Lähmung nach Grippeimpfung: Ursachen, Risiken und das Guillain-Barré-Syndrom

Die Frage nach den Ursachen für Lähmungen nach einer Grippeimpfung ist komplex und erfordert eine differenzierte Betrachtung. Obwohl Impfungen im Allgemeinen als sicher gelten und einen wichtigen Schutz vor Infektionskrankheiten bieten, können in seltenen Fällen unerwünschte Nebenwirkungen auftreten. Eine besonders besorgniserregende Komplikation ist das Guillain-Barré-Syndrom (GBS), eine Autoimmunerkrankung, die zu Lähmungen führen kann.

Das Guillain-Barré-Syndrom (GBS)

Das Guillain-Barré-Syndrom (GBS) ist eine relativ seltene Autoimmunerkrankung, die Nervenwurzeln und periphere Nerven schädigt und so zu Lähmungen und anderen neurologischen Symptomen führen kann. Die Erkrankung kann einen schweren Verlauf mit langem Krankenhausaufenthalt nehmen. Die Symptome bilden sich aber in den meisten Fällen zumindest teilweise wieder zurück.

Definition und Symptome

Das GBS ist eine entzündliche Erkrankung der peripheren Nerven und Nervenwurzeln, die sich durch eine fortschreitende Lähmung und Taubheitsgefühle äußert. Meist mit Beginn an den Beinen entwickelt sich eine symmetrische fortschreitende Schwäche der Arme und Beine mit Verschlechterung über meist 2-3 Wochen, maximal 4 Wochen. In sehr schweren Fällen kann es zu einem lebensbedrohlichen Verlauf mit Lähmungen der Atem- und Schluckmuskulatur oder Herzrhythmusstörungen kommen.

Frühsymptome können Kribbeln und Brennen in Händen und Füßen sein oder auch Schmerzen. Dann tritt eine zunehmende Schwäche auf, meist zunächst in den Beinen, oft begleitet von Gangunsicherheit oder -unfähigkeit. Die Lähmungen breiten sich innerhalb weniger Tage symmetrisch aus, aufsteigend von den Beinen zu den Armen und evtl. der Atemmuskulatur. Meistens dauert es 2 Wochen (max. 4 Wochen), bis die Erkrankung ihren Höhepunkt erreicht hat.

In schweren Fällen kann die Lähmung die Atemmuskulatur betreffen und zu Atemnot führen. Auch Herzrhythmusstörungen, Blutdruckschwankungen, Blasenentleerungsstörungen oder ein Darmverschluss können durch die Beteiligung des vegetativen Nervensystems hinzukommen. Falls Hirnnerven (Nerven, die u. a. die Gesichtsmuskeln steuern) betroffen sind, kann es auch zu Lähmungen der Augenmuskeln mit Auftreten von Doppelbildern, zu Schluckstörungen oder einer Gesichtslähmung (Fazialisparese) kommen.

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Ursachen und Auslöser

Die Ursache des Syndroms ist vermutlich eine Autoimmunreaktion. Antikörper, die eigentlich Krankheitserreger bekämpfen, richten sich gegen die Nervenwurzeln im Rückenmark sowie gegen Nerven außerhalb von Gehirn und Rückenmark. In etwa 60 % der Fälle ging dem Guillain-Barré-Syndrom ein akuter Infekt voraus. Das heißt, 1-2 Wochen vor Beginn der Lähmungen hatten die Betroffene eine Atemwegsinfektion oder einen Magen-Darm-Infekt.

Insbesondere nach Kontakt mit bestimmten Erregern können vom Immunsystem produzierte Antikörper fälschlicherweise die schützende Hülle der Nerven angreifen. Eine häufige Ursache ist eine Darminfektion mit Campylobacter jejuni. Auch weitere Erreger können die Krankheit auslösen, u. a.:

  • Mycoplasma pneumoniae - ein Bakterium das Lungenentzündungen auslösen kann.
  • Epstein-Barr-Virus - der Erreger von Mononukleose, dem Pfeiffer-Drüsenfieber
  • Coronavirus

Seltener kann die Autoimmunreaktion durch eine Operation, bestimmte Medikamente (zur Krebs- oder Rheumatherapie) oder Schwangerschaft ausgelöst werden. Sehr selten kann das Guillain-Barré-Syndrom durch eine Impfung ausgelöst werden. Nach einer Impfung gegen Grippe (Influenza) beträgt das Risiko 1 zu 1 Mio.

Diagnose und Therapie

Die Diagnose wird anhand der Krankengeschichte der Betroffenen und der Ergebnisse der ärztlichen Untersuchung gestellt. Bei der Untersuchung werden das Ausmaß Lähmungen untersucht sowie die Muskelreflexe und Gefühlsstörungen überprüft. Wichtig ist die Kontrolle von Blutdruck, Puls und Sauerstoffsättigung. Um eine Beeinträchtigung der Herzfunktion zu überprüfen, wird evtl. ein EGK aufgezeichnet.

In der Klinik werden eine Antikörperbestimmung im Blut, eine Untersuchung der Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit (Liquor) sowie elektrophysiologische Messungen der Nerven durchgeführt. Zur Abklärung können weitere Untersuchungen notwendig sein.

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Bei Verdacht auf ein Guillain-Barré-Syndrom ist eine notfallmäßige Krankenhauseinweisung in eine Klinik mit Intensivstation erforderlich. Ziel der Therapie ist, Symptome zu lindern, Komplikationen zu verhindern und die Rückbildung der Lähmungen zu beschleunigen. Bei schwerem Krankheitsverlauf kann eine Beatmung auf Intensivstation oder die Versorgung mit einem Herzschrittmacher nötig sein.

Bei mittelschwerem und schwerem Krankheitsverlauf werden entweder Antikörper verabreicht oder eine Blutwäsche (Plasmapharese) durchgeführt. Beide Behandlungsformen sind ungefähr gleich wirksam und reduzieren die Beatmungszeit und die Zeit bis zum Widererlangen der Gehfähigkeit.

Sobald sich der Zustand verbessert, sollte möglichst bald mit einer Rehabilitationsbehandlung begonnen werden.

Verlauf und Prognose

Patient*innen mit Guillain-Barré-Syndrom entwickeln das maximale Ausmaß der Symptome meist innerhalb von 4 Wochen. Die Lähmungen bilden sich in umgekehrter Reihenfolge, in der sie aufgetreten sind, über Wochen bis Monate zurück.

60-80 % der Betroffenen können nach 6 Monaten wieder frei gehen. Etwa die Hälfte ist nach einem Jahr vollständig beschwerdefrei. Weitere 40 % haben milde Restsymptome. 10 % leiden weiterhin unter mäßig schweren bis schweren Symptomen.

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Die Sterblichkeit wegen einer schweren Verlaufsform, die eine intensivmedizinische Behandlung mit Beatmung erforderlich macht, beträgt etwa 2-3 %. 2-5 % der Betroffenen erleiden einen Rückfall.

Grippeimpfung und GBS: Ein möglicher Zusammenhang

Obwohl das GBS in seltenen Fällen nach einer Grippeimpfung auftreten kann, ist es wichtig zu betonen, dass der Nutzen der Impfung in der Regel die Risiken überwiegt. Studien haben gezeigt, dass das Risiko, nach einer Grippeimpfung an GBS zu erkranken, sehr gering ist.

Epidemiologische Studien

In den Jahren 1976/77 wurde in den USA ein gehäuftes Auftreten von GBS nach Influenza-Vakzination beobachtet. Eine Studie aus den Jahren 1992/93 und 1993/94 in vier US-amerikanischen Staaten ergab, dass von 298 Patienten mit Guillain-Barré-Syndrom 19 innerhalb von sechs Wochen vor Ausbruch der Erkrankung eine Influenza-Vakzination erhalten hatten. Das relative Risiko, nach der Vakzination ein Guillain-Barré-Syndrom zu erleiden, war in der Impfsaison 1992/93 2,0 und im Jahr 1993/94 1,5.

Eine umfassende epidemiologische Studie sollte jetzt Aufschluß darüber geben, ob der Eindruck einer zunehmenden Gefährlichkeit der Grippeschutzimpfung real ist (Lasky, T., et al.: N. Engl. J. Med.

Bewertung des Risikos

Wie auch die Autoren eines Editonals im N. Engl. J. Med. (Ropper; A.H., und Victor, M.: N. Engl. J. Med 1998, 339, 1845) im einzelnen ausführen, ist die Grippeschutzimpfung zwar als ein Risikofaktor für das Guillain-Barré-Syndrom anzusehen. Eine Kontraindikation gegen die Vakzination ist aber aus diesem Grund nicht abzuleiten, denn der Nutzen durch die Impfung, d.h. durch verhinderte Grippeinfektionen, ist viel größer.

Fallbeispiele und Verdachtsfälle

Trotz der geringen Wahrscheinlichkeit gibt es immer wieder Berichte über Verdachtsfälle von GBS im zeitlichen Zusammenhang mit Grippeimpfungen. Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) wertet solche Meldungen sorgfältig aus, um mögliche Risikosignale frühzeitig zu erkennen. Es wird jedoch betont, dass es sich bei den Meldungen um Verdachtsfälle handelt, bei denen ein ursächlicher Zusammenhang mit der Impfung nicht zwangsläufig besteht.

Weitere mögliche Ursachen für Lähmungen nach Grippeimpfung

Neben dem GBS gibt es weitere mögliche Ursachen für Lähmungen, die im zeitlichen Zusammenhang mit einer Grippeimpfung auftreten können. Dazu gehören:

  • Neuritis: Entzündung eines oder mehrerer Nerven. In einigen Fällen wurden Neuritiden des Nervus ulnaris oder Plexusneuritiden nach Grippeimpfungen berichtet.
  • Apoplex: Schlaganfall mit möglicher Hemiparese (Halbseitenlähmung).
  • Transversale Myelitis: Entzündung des Rückenmarks, die zu Lähmungen führen kann.

Es ist wichtig zu beachten, dass diese Erkrankungen auch unabhängig von einer Impfung auftreten können und dass ein zeitlicher Zusammenhang nicht zwangsläufig einen ursächlichen Zusammenhang bedeutet.

Die Perspektive einer Neurologin

Die Neurologin Christine Janello betreute einmal ein Kind, das vier Wochen nach einer Grippeimpfung eine Entzündung des Rückenmarks entwickelt hat und seitdem querschnittsgelähmt ist. Dieser Fall wurde damals der Behörde als Impfschaden gemeldet, da solch eine Erkrankung auch als Komplikation einer Impfung auftreten kann. Meines Wissens wurde die Erkrankung jedoch nicht als Impfschaden anerkannt, da die Infektion erst vier Wochen nach der Impfung aufgetreten ist.

Janello denkt nicht, dass die Fälle unter den Tisch fallen. So ein Fall wird, sofern er gemeldet wird, auch genau geprüft. Jedoch ist es oft schwierig, den eindeutigen Zusammenhang zwischen Impfung und Erkrankung herzustellen. Zum Teil läuft es aber auch andersherum: Im Kindesalter wird sehr häufig geimpft.

Janello erklärt dann immer, dass wahrscheinlich nicht die Impfung an sich Grund der Erkrankung ist. Manche Epilepsieformen treten zum Beispiel oft dann auf, wenn ein Kind Fieber hat. Fieber an sich kann nach einer Impfung auftreten. Dadurch kann das Fieber der Auslöser eines Krampfanfalls sein, jedoch nicht der Impfstoff an sich. Die Anfälle können daher auch auftreten, wenn das Kind aus einem anderen Grund Fieber hat.

Janello selbst hat sich seit der Erfahrung nicht mehr gegen Grippe impfen lassen, weil ich das Risiko durch eine Infektion für mich noch für überschaubar gehalten habe. Aber ich merke auch, dass ich wieder offener werde, je weiter der Fall wegrückt. Heute würde ich mich wieder für die Influenza-Impfung entscheiden, auch weil ich einen kleinen Sohn habe, für den ich jetzt die Verantwortung trage und den ich schützen muss.

Janello kann verstehen, dass Eltern anfangs Angst vor Impfungen haben, so wie ich auch. Aber ich bin der Meinung, dass, wenn man sich dazu entscheidet, eine Impfung abzulehnen, man sich davor genau darüber informieren sollte, was alles passieren kann, wenn man sein Kind nicht impft, insbesondere welche Komplikationen bei den Erkrankungen drohen.

Janello findet, da muss man sich als Elternteil auch fragen, ob man diese Verantwortung übernehmen kann. Auch wenn man weiß, dass es Impfschäden gibt, sollte man sich immer wieder sagen, dass eine Komplikation der Impfung deutlich seltener ist als das, was ohne eine Impfung passieren kann.

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