Inge Jens, geboren 1927 in Hamburg, war eine bedeutende deutsche Literaturwissenschaftlerin, Publizistin und engagierte Intellektuelle. Ihr Leben war geprägt von einem tiefen Interesse an literarischen und kulturhistorischen Zusammenhängen, einem unbedingten Einsatz für Frieden und sozialer Gerechtigkeit sowie schließlich von der Auseinandersetzung mit der Demenz ihres Mannes Walter Jens.
Von "Unvollständigen Erinnerungen" zur Demenzforschung
Als Inge Jens im Alter von 82 Jahren ihre Autobiografie „Unvollständige Erinnerungen“ verfasste, stellte sie sich die Frage nach dem Warum. Ihre ehrliche Antwort: „Weil ich merkte, dass es mir Spaß machte, mich mit mir selbst zu beschäftigen.“ Zu diesem Zeitpunkt litt ihr Mann Walter Jens bereits seit einigen Jahren an Demenz. Inge Jens offenbarte, dass ihr die Krankheit den Partner genommen und sie „auf mich selbst - nein, nicht zurückgeworfen, aber verwiesen“ habe. Sie machte die Demenz ihres 2013 verstorbenen Mannes öffentlich und sagte in einem Interview: „Er ist nicht mehr mein Mann. Die Krankheit hat ihn zu einem anderen Menschen gemacht.“
Der Grund für ihre Freude an der Selbstbeschäftigung lag tiefer, begründet in ihrer Arbeit als Literaturwissenschaftlerin und ihrem politischen und zivilgesellschaftlichen Engagement. Ihr Hauptaugenmerk galt immer anderen, nicht nur Schriftstellern, sondern auch den Geschwistern Scholl, Ralph Benatzky oder Josephine Caroline Lang. Diesen Schicksalen ging sie sowohl im literarischen als auch im historischen Kontext nach, umfassend, sachlich und präzise.
Engagement für Frieden und soziale Gerechtigkeit
Wie ihre literatur- und kulturhistorischen Arbeiten war auch ihre Teilnahme an der Friedensbewegung in den achtziger Jahren von einem unbedingten Engagement geprägt. Als Friedensaktivistin nahm sie mit ihrem Mann an der Blockade des Pershing-II-Depots in Mutlangen teil und beherbergte 1991 zwei Irakkriegs-Deserteure der US-Armee bei sich zu Hause in Tübingen.
Jugend im Nationalsozialismus
Inge Jens wurde 1927 in Hamburg als Inge Puttfarcken geboren. Sie war das älteste von vier Kindern einer liberalen, wohlhabenden Familie. Der Nationalsozialismus wurde wie selbstverständlich in diese bürgerlichen Zusammenhänge integriert, „und zwar ohne dass wir das Gefühl hatten, uns jeweils ,anders' verhalten zu müssen“, wie sie in ihrer Autobiografie schrieb. Ihr Vater, Chemiker von Beruf, arbeitete bei einer Nachrichtenabteilung der SS. Sie selbst kam zu den Jungmädchen und stieg später zur BDM-Führerin auf: „Es überwiegen die freundlichen Erinnerungen“, schrieb Jens ganz offen. Sie demonstrierte diese Offenheit, indem sie in ihre Erinnerungen einen Aufsatz montierte, den sie als 10-Jährige über einen Besuch Hitlers in Hamburg geschrieben hatte.
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Dies war insofern bemerkenswert, als dass Walter Jens 2003 nach der Enthüllung seiner NSDAP-Mitgliedschaft mehr als Schwierigkeiten damit hatte, sich daran zu erinnern. Dies veranlasste den 2020 verstorbenen Sohn der beiden, Tilman Jens, mit „Demenz. Abschied von meinem Vater“ bei aller Zärtlichkeit und Zugewandtheit eine Art Abrechnung zu schreiben.
Berufliche Emanzipation und literarisches Schaffen
Nach dem Zweiten Weltkrieg studierte Inge Jens Germanistik, Anglistik und Pädagogik in Hamburg und Tübingen. Mitte der sechziger Jahre absolvierte sie noch ein Studium der Sozialpädagogik, um in der Familienberatung tätig werden zu können. Auch wenn es zunächst den Anschein hatte, sie würde im Schatten ihres Mannes stehen, verstand Inge Jens es schnell, sich von diesem zu emanzipieren. Sie verstand es anders, als „Lebensmöglichkeiten praktisch ausprobieren zu können, Neigung und Pflicht - auch gegenüber der Familie - miteinander verbinden zu können“.
1960 übernahm sie die Edierung des Briefwechsels von Thomas Mann mit Ernst Bertram, was ihr viel Lob einbrachte. Einige Jahre danach veröffentlichte sie den Nachlass von Max Kommerell sowie eine von Marcel Reich-Ranicki gefeierte Studie über die Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste, „Dichter zwischen rechts und links“.
Vor allem verband sie ihr Leben und ihre Arbeit schließlich mit der Familie Mann, nachdem sie Anfang der achtziger Jahre die Tagebücher von Thomas Mann ediert hatte. Es folgten Bücher über verschiedene Mitglieder der Mann-Familie, weitere Brief- und Tagebucheditionen, die sie allein oder zusammen mit Walter Jens schrieb oder herausbrachte. 2013 noch zog sie Bilanz ihrer Beschäftigung mit den Manns mit dem Buch „Am Schreibtisch. Thomas Mann und seine Welt“.
Die Demenz als letztes Lebensthema
Es hat eine eigene Tragik, dass sich in den Jahren der Demenz von Walter Jens der Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit, aber auch der ihrige, private sowieso, wieder ganz auf ihren Mann richtete. Doch gehörte es zu ihrem Wesen, das nicht nur anzunehmen, sondern sich offensiv dafür einzusetzen, diese Krankheit zu enttabuisieren, darüber aufzuklären, auch die Sterbehilfe zu thematisieren, in Interviews, öffentlichen Auftritten und ihrem letzten, 2016 entstandenen Buch „Langsames Entschwinden: Vom Leben mit einem Demenzkranken“. Darin versammelt sind knapp vierzig Briefe, die sie an Freunde geschrieben hat, um den Zustand von Walter Jens und ihre eigenen Empfindungen zu dokumentieren.
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Inge Jens starb am Abend vor Heiligabend 2021 in Tübingen im Alter von 94 Jahren.
Umgang mit Leid und Krankheit in der Öffentlichkeit
Inge Jens vermarktete ihr Leid nicht, sondern sprach als Wissenschaftlerin und deshalb umso eindrücklicher darüber. Sie beobachtete den großen Geist, der vor ihren Augen zugrunde ging, aber sie verzweifelte nicht. Es gehörte nicht wenig Mut dazu, den folgenden Satz nicht bloß zu denken, sondern ihn auch noch an die Presse zu geben: "Ich bete, dass er eines Morgens einfach nicht mehr aufwacht." Natürlich wünschte sie ihrem kranken Mann einen sanften Tod.
Die "NSDAP-Episode" von Walter Jens
Im November 2003 schlug in dieser friedensbewegten Gelehrten-Idylle eine kleine Bombe ein. In seinem Buch „Demenz. Abschied von meinem Vater“ berichtete Jens-Sohn Tilman, wie diese „NSDAP-Episode“ dem Gelehrten „den Boden unter den Füßen“ fortgerissen habe, besonders wegen der „hochnotpeinlichen Fragen zum jahrzehntelangen Schweigen eines nicht immer leisen Moralisten". Tilman verübelte seinem Vater vor allem, dass dieser den Karteifund seiner Frau verheimlichte.
Inge Jens hat von der Korrespondenz ihres Mannes mit König erst aus den Akten des Letzteren im vergangenen Herbst erfahren - durch Tilman. Als Tilman seiner Mutter die Briefe Königs zeigte, fand sie diesen Vertrauensbruch ihres Mannes »in der Tat sehr enttäuschend«, wie sie heute zugibt. Andererseits hat sie das Ganze »ex post nicht mehr so sehr gestört«. Warum eigentlich? Inge Jens seufzt und überlegt lange, dann sagt sie: »Vom Jahr 2003 an war Walter schon viel kränker, als wir es seinerzeit geahnt haben.« Seine ziemlich fahrigen Kommentare zur »NSDAP-Episode« nennt sie eine »miserable Reaktion« - das sei nie »seine Art« gewesen, er habe stets auch Attacken rhetorisch elegant pariert.
Inge Jens betont den Vorrang einer vor allem organisch bedingten Demenz; und was die Parteigeschichte betreffe, handle es sich »wohl um eine schon in frühen Jahren passierte, nicht bewusste Verdrängung«. Ihr Mann habe das Peinliche, zu dem ja noch ein Plädoyer des knapp Zwanzigjährigen 1943 für »völkische« Literatur gehört, in sich »einfach ausgelöscht«. Sie billigt das nicht, kann sich darüber aber auch nicht empören.
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Inge Jens über die Ehe mit Walter Jens
Inge Jens beantwortet verschmitzt die Frage, ob Prüderie sie daran gehindert habe, in ihren Erinnerungen auch nur den Hauch von Erotik vorkommen zu lassen: »Prüderie? Why not? Dieses Etikett ist mir ziemlich wurscht.« Wer Gefühle, und gar erotische, ohne Klischees beschreiben wolle, der müsse »verdammt gut schreiben können«, auf literarischem Niveau - »das kann ich nicht«.
Inge Jens als Herausgeberin und Editorin
Inge Jens sah sich nie als Schriftstellerin, sondern als Editorin. Sie war die Herausgeberin von Tagebüchern und Briefen berühmter Menschen. Sie arbeitete unter anderem mit Katia Mann zusammen und edierte die Tagebücher von Thomas Mann.
Inge Jens' Vermächtnis
Inge Jens hinterlässt ein beeindruckendes Werk als Literaturwissenschaftlerin, Publizistin und engagierte Intellektuelle. Ihr Einsatz für Frieden und soziale Gerechtigkeit, ihre Auseinandersetzung mit der Demenz ihres Mannes und ihre Offenheit im Umgang mit ihrer eigenen Vergangenheit machen sie zu einer wichtigen Stimme der deutschen Nachkriegsgeschichte. Ihre Bücher und Schriften sind ein wertvolles Zeugnis ihrer Zeit und regen auch heute noch zum Nachdenken an.
Die Auseinandersetzung mit der Demenz in der Gesellschaft
In ihren Briefen und Vorträgen plädierte Inge Jens für einen Wandel im Umgang mit dementen Menschen in Pflegeeinrichtungen. Sie forderte, sich auf die individuellen Bedürfnisse der Patienten einzulassen und sie nicht allgemeinen Regelungen zur Pflege unterzuordnen. Sie thematisierte die Problematik des Zeitmangels in Pflegeeinrichtungen und forderte eine umfassendere Reflexion der Krankheit Demenz und ihrer konkreten Folgen.
Inge Jens' Arbeit hat dazu beigetragen, die Demenz zu enttabuisieren und das Bewusstsein für die Bedürfnisse von Demenzkranken und ihren Angehörigen zu schärfen. Ihr Engagement ist ein wichtiger Beitrag zu einer Gesellschaft, die sich der Herausforderung Demenz stellt und einen würdevollen Umgang mit den Betroffenen ermöglicht.
Bücher von Inge Jens (Auswahl)
- Unvollständige Erinnerungen (2009)
- Langsames Entschwinden: Vom Leben mit einem Demenzkranken (2016)
- Am Schreibtisch. Thomas Mann und seine Welt (2013)
- Frau Thomas Mann (zusammen mit Walter Jens, 2003)