, 4-Aminopyridin (Fampridin), Ginkgo biloba: Kleinere kontrollierte Studien zeigen keine/inkonsistente Effekte.
Es ist wichtig zu beachten, dass die medikamentöse Behandlung der Fatigue bei MS komplex ist und die Evidenzlage begrenzt ist. Die Entscheidung für oder gegen eine medikamentöse Therapie sollte immer in Absprache mit dem behandelnden Arzt getroffen werden.
Schlafstörungen und Fatigue
Schlafstörungen sind bei MS nicht selten und umfassen ein breites Spektrum: Ein- und Durchschlafstörungen, frühes Erwachen und Schlafunterbrechungen. Schlafstörungen und Fatigue verlaufen bei Multipler Sklerose besonders eng und oft in einer wechselseitigen Spirale: Schlafstörungen können Fatigue verstärken, und Fatigue selbst kann den Schlaf negativ beeinflussen.
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Ursachen von Schlafstörungen bei MS:
- Physische Beschwerden: Schmerzen, Muskelkrämpfe oder Spastiken, die sich insbesondere nachts bemerkbar machen, erschweren oft einen durchgehenden, erholsamen Schlaf.
- Hormonelle Veränderungen: MS greift in das Nervensystem ein und kann hormonelle Ungleichgewichte auslösen, was wiederum den Schlaf-Wach-Rhythmus beeinträchtigen kann.
- Psychische Faktoren: Stress, Angstzustände und depressive Verstimmungen sind häufig und haben eine direkte Wirkung auf den Schlaf.
- Medikamentöse Nebenwirkungen: Auch die Kombination verschiedener Medikamente kann eine Ursache darstellen.
Strategien zur Verbesserung des Schlafs:
- Schlafhygiene verbessern: Ein strukturierter Schlaf-Wach-Rhythmus kann helfen, den Schlaf zu stabilisieren.
- Entspannungsübungen und Achtsamkeitstechniken: Techniken wie autogenes Training, Meditation und progressive Muskelentspannung können helfen, die innere Unruhe zu reduzieren und den Einschlafprozess zu erleichtern.
- Physiotherapie und Bewegung: Regelmäßige, sanfte Bewegung wirkt sich positiv auf das Schlafverhalten und die Fatigue aus.
- Kognitive Verhaltenstherapie (KVT): Insbesondere bei chronischen Schlafstörungen kann KVT eine sehr wirksame Therapieoption sein.
Weitere Symptome und ihre Auswirkungen auf die Fatigue
Verschiedene Symptome der MS können die Fatigue verstärken, da sie zusätzliche Energie kosten. Dazu gehören:
- Spastik: Muskelsteifheit und -krämpfe können sehr anstrengend sein.
- Blasenstörungen: Häufige Toilettengänge, insbesondere nachts, stören den Schlaf.
- Koordinationsprobleme: Erfordern zusätzliche Anstrengung bei Bewegungen.
- Schmerzen: Chronische Schmerzen können sehr erschöpfend sein.
- Sehstörungen: Benötigen zusätzliche Energie für die Kompensation.
Die Behandlung dieser Begleitsymptome kann dazu beitragen, die Fatigue zu reduzieren.
Paroxysmale Symptome
Paroxysmale Symptome sind Beschwerden, die überfallartig, kurz (maximal wenige Minuten), aber wiederkehrend auftreten. Das häufigste paroxysmale Symptom ist die MS-bedingte Trigeminusneuralgie, die im Gegensatz zur „normalen Trigeminusneuralgie“ oft beidseitig auftritt. Außerdem werden das Lhermitte-Zeichen und das Uhthoff-Phänomen zu den paroxysmalen Symptomen gerechnet.
Therapieziele:
Vermeidung der jeweiligen Symptome ohne Beeinträchtigung des Patienten durch die Therapie und damit Steigerung der Lebensqualität.
Nicht-medikamentöse Therapie:
Es kann hilfreich sein, ein Tagebuch zu führen, um zu erkennen, in welchen Situationen paroxysmale Symptome auftreten. Unter Umständen lassen sich solche Situationen, wenn nicht vermeiden, so doch reduzieren. Bei einem Uhthoff-Phänomen sollten Patienten Wärme meiden und kalte Duschen, kalte Getränke oder kühlende Kleidung (Westen, Stirnbänder etc.) einsetzen.
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Medikamentöse Therapie:
Die meisten paroxsymalen Symptome lassen sich gut mit Medikamenten behandeln. Eingesetzt werden Antiepileptika wie Carbamazepin, Gabapentin, Lamotrigin, bei ausgeprägter Wärmeempfindlichkeit (Uhthoff-Phänomen) auch 4-Aminopyridin.
Ataxie und Tremor
Die MS-bedingte Ataxie - auch ataktische Bewegungsstörung genannt - bezeichnet Koordinations- und Gleichgewichtsstörungen: Das Zusammenspiel verschiedener Muskeln - vor allem der Arme und Beine, seltener des Rumpfes - ist beeinträchtigt. Tremor, eine Form ataktischer Bewegungsstörungen, bezeichnet das gleichmäßige Zittern eines Körperteils oder des gesamten Körpers.
Therapieziele:
Verbesserung der Feinmotorik mit dem Ziel, die Selbstständigkeit im Alltag und möglichst auch die Berufsfähigkeit zu erhalten. Erhalt der Gehfähigkeit.
Nicht-medikamentöse Therapie:
Basis der Behandlung ist eine intensive Physiotherapie auf neurophysiologischer Grundlage (Bobath, propriozeptive neuromuskuläre Fazilitation und andere), kombiniert mit Ergotherapie. Sinnvoll ist darüber hinaus, Entspannungstechniken zu erlernen und anzuwenden, zum Beispiel Autogenes Training oder die progressive Muskelrelaxation nach Jacobson. Hilfsmittel - Gehstöcke, Rollatoren, spezielle Bestecke - erleichtern den Alltag.
Medikamentöse Therapie:
Medikamente sind wenig hilfreich und mit erheblichen Nebenwirkungen verbunden. Zudem könnnen sie ausschließlich den Tremor lindern. Deshalb werden Clonazepam (Rivotril®), Propranolol (Dociton®), Primidon (Liskantin®) oder Ondansetron (Zofran®) erst versucht, wenn nicht-medikamentöse Therapien bei Tremor versagen. Neueste Ergebnisse zeigen sehr gute Erfolge von Topiramat, sonst bei Migräne oder Epilepsie eingesetzt.
Blasenstörungen
Neurogene, d. h. auf der fehlerhaften Funktion wichtiger Nervenbahnen beruhende, Blasenstörungen gehören zu den häufigsten Begleiterscheinungen der MS. Im Verlauf der Erkrankung sind 50 bis 80 Prozent der Patienten davon betroffen.
Therapieziele:
Verbesserung der Speicherfunktion der Blase, ihre möglichst vollständige Entleerung und Normalisierung des Harndrangs, Vermeidung von Komplikationen wie wiederholte Harnwegsinfekte, Nierensteinbildung und eingeschränkte Nierenfunktion, Verbesserung der Lebensqualität.
Nicht-medikamentöse Therapie:
Durch das eigene richtige Verhalten können Blasenfunktionsstörungen vor allem im Frühstadium günstig beeinflusst werden. Wichtig ist: regelmäßig ausreichend trinken (ca. 2 Liter über den Tag verteilt, sofern Herz und Nieren gesund sind), regelmäßige, auch vorbeugende Toilettengänge, Kontrolle von Trink- und Urinmenge durch ein Tagebuch, Harndrang nicht über längere Zeit unterdrücken (das Überkreuzen der Beine kann zur Verstärkung einer Spastik führen), Beckenbodengymnastik (kann in der Physiotherapie erlernt werden).
Medikamentöse Therapie:
Die medikamentöse Behandlung umfasst - je nach Art der Funktionsstörung - verschiedene Substanzen: Anticholinergika zur Dämpfung eines überaktiven Blasenmuskels, Alphablocker zur Entspannung des Blasenschließmuskels, Antispastika bei Spastik als Mitursache und Desmopressin zur Verringerung der Urinproduktion. In bestimmten Fällen kann auch Botulinumtoxin direkt in den Detrusormuskel gespritzt werden.
Fatigue als unsichtbares Symptom und die Bedeutung der Aufklärung
Da die Fatigue zu den unsichtbaren Symptomen der MS zählt, hat sie lange Zeit keine Aufmerksamkeit bei der Behandlung erhalten. Dennoch bleibt es weiterhin schwer, Fatigue Außenstehenden zu erklären. Viele verwechseln die Fatigue mit normaler Müdigkeit. Es ist daher wichtig, die Fatigue anzusprechen und zu erklären, was die chronische Müdigkeit mit einem macht. Das vermeidet Missverständnisse im privaten und beruflichen Umfeld.