Hepatitis-B-Impfung und das Risiko von Multipler Sklerose: Eine umfassende Analyse

Die Frage, ob ein Zusammenhang zwischen der Hepatitis-B-Impfung und dem Risiko, an Multipler Sklerose (MS) zu erkranken, besteht, ist seit der Einführung der Hepatitis-B-Immunisierung ein viel diskutiertes Thema. In diesem Artikel werden die verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse zu diesem Thema umfassend analysiert, um eine fundierte Bewertung des potenziellen Risikos zu ermöglichen.

Hintergrund der Hepatitis-B-Impfung

Die ersten aktiven Impfstoffe gegen Hepatitis B wurden Ende der 1970er Jahre entwickelt, nachdem bereits seit den 1950er Jahren spezifische Immunglobuline hergestellt wurden. Das Antigen in den aktiven Vakzinen ist das avirulente Hepatitis-B-Surface-Antigen (HBsAg), das zur Steigerung der Immunogenität an Aluminiumhydroxid adsorbiert wird. Seit 1982 sind diese Impfstoffe zur aktiven Immunisierung allgemein verfügbar. Mitte der 1980er Jahre wurden rekombinante Vakzine entwickelt.

Ursprünglich wurde die Hepatitis-B-Impfung in den meisten Ländern für sogenannte "Risikogruppen" empfohlen. Da sich diese Impfstrategie jedoch aufgrund mangelnder Compliance als unzureichend effektiv erwiesen hatte, forderte die WHO 1992 dazu auf, bis 1997 in allen Ländern der Erde die generelle Hepatitis-B-Impfung einzuführen.

Empfehlungen zur Hepatitis-B-Impfung

Die Impfung wird für folgende Personengruppen empfohlen:

  • Personen, bei denen aufgrund einer vorbestehenden oder zu erwartenden Immundefizienz bzw. -suppression oder aufgrund einer vorbestehenden Erkrankung ein schwerer Verlauf einer Hepatitis-B-Erkrankung zu erwarten ist.
  • Personen mit einem erhöhten nichtberuflichen Expositionsrisiko, z. B. Kontakt zu HBsAg-Trägern in Familie/Wohngemeinschaft, Sexualverhalten mit hohem Infektionsrisiko, i.v. Drogenkonsumenten, Gefängnisinsassen.
  • Hepatitis-B-gefährdetes Personal in medizinischen Einrichtungen (einschließlich Auszubildender, Labor- und Reinigungspersonal), Ersthelfer, Polizisten.
  • Personal von Einrichtungen, in denen eine erhöhte Prävalenz von Hepatitis-B-Infizierten zu erwarten ist.
  • Reisende (mit individueller Gefährdungsbeurteilung).
  • Impfung aller reifgeborenen Säuglinge mit 3 Dosen eines Sechsfach-Kombinationsimpfstoffs (DTaP-IPV-HepB/Hib) im Alter von 2, 4 und 11 Monaten. Zwischen der letzten und vorletzten Dosis des jeweiligen Impfschemas sollte ein Abstand von 6 Monaten nicht unterschritten werden.
  • Für Frühgeborene (geboren vor der 37. Schwangerschaftswoche) gilt das ”3+1"-Impfschema mit 4 Impfstoffdosen im Alter von 2, 3, 4 und 11 Monaten.
  • Impfung aller bis dahin ungeimpften Kinder und Jugendlichen im Alter von ≥12 Monaten bis <18 Jahren mit drei intramuskuläre Immunisierungen im Abstand von 1 und 6 Monaten.
  • Die perinatale Übertragung von einer HBsAg-positiven Mutter auf das Neugeborene gilt es durch die unmittelbar nach der Geburt (spätestens binnen 12 Stunden) durchzuführende simultane aktiv-passive Immunisierung zu verhindern.

Verträglichkeit und Nebenwirkungen der Hepatitis-B-Impfung

Die Verträglichkeit der Hepatitis-B-Impfung ist sehr gut. Neben den üblichen passageren lokalen und systemischen Nebenwirkungen, die bei der Hepatitis-B-Impfung relativ selten auftreten, kann es in seltenen Fällen (<0,5 %) postvakzinal zu Gelenkschmerzen und -schwellungen kommen. Möglicherweise handelt es sich dabei um eine Immunkomplexreaktion, die nach wenigen Tagen meist spontan wieder abklingt. Persistieren sie, so muss an zufällig koinzidierende Gelenkaffektionen gedacht werden, und es sollten durch entsprechende Untersuchungen Krankheiten des rheumatischen Formenkreises oder akute infektiöse Arthritiden ausgeschlossen werden.

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In Einzelfällen, meistens bei Erwachsenen, wurde im zeitlichen Zusammenhang zu Hepatitis-B-Impfungen das Auftreten von Guillain-Barré-Syndrom, Myelitiden, Neuritis des N. opticus und Erstmanifestationen einer Multiplen Sklerose beobachtet. Da die beobachteten Krankheiten aber nach HBV-Impfung nachweislich nicht häufiger auftreten als aufgrund der natürlichen Inzidenz zu erwarten wäre, handelt es dabei um zufällig koinzidierende Ereignisse.

Dauer des Impfschutzes und Auffrischimpfungen

Die Grundimmunisierung gegen Hepatitis B verleiht einen dauerhaften Schutz, wegen der langen Inkubationszeit der Wildinfektion vermutlich sogar lebenslang. Deshalb sind in Deutschland gegenwärtig keine generellen Auffrischimpfungen gegen Hepatitis B empfohlen. Aktueller Impfschutz besteht ab einem Anti-HBs-Antikörperwert von ≥10 IE/l Serum. Als sicher und dauerhaft geschützt gilt, wer einen Wert von ≥100 IE/l Serum entwickelt. Lediglich bei Personen, die den Risikogruppen (bei Reisenden nach individueller Beurteilung) angehören, wird aus Sicherheitsgründen eine post-vakzinale Antikörperkontrolle (ca. 4-8 Wochen nach der 3. Impfung) und ggf. weitere Impfungen empfohlen.

Multiple Sklerose: Eine Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems

Die Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Autoimmunerkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS), die vor allem junge Erwachsene betrifft. Bei MS greift das Immunsystem fälschlicherweise die Myelinscheiden an, die die Nervenfasern im Gehirn und Rückenmark umhüllen. Diese Schädigung der Myelinscheiden führt zu einer Beeinträchtigung der Nervenleitgeschwindigkeit und somit zu einer Vielzahl von neurologischen Symptomen wie Sehstörungen,Sensibilitätsstörungen, Muskelschwäche, Koordinationsstörungen und Fatigue.

Die genaue Ursache von MS ist noch nicht vollständig geklärt. Es wird angenommen, dass genetische Prädisposition, Umweltfaktoren und Infektionen eine Rolle bei der Entstehung der Erkrankung spielen.

Die Kontroverse: Hepatitis-B-Impfung und MS-Risiko

Seit der Einführung der Hepatitis-B-Impfung wurden wiederholt Bedenken geäußert, dass die Impfung als Auslöser für das Auftreten oder die Progression von Multipler Sklerose (MS) verantwortlich sein könnte. Diese Bedenken basierten auf Fallberichten und Beobachtungsstudien, die einen zeitlichen Zusammenhang zwischen der Impfung und dem Auftreten von MS-Symptomen zeigten.

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Studienergebnisse im Überblick

Ausgehend von dieser Hypothese wurden in den vergangenen Jahren mehrere Fall-Kontroll- und Kohortenstudien sowie eine "Case cross-over study" zu diesem Thema publiziert. Die meisten dieser Studien konnten jedoch keinen signifikanten Zusammenhang zwischen der Hepatitis-B-Impfung und dem Auftreten von MS bzw. von anderen demyelinisierenden Erkrankungen feststellen.

Eine Fall-Kontroll-Studie von MA Hernán et al. aus dem Jahr 2004 sorgte jedoch für Aufsehen. Die Autoren errechneten in ihrer Studie eine geringfügig erhöhte Odds Ratio (=> Risiko) von 3,1 (95 % CI 1,5-6,3) für MS nach einer Hepatitis-B-Impfung. Bezüglich Tetanus- und Influenza-Impfung wurde kein Hinweis auf ein erhöhtes Risiko für MS gefunden.

Die Studie von Hernán et al. wurde jedoch aufgrund verschiedener methodischer Probleme kritisiert. So wurde beispielsweise die retrospektive Auswahl der Patienten mittels einer Datenanalyse aus einer englischen General Practice Research Database (GPRD) durchgeführt. Zudem wurde die Definition der Kontrollgruppe bemängelt, die sich nur auf Alter, Geschlecht, Zeitpunkt der Praxisregistrierung und Ort der Praxis beziehen, nicht aber auf mögliche weitere Faktoren, die zu einer Impfindikation führen könnten.

Eine durchaus ähnliches Studiendesign mit Patientendaten aus den USA ergab jüngst kein signifikant erhöhtes Risiko (Odds ratio 0,8; 95 % CI: 0,4-1,4).

Meta-Analysen und Konsenspapiere

Eine Metaanalyse zum MS-Risiko nach vorheriger Tetanusimpfung ergab ebenfalls keinen Zusammenhang. Auch das Paul-Ehrlich-Institut verweist auf Studiendaten, die den Verdacht widerlegen, dass Impfungen das Risiko für Autoimmunerkrankungen wie Multiple Sklerose (MS) erhöhen.

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Eine Expertengruppe von ECTRIMS (European Committee for Treatment and Research in Multiple Sclerosis) und EAN (European Academy of Neurology) hat ein europäisches Konsenspapier zur Impfung von MS-Patienten erarbeitet. Die Experten sind nach aktuellem Stand der Wissenschaft überzeugt, dass Impfungen bei MS-Patienten nicht das Schubrisiko erhöhen, Impfungen die Behinderung nicht fortschreiten lassen, bei MS-Patienten der Nutzen einer Impfung deren Risiken überwiegt und inaktivierte Impfstoffe bei MS-Patienten, die DMTs erhalten, sicher sind.

Aktuelle Forschungsergebnisse und Erkenntnisse

Eine aktuelle Studie der Technischen Universität München (TUM) untersuchte das Impfverhalten der Bevölkerung im Zusammenhang mit MS. Die Studie, die auf Daten von über 12.000 Patienten mit Multipler Sklerose (MS) basiert, zeigte, dass sich MS-Erkrankte 5 Jahre vor der Diagnose statistisch seltener impfen ließen als Vergleichsgruppen. Ein Zusammenhang zwischen Impfungen und dem Auftreten von MS scheint somit unwahrscheinlich.

Die Forscher werteten zusätzlich die Daten von Menschen mit Morbus Crohn und mit Psoriasis aus. Auch bei ihnen waren die Impfungen 5 Jahre vor ihrer Diagnose erfasst worden. Diese Patienten ließen sich aber ähnlich oft impfen wie die gesunde Kontrollgruppe. „Die Ergebnisse sind nicht allein auf eine chronische Krankheit zurückzuführen, sondern ein MS-spezifisches Verhalten“, sagt Hemmer.

Impfempfehlungen für MS-Patienten

Generell gelten die allgemeinen Impfempfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO). MS-Patienten sollten sich jährlich vor Grippe schützen und ihren Pneumokokken-Impfschutz aktuell halten. Unabhängig vom Alter ist bei einer geplanten Behandlung mit Alemtuzumab, Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor-Modulatoren, Cladribin oder CD20-Antikörpern eine HPV-Impfung (humanes Papillomavirus) ratsam. Für ab 18-Jährige ist eine Gürtelroseimpfung (Shingrix®) empfehlenswert, wenn sie stark immunsupprimierende Arzneimittel erhalten, die eine Herpesinfektion begünstigen.

Impfstrategien für MS-Patienten unter Immunsuppressiver Therapie

Die Experten empfehlen, den Impfstatus aller MS-Patienten - insbesondere vor Beginn einer immunsupprimierenden Therapie - zu überprüfen. Angeratene Impfungen sollten am besten schon bei Diagnosestellung oder in frühen Krankheitsstadien verabreicht werden, um den Start einer MS-Behandlung nicht zu verzögern. Eine Bestimmung des Impftiters empfehlen die Experten ein bis zwei Monate nach Impfung sowie nach Hepatitis-B-, Tetanus-, Masern-, Mumps- und Windpockenimpfung (mögliche Boosterimpfungen in Betracht ziehen, bei Hepatitis B mit der adjuvantierten Vakzine).

Prinzipiell dürfen MS-Patienten inaktivierte Impfstoffe jederzeit - auch unter DMT - erhalten. Optimalerweise liegen für eine bestmögliche Impfantwort jedoch zwischen der letzten Impfung und dem Behandlungsbeginn zwei Wochen. Bei Lebendimpfstoffen sollte nach Impfung vier Wochen bis zum Start einer DMT gewartet werden - bei Ocrelizumab und Alemtuzumab sogar sechs Wochen. Bei Therapieende hängt der Zeitpunkt der nächstmöglichen Lebendimpfung vom abgesetzten MS-Arzneimittel ab. Nach Hochdosis-Kortisongabe sollte ein Monat bis zur nächsten Lebendimpfung gewartet werden.

Ob Lebendimpfstoffe - zum Beispiel gegen Masern, Mumps, Röteln, Windpocken oder Gelbfieber - sicher verabreicht werden können, hängt von der MS-Therapie ab: MS-Patienten ohne DMT können Lebendimpfstoffe problemlos erhalten. So auch Patienten, die Interferone oder Glatirameracetat (Copaxone®) anwenden.

Unter Dimethylfumarat (Tecfidera®), Teriflunomid (Aubagio®), Sphingosin-1-Phosphat-Rezeptor-Modulatoren - Fingolimod (Gilenya®), Ozanimod (Zeposia®), Ponesimod (Ponvory®), Siponimod (Mayzent®) -, Natalizumab (Tysabri®), Cladribin (Mavenclad®), Alemtuzumab (Lemtrada®) und CD20-Antikörpern - Ocrelizumab (Ocrevus®), Ofatumumab (Kesimpta®) - sollte auf eine Impfung mit Lebendimpfstoffen verzichtet werden. Der Grund: Man will Impfstoff-bezogene Infektionen vermeiden.

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