Hereditäre Polyneuropathien, auch bekannt als erbliche Neuropathien, sind eine Gruppe genetisch bedingter Erkrankungen, die das periphere Nervensystem betreffen. Diese Erkrankungen können motorische, sensible und autonome Nerven beeinträchtigen und zu einer Vielzahl von Symptomen führen. Die Charcot-Marie-Tooth-Krankheit (CMT), auch hereditäre motorische und sensorische Neuropathie (HMSN) genannt, ist die häufigste Form der hereditären Neuropathien.
Einführung
Hereditäre Polyneuropathien wurden bereits Ende des 19. Jahrhunderts erstmals beschrieben. Die Nervenärzte Charcot und Marie in Frankreich und Tooth in England erkannten die familiäre Häufung eines meist symmetrischen distalen Muskelschwunds und der daraus resultierenden Muskelschwäche in den Unterschenkeln und Füßen, verbunden mit einer erheblichen Fußdeformierung und Gangstörung sowie einer Atrophie und Schwäche der kleinen Handmuskeln.
Ursachen
Hereditäre Neuropathien sind genetisch bedingte Erkrankungen der peripheren Nerven. Mutationen in über 100 Genen können als Ursache identifiziert werden. Diese Mutationen können autosomal-dominant, autosomal-rezessiv oder X-chromosomal vererbt werden. Auch erbliche Mitochondriopathien können als periphere Neuropathie imponieren.
Die häufigste Ursache für HMSN I (CMT1) ist eine Duplikation auf dem kurzen Arm von Chromosom 17 (17p11.2-12), die den Genort für das periphere Myelinprotein 22 (PMP22) umfasst. Mutationen im Myelinprotein-Null-Gen (MPZ) auf Chromosom 1 (1q22-23) oder im Connexin-32-Gen (GJB1) auf dem X-Chromosom (Xq13.1) können ebenfalls zu HMSN I führen.
Bei HMSN II (CMT2), dem neuronalen Typ der hereditären motorisch-sensiblen Neuropathie, finden sich morphologisch Zeichen einer axonalen Degeneration. Mutationen des Mitofusin 2-Gens auf dem Chromosom 1 (1q23 bzw. 1p35) oder auf Chromosom 3 (3q13-22) oder 7 (7p14) sind die häufigste Ursache.
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Symptome
Die Symptome hereditärer Polyneuropathien können in jedem Lebensalter beginnen, meist jedoch in der Kindheit oder im Jugendalter. Die Symptome variieren je nach betroffenem Nerventyp (motorisch, sensorisch, autonom) und der spezifischen genetischen Mutation.
Typische Symptome
- Muskelschwäche und -schwund, beginnend in den Füßen und Unterschenkeln ("Storchenbeine")
- Fußdeformitäten (Hohlfuß, Krallenzehen)
- Gangstörungen (Steppergang)
- Empfindungsstörungen (Kribbeln, Taubheit, Schmerzen)
- Reflexverlust
- vegetative Störungen
Bei der hereditären sensorischen und motorischen Neuropathie kann ein Verlust des Schmerzempfindens mit Verletzungen und schmerzlosen Frakturen eintreten. Abhängig von der Unterform sind Verdauungs-, Herzrhythmus- und Schweißsekretionsstörungen als Begleiterscheinungen möglich.
Spezifische Formen und ihre Symptome
- HMSN Typ I (CMT1): Langsam fortschreitende, vorwiegend motorische Polyneuropathie mit distalem Beginn, die zu Hohlfußbildung, Steppergang und Storchenbeinen führt.
- HMSN Typ II (CMT2): Ähnelt Typ 1, aber mit langsamerem Verlauf und axonaler Degeneration.
- Déjerine-Sottas-Syndrom (DSS): Rasch fortschreitende demyelinisierende Neuropathie, die bereits in den ersten Lebensjahren beginnt.
- Hereditäre Neuropathie mit Neigung zu Druckläsionen (HNPP): Erhöhte Empfindlichkeit der peripheren Nerven gegenüber minimalem Druck.
- Refsum-Syndrom (HMSN IV): Peroxisomale Fettspeicherkrankheit mit sensomotorischer Neuropathie, Retinitis pigmentosa, zerebellärer Ataxie und erhöhtem Liquoreiweiß.
- Hereditäre sensible und autonome Neuropathien (HSAN): Fehlendes Schmerzempfinden, Ulzera an den Füßen, Mutilationen, fehlende Tränensekretion, orthostatische Dysregulation, fleckige Hautrötung, labile Temperatur- und Schweißregulation.
Diagnose
Die Diagnose hereditärer Polyneuropathien umfasst in der Regel eine gründliche Anamnese, eine neurologische Untersuchung, elektrophysiologische Untersuchungen und genetische Tests.
Diagnostische Verfahren
- Anamnese: Erhebung der Krankengeschichte und Familienanamnese.
- Neurologische Untersuchung: Prüfung von Muskelkraft, Sensibilität und Reflexen.
- Elektrophysiologische Untersuchungen:
- Elektroneurographie (ENG): Messung der Nervenleitgeschwindigkeit.
- Elektromyographie (EMG): Untersuchung der Muskelaktivität.
- Laboruntersuchungen: Ausschluss anderer Ursachen für Polyneuropathie (z. B. Diabetes mellitus, Vitaminmangel, Entzündungen).
- Gentests: Identifizierung der spezifischen genetischen Mutation.
- Nervenbiopsie: In seltenen Fällen zur weiteren Abklärung.
Genetische Diagnostik
Die genetische Abklärung wird in Österreich bereits an mehreren Institutionen bzw. Labors angeboten und kann vom Facharzt für Neurologie, Orthopädie oder Humangenetik nach entsprechender genetischer Beratung veranlasst werden. Die Auswahl des genetischen Tests (Einzelgenanalyse, NGS mit Panel oder „whole exome sequencing“, etc) erfolgt individuell in Abhängigkeit vom klinisch-elektrophysiologischen Phänotyp, von der Größe des vermutlich mutierten Gens und vorhandenen Vorbefunden. Durch die mittlerweile kostengünstige Testung mittels NGS-Methoden ist die bisher meist angewandte Sanger-Sequenzierung einzelner CMT-Gene deutlich in den Hintergrund gerückt.
Therapie
Bisher gibt es keine Heilung für die meisten hereditären Polyneuropathien. Die Behandlung zielt darauf ab, die Symptome zu lindern, die Lebensqualität zu verbessern und Komplikationen vorzubeugen.
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Konservative Behandlung
- Physiotherapie: Stärkung der Muskulatur, Verbesserung der Koordination und des Gleichgewichts.
- Ergotherapie: Anpassung des Alltags an die körperlichen Einschränkungen.
- Orthopädische Hilfsmittel: Orthesen, Schuheinlagen, Rollatoren oder Rollstühle zur Unterstützung der Mobilität.
- Schmerztherapie: Medikamente zur Linderung neuropathischer Schmerzen (z. B. Amitriptylin, Duloxetin, Gabapentin, Pregabalin, Tramadol).
Medikamentöse Therapie
Bei schmerzhafter Neuropathie kommen verschiedene Substanzen zum Einsatz: u.a. Pregabalin, Gabapentin, Amitryptilin, Duloxetin, Tramadol.Supportiv stehen für die CMT-Neuropathien Physio- und Ergotherapie zur Verfügung, die regelmäßig und fortlaufend erfolgen sollten. Dies dient der Vermeidung sekundärer Komplikationen wie Muskel- und/oder Sehnenverkürzungen und daraus folgender Gelenkkontrakturen und Schmerzen. Bei klinisch häufig im Vordergrund stehender sensibler Gang- und Standataxie sowie diffuser Schwindelsymptomatik ist Physiotherapie mit integrierter Gangschulung und Gleichgewichtstraining einsetzbar.
Spezifische Therapien
- ATTR-Amyloidose: Tafamidis (Molekülstabilisator) oder Gene-Silencing-Therapien.
- Refsum-Syndrom: Reduktion der Phytansäureaufnahme mit der Nahrung.
Chirurgische Eingriffe
- Korrektur von Fußdeformitäten.
- Dekompression von Nerven bei Druckläsionen.
Prognose
Der Verlauf hereditärer Polyneuropathien ist variabel und hängt von der spezifischen genetischen Mutation und dem betroffenen Nerventyp ab. Einige Formen verlaufen langsam und gutartig, während andere rasch fortschreiten und zu schwerer Behinderung führen können.
CMT-Register
Alle Personen mit CMT-Neuropathie in Deutschland und Österreich können sich registrieren unter www.cmt-register.de. Dies ist eine Informationsplattform für alle, die sich registriert haben.
Leben mit hereditärer Polyneuropathie
Hereditäre Polyneuropathien können das Leben der Betroffenen erheblich beeinträchtigen. Es ist wichtig, sich frühzeitig an einen Spezialisten zu wenden, um eine genaue Diagnose zu erhalten und eine individuelle Behandlungsstrategie zu entwickeln. Selbsthilfegruppen können eine wertvolle Unterstützung bieten.
Tipps für den Alltag
- Regelmäßige Fußpflege zur Vermeidung von Druckstellen und Verletzungen.
- Tragen von bequemem Schuhwerk.
- Vermeidung von Druck auf die Nerven.
- Regelmäßige körperliche Betätigung (z. B. Ausdauersport).
- Anpassung des Wohnumfelds zur Sturzprävention.
Ausblick
Die Forschung im Bereich der hereditären Polyneuropathien schreitet stetig voran. Es gibt berechtigte Hoffnung, dass zukünftig kausale Therapien entwickelt werden, die den Krankheitsverlauf zumindest verzögern oder sogar stoppen können.
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