Hirnschrittmacher bei Epilepsie: Eine umfassende Übersicht

Die Epilepsiechirurgie hat sich in den letzten 30 Jahren als eine sichere und wirksame Methode zur Behandlung von pharmakoresistenten Epilepsien etabliert. Bei etwa einem Drittel der mehr als eine halbe Million Menschen in Deutschland, die an Epilepsie leiden, helfen Medikamente nicht oder nicht ausreichend. Für diese Patientengruppe stellen Hirnschrittmacher eine vielversprechende Therapieoption dar. Ende September wurde der weltweit erste minimalinvasiv platzierte Hirnschrittmacher für Epilepsiepatienten zugelassen.

Was ist Epilepsie?

Epilepsien sind neurologische Erkrankungen mit einem vielfältigen Erscheinungsbild. Gemeinsam ist ihnen, dass von Zeit zu Zeit - meist ohne erkennbaren Anlass - epileptische Anfälle auftreten. Nach Angaben des Bundesministeriums für Gesundheit haben schätzungsweise zehn von 100 Menschen in ihrem Leben mindestens einen epileptischen Anfall.

Die Nervenzellen im Gehirn kommunizieren über elektrochemische Signale. Bei einem epileptischen Anfall ist dieses Zusammenspiel der Nervenzellen im Gehirn gestört. Bildlich wird auch von einem "Gewitter im Gehirn" gesprochen, denn die Störung führt dazu, dass einzelne Hirnbereiche oder das gesamte Gehirn zu viele Signale abgeben.

Epileptische Anfälle können unterschiedlich ablaufen und von wenigen Sekunden bis zu einigen Minuten dauern. Generalisierte Anfälle betreffen das ganze Gehirn und führen häufiger zu Bewusstlosigkeit und Krämpfen im ganzen Körper als fokale Anfälle. Von fokalen Anfällen spricht man, wenn die Symptome nur durch die Beeinträchtigung bestimmter Bereiche des Gehirns ausgelöst werden. Typische Symptome können hier Zuckungen, Gefühlsstörungen oder auch Veränderungen der Sinneswahrnehmung sein.

Ursachen einer Epilepsie können unter anderem Schlaganfälle, Tumore oder auch Entzündungen der Hirnhaut oder des Gehirns sein. Daneben gibt es Hinweise auf genetische Veranlagungen, da Epilepsie in manchen Familien über mehrere Generationen auftritt.

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Wann kommt ein Hirnschrittmacher in Frage?

Ein Hirnschrittmacher kann eine Option sein, wenn:

  • Medikamente die Anfälle nicht ausreichend kontrollieren (pharmakoresistente Epilepsie).
  • Eine resektive Epilepsiechirurgie (operative Entfernung des epileptogenen Fokus) nicht möglich ist, z.B. weil die epileptogene Zone zu ausgedehnt ist oder mit wichtigen funktionstragenden Hirngebieten überlappt.

Voraussetzung für eine epilepsiechirurgische Behandlung ist, die genaue Lage und Ausdehnung der epileptogenen Zone im Gehirn festzustellen. Das ist der Hirnbereich, von dem die typischen epileptischen Anfälle ausgehen können. Daneben ist eine hoch-auflösende Kernspin-(MRT-) Bildgebung erforderlich, um feinste, möglicherweise für die Epilepsie verantwortliche Strukturauffälligkeiten (Läsionen) zu identifizieren. Für die Einschätzung des OP-Risikos ist u.a. eine neuropsychologische Untersuchung erforderlich, z.B. um das Ausmaß von Gedächtnisstörungen festzustellen. Weitere Zusatzuntersuchungen sind gelegentlich notwendig, z.B. um die Lage von Motorik- und Sprachzentren im Gehirn zu bestimmen.

Die ausführliche prächirurgische Diagnostik erfolgt auf der Epilepsiestation der Klinik für Schlafmedizin und neuromuskuläre Erkrankungen. Anschließend werden die Befunde in einer interdisziplinären Fallkonferenz mit allen beteiligten Spezialist*innen der Neurochirurgie, Epileptologie, Radiologie und Psychologie besprochen und gemeinsam eine Therapieempfehlung erarbeitet.

Funktionsweise von Hirnschrittmachern bei Epilepsie

Hirnschrittmacher, auch bekannt als elektrische Neurostimulation, sind palliative Verfahren, die nicht zur Anfallsfreiheit führen, aber zumindest eine Besserung der Anfallshäufigkeit bewirken können. Sie schützen Gehirnzellen vor Fehlentladungen. Es gibt verschiedene Arten von Hirnschrittmachern, die sich in ihrer Funktionsweise und dem Ort der Stimulation unterscheiden:

  • Vagusnervstimulation (VNS): Hierbei wird der linke Nervus vagus im Halsbereich über einen implantierten Schrittmacher elektrisch stimuliert. Die Reizung erfolgt mit einem festen Schema, das vom Arzt oder von der Ärztin über ein Handheldgerät von außen programmiert werden kann.
  • Tiefe Hirnstimulation (DBS) der Nucleus anterior thalami (ANT-DBS): Bei diesem Verfahren werden Elektroden tief im Gehirn platziert, um den Nucleus anterior thalami zu stimulieren. In Tübingen haben deutsche Ärzte einem Epilepsiepatienten einen Hirnschrittmacher eingesetzt. Das Gerät stimuliert eine bestimmte Hirnregion und schützt dadurch vor den Krampfanfällen. Bei der Operation verbanden die Ärzte zwei feine Drähte mit dem sogenannten anterioren Thalamus, einer wichtigen Schaltzentrale des Gehirns. Die Drähte sind an einen Stimulator unterhalb des Schlüsselbeins des Patienten angeschlossen. Die elektrische Stimulation selbst erfolgt in einem regelmäßigen Takt: eine Minute Stimulation, fünf Minuten Pause, eine Minute Stimulation. Zudem ist in das System ein Notfallknopf integriert. Bemerken die Implantat-Träger durch körperliche Anzeichen einen bevorstehenden Anfall, können sie ihn betätigen. Er löst eine sofortige Stimulation aus und kann so den Anfall eventuell abwenden.
  • Responsive Neurostimulation (RNS): Diese Methode erkennt sich anbahnende Anfälle und unterbindet sie gezielt. Bisher ist die Responsive Hirnstimulation in Deutschland und Österreich noch nicht zugelassen.
  • Epikraniale Applikation von Stimulationselektroden (EASEE®): Bei diesem minimalinvasiven Verfahren wird eine Elektrode unter der Kopfhaut platziert, die durch den Schädel hindurch leichte elektrische Reize an ein festgelegtes Hirnareal abgibt.

Die verschiedenen Arten von Hirnschrittmachern im Detail

Vagusnervstimulation (VNS)

Bei der Vagusnervstimulation (VNS) wird der linke Nervus vagus im Halsbereich über einen implantierten Schrittmacher elektrisch stimuliert. Die Reizung erfolgt mit einem festen Schema, das vom Arzt oder von der Ärztin über ein Handheldgerät von außen programmiert werden kann. VNS führt bei etwa 30 bis 50 Prozent der behandelten Patientinnen (Responder) zu einer Verminderung der Anfallshäufigkeit um durchschnittlich 30 Prozent. Anfallsfreiheit wurde nur in wenigen Einzelfällen berichtet. Neben der antikonvulsiven Wirkung ist auch ein antidepressiver Effekt beschrieben. Mögliche Nebenwirkungen sind Heiserkeit, Reizhusten und Schluckstörungen. Über einen Magneten können die Patientinnen den Schrittmacher zusätzlich zum fest programmierten Stimulationszyklus aktivieren. Einige Patient*innen berichten, dass sie dadurch beginnende Anfälle teilweise unterbrechen können.

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Für Patienten mit komplexen Epilepsie Formen gibt es eine weitere Therapiemethode der Neuromodulation: die Implantation eine Schrittmachers am Vagus Nerven im linken Halsbereich. Voraussetzung für die Behandlung der Betroffenen ist, dass bei ihnen weder eine medikamentöse Behandlung anschlägt noch ein operatives Entfernen des Krampfherdes möglich ist. Ähnlich einem Hirnschrittmacher wird ein Impulsgeber (batteriebetriebener Neurostimulator) unter die Haut im Brustbereich implantiert. Ein dünnes, ebenfalls unter der Haut verlaufendes, Kabel verbindet den Schrittmacher mit drei Elektroden am linken Vagus-Nerven am Hals. Die Impulse werden von dort in die Hirnregion weitergeleitet, in der die anfallsverursachenden Entladungen auftreten. Durch die Kollision dieser gegensätzlichen elektrischen Impulse kann sowohl die Anfallsfrequenz als auch die Dauer der epileptischen Anfälle in vielen Fällen deutlich gesenkt werden.

Tiefe Hirnstimulation (DBS)

Basierend auf den Erfolgen der chronischen tiefen Hirnstimulation (Deep Brain Stimulation, DBS), insbesondere im Nucleus subthalamicus (STN), bei der Behandlung von Bewegungsstörungen, sowie auf Tiermodellen, konnte gezeigt werden, dass das nigrale System auch die neuronale Übertragung bei Epilepsien moduliert. Da der STN eng mit dem nigralen System verbunden ist, sind bereits erste Versuche unternommen worden, verschiedene therapierefraktäre Epilepsieformen durch eine DBS-Operation zu beeinflussen. In Einzelfällen konnte eine Reduktion der Anfallsfrequenz von bis zu 80% erzielt werden. Die Operation erfolgt analog zu den routinemäßig durchgeführten Eingriffen bei M.

Die Grundlage für die Zulassung der Therapieform in Europa war die sogenannte Sante-Studie. 110 Epilepsiepatienten wurde in den USA ein THS-System eingesetzt. Der Erfolg dieser Behandlung wurde über zwei Jahre lang dokumentiert: 40 Prozent der Studienteilnehmer hatten nach 13 Monaten 50 Prozent weniger epileptische Anfälle. Jeder zehnte Patient war mindestens sechs Monate lang anfallsfrei.

Responsive Neurostimulation (RNS)

Gezielter wirkt die sogenannte Responsive Hirnstimulation, bei der Schrittmacher sich anbahnende Anfälle erkennen und gezielt unterbinden. Bisher ist die Responsive Hirnstimulation in Deutschland und Österreich noch nicht zugelassen.

Epikraniale Applikation von Stimulationselektroden (EASEE®)

Ende September ist der weltweit erste minimalinvasive Hirnschrittmacher für Epilepsiepatienten zugelassen worden, der die Anfallshäufigkeit und auch die -stärke deutlich reduzieren kann. Bei diesem Schrittmacher werden elektrische Reize durch den Schädel hindurch auf das Gehirn gegeben, und zwar in zwei verschiedenen Formen von solchen Reizungen kombiniert. Das erfolgt über einen bestimmten Zeitraum, etwa 25 Minuten am Tag, ohne dass der Patient das selbst bemerkt, weil die Intensität so gering ist, dass sie nicht gespürt werden kann. Durch diese elektrischen Reize wird das Areal beeinflusst, von dem epileptische Anfälle ausgehen. Es ist also geeignet für Patienten, die eine sogenannte fokale Epilepsie haben, die in einem bestimmten Hirnareal ihren Ursprung nimmt. Einige Patienten hatten sogar eine stärkere Abnahme als 50 Prozent. Wenn man bedenkt, dass das Patienten sind, die besonders schwer behandelbar sind, die also schon viele andere Behandlungen, insbesondere viele medikamentöse Behandlungen, ohne Erfolg hinter sich haben, dann ist das ein sehr gutes Ergebnis.

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Der Hirnschrittmacher besteht aus einer Elektrode, die die elektrischen Reize abgibt und einem Generator mit einer Batterie, der die Abgabe der Reize steuert. Ähnlich wie bei einem Herzschrittmacher wird der Generator im Rumpf eingesetzt. Da die Elektrode nicht im Gehirn eingesetzt werden muss, sondern direkt unter der Kopfhaut platziert wird, muss der Schädel nicht angebohrt werden. Täglich für etwa eine halbe Stunde gibt der Hirnschrittmacher durch den Schädel leichte elektrische Reize an ein festgelegtes Hirnareal ab.

Ablauf der Implantation und Nachsorge

Schrittmacheroperationen bei Epilepsie werden in der Regel durch Neurochirurginnen und Neurochirurgen durchgeführt. Schrittmacher, die direkt ins Gehirn eingesetzt werden, werden ausschließlich von ihnen eingesetzt. Die Operation dauert in der Regel bis zu sechs Stunden. Eine Gehirnoperation ist im Allgemeinen aufwendiger als eine Operation am restlichen Körper.

Grundsätzlich funktionieren Schrittmacher, sobald sie eingesetzt worden sind. Bis die optimale Einstellung gefunden ist, dauert es im Durchschnitt 6 - 12 Monate. Schrittmacher bei Epilepsie geben kontinuierlich Reize an die Gehirnzellen ab.

Beim Batterietausch wird tatsächlich nur der Generatorteil Ihres Schrittmachers bearbeitet. Moderne Schrittmacher müssen etwa alle 5 - 8 Jahre ausgetauscht werden.

Risiken und Nebenwirkungen

Wie bei allen operativen Eingriffen kann es auch beim Einsetzen des Schrittmachers zu Blutungen und Infektionen kommen. Schrittmacher am Vagusnerv können gelegentlich zu Heiserkeit und Kitzeln führen, während Schrittmacher im Gehirn meist kaum bemerkt werden.

Andreas Schulze-Bonhage: Hier wird letztlich die Elektrode nur auf dem Schädel befestigt und unter die Haut gelegt. Es gibt deshalb so ein bisschen Brennen oder Parästhesien, sagen wir also Missempfindungen im Bereich der Haut, wo man diesen kleinen Schnitt gemacht hat. Das hört aber in der Regel nach zwei, drei Wochen auf und wir haben sonst eigentlich keine schwereren Nebenwirkungen weder von dem Anbringen des Stimulators noch unter der Stimulation selbst gesehen. Also bisher scheint es eine extrem gut verträgliche Behandlung zu sein.

Erfolgsaussichten

Die Neurostimulation allein führt nur sehr selten zur vollständigen Anfallsfreiheit. Sie kann eine medikamentöse Therapie jedoch oft ergänzen. Neurostimulation senkt in etwa vier von zehn Fällen die Anfallshäufigkeit.

Über alle Patienten gerechnet hatte die Hälfte der Betroffenen weniger Anfälle - bei ihnen nahm die Häufigkeit um etwa 50 Prozent ab. Bei einigen Behandelten war der Effekt sogar noch größer.

Forschung und Zukunftsperspektiven

In einer Folgestudie in Freiburg soll die Therapie mit den Schrittmachern mittels Künstlicher Intelligenz weiter personalisiert werden. Eine Künstliche Intelligenz identifiziert dabei typische Anfangssignale eines epileptischen Anfalls, um sie durch gezielte Stimulation zu unterbrechen. Letztlich soll es damit gar nicht erst zu einem Anfall kommen.

Das Forschungsteam um Prof. Dr. Andreas Schulze-Bonhage, Leiter des Epilepsiezentrums der Klinik für Neurochirurgie des Universitätsklinikums Freiburg, untersucht, wie mittels Künstlicher Intelligenz bereits erste Anfallssignale erkannt und durch gezielte Stimulation unterbrochen werden können, sodass es gar nicht erst zu einem Anfall kommt. Außerdem wollen die Wissenschaftlerinnen und Ärztinnen herausfinden, welche Patient*innen von der Behandlung besonders profitieren, um sie gezielt anbieten zu können. Die Studie läuft voraussichtlich bis Frühjahr 2024.

Andreas Schulze-Bonhage: Bei dem jetzigen Verfahren ist es so, dass eine bestimmte Stimulation festgelegt wird und die dann über viele Monate und Jahre appliziert wird, also über dem Fokus-Areal eine Reizung in fester Form durchgeführt wird. Für die Zukunft ist geplant, dass man diese Elektrode auch benutzt, um das EEG, also die elektrischen Hirnströme des Patienten zu messen und dann zu überlegen: Kann man vielleicht zu einem bestimmten Zeitpunkt besonders wirksam stimulieren? Und auch: Welche Stimulationsform ist die Beste? Man kann also sozusagen ein Feedback bekommen. Was wirkt eigentlich, wenn wir eine solche Stimulation durchführen? Wie ändert sich dadurch die Hirnaktivität? Und können wir bestimmte Zeitpunkte wählen? Das kann also bei einem Anfall sein. Es könnte aber auch sein in einer Phase vor einem Anfall, wenn man schon erkennen kann, dass das Risiko für einen Anfall besonders hoch ist.

Laut der Freiburger Studie könnte der neu entwickelte Hirnschrittmacher auch bei anderen neurologischen Erkrankungen eingesetzt werden, für die es bisher nur unzureichende Behandlungsmöglichkeiten gibt. Kürzlich zugelassenes Stimulationssystem soll mittels Künstlicher Intelligenz beginnende epileptische Anfälle erkennen und unterbrechen / Neue Option bei Medikamentenresistenz / Studie am Universitätsklinikum Freiburg soll Behandlung stark personalisieren.

Andreas Schulze-Bonhage: Der aktuelle Schrittmacher ist natürlich jetzt für die Behandlung von Epilepsien optimiert. Grundsätzlich ist es aber so, dass es eine Reihe von Hirnerkrankungen gibt, übrigens auch von psychiatrischen Erkrankungen, wo man überlegen kann, ähnliche Stimulationen durchzuführen. Es gibt im Moment auch schon sogenannte transkranielle Stimulationsverfahren, die aber nicht als ein festes Gerät implantiert werden, sondern die zum Beispiel in einer Klinik angewandt werden zur Behandlung von Depressionen. Und man könnte sich vorstellen, dass dieses Gerät als Plattform auch für andere Anwendungen geeignet ist. Man kann es sich auch zur Schmerzbehandlung zum Beispiel vorstellen.

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