Die Ständige Lancet-Kommission für "Demenzprävention, -intervention und -pflege" hat einen Bericht veröffentlicht, der darauf abzielt, Politik, Wissen, klinische Praxis und die Forschungsagenda zu beeinflussen. Der Bericht enthält Empfehlungen für alle Lebensstadien, um das Demenzrisiko zu reduzieren.
Empfehlungen der Lancet-Kommission
Die Kommission empfiehlt eine Reihe von Maßnahmen, darunter:
- Bessere Schulbildung
- Nutzung von Hörgeräten und Screening auf Sehverlust
- Verbesserte Herz-Kreislauf-Prophylaxe (Reduzierung des Rauchens und der Low-Density-Lipoproteine im Blut)
- Verringerung der Luftverschmutzung
- Wirksame Behandlung von Depressionen
- Schaffung altersgerechter und unterstützender sozialer Umgebungen und Wohnformen
Die Kommission weist darauf hin, dass die Eliminierung von vierzehn Risikofaktoren theoretisch fast die Hälfte der Demenzerkrankungen verhindern könnte, was Hoffnung macht. Diese Formulierung ist vorsichtiger als in früheren Berichten, da die Reichweite der epidemiologischen Forschungsmethoden zur Identifizierung der Demenzursachen begrenzt ist. Insbesondere bedeuten die beschriebenen Korrelationen zwischen Risikofaktoren und Demenz keine Kausalität.
Kritik an der Berichterstattung in den Medien
Die Berichterstattung in der Presse reduziert sich oft auf die Schlagzeile "die Hälfte aller Demenzerkrankungen ist vermeidbar", was zu Fake News und falschen Hoffnungen führt. Dies erweckt bei Patienten den Eindruck, Demenz sei zumindest teilweise eine "Lifestyle Choice", weil sie sich nicht ausreichend um ihre Gesundheit gekümmert haben.
Es besteht kein Zweifel daran, dass die von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen lobenswert sind, da sie allgemein Gesundheit und Wohlbefinden verbessern. Wer würde schon etwas gegen mehr Bildung, weniger Luftverschmutzung, die Behandlung von Depressionen oder die Verbesserung der körperlichen Gesundheit der Menschen einwenden?
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Methodische Einschränkungen
Aus praktischen und ethischen Gründen ist es meistens unmöglich, randomisierte Kontrollstudien durchzuführen, die die Kausalität der Risikofaktoren und die Effektivität solcher vorgeschlagenen Interventionen in der Demenzvorbeugung beweisen könnten. Neuere genetisch inspirierte Methoden, wie die Mendelian Randomization, haben die postulierten Risikofaktoren im Allgemeinen als nicht kausal betätigt. Nicht-kausale Erklärungen für die identifizierten Korrelationen bedeuten oft, dass eine Manipulation solcher Risikofaktoren nicht zu einer Prävention der Demenz führen wird.
Limitationen bei der Erforschung von Risikofaktoren
Die Diagnose der Demenz steht am Ende einer jahrzehntelangen Krankheitsentwicklung, die oft mit Verhaltensveränderungen, wie sozialem Rückzug, Depressionen und sensorischen Veränderungen (reduziertem Geruchsvermögen, Hör- und Sprachverständnisstörungen) einhergeht. Frühe Veränderungen des Zentralnervensystems vor einer Demenzdiagnose können zum Beispiel dazu führen, dass Sprachverständnisstörungen entstehen und dass die Nutzung von Hörgeräten als zu schwierig und frustrierend empfunden wird. Dies könnte der Grund dafür sein, dass Schwerhörigkeit anscheinend nur dann mit späterer Demenz verbunden ist, wenn Patienten kein Hörgerät benutzen. Es ist dann nicht die Abwesenheit von Hörgeräten, die zur Demenz führt, sondern eine frühe Einschränkung der Informationsverarbeitung bei Menschen, die später Demenz entwickeln, die verhindert, dass diese ihre Hörgeräte nutzen können und wollen.
Andererseits können frühe prodromale Symptome kausale Risikofaktoren überdecken. Wir wissen, dass über einen Zeitraum von zwanzig Jahren vor einer Demenzdiagnose zukünftige Patienten langsam an Gewicht verlieren. Anfangs (zwanzig Jahre vor der Diagnose) findet man die plausible Assoziation von Übergewicht mit späterer Demenz, später (ungefähr zehn Jahre vor der Diagnose) keine Korrelation, bis schließlich in den letzten Jahren vor der Diagnose Untergewicht mit höherem Demenzrisiko verbunden ist. Es ist nicht klar, ob der langsame Gewichtsverlust vor der Diagnose auf verringertem Appetit beruht (ohne Geruchssinn wird das Essen geschmacklos, depressive Verstimmung geht oft mit Appetits- und Gewichtsverlust einher), oder auf einem beschränkten Vermögen sich ausreichend gut zu ernähren, oder auf anderen Hirn- und Stoffwechselveränderungen. Gewisse "Risikofaktoren" sind möglicherweise nur frühe Symptome im Vorfeld der Demenz - eine scheinbar umgekehrte Kausalität. Ihre Vermeidung oder Entfernung wird deshalb wahrscheinlich meist nicht zur Verringerung der Demenzhäufigkeit führen.
Risikofaktoren sind möglicherweise mit den tatsächlichen Ursachen der Demenz korreliert, sind aber selbst nicht der Grund für die Krankheit. Schulbildung, als leicht erhebbares Maß, ist vielleicht nur ein Marker für andere Demenzursachen, die in Wirklichkeit auf anderen Faktoren beruhen: auf Entwicklungsstörungen (vor, während und nach der Geburt), sozialen Verhältnissen wie Armut, und Veranlagungen wie der "Kognitiven Reserve". Bei Gleichhaltung dieser tatsächlichen Ursachen wird deshalb eine Verlängerung der Schulzeit nicht notwendigerweise das Demenzrisiko verringern.
Schulbildung demonstriert ein weiteres Problem mit Risikofaktoren: Weil die Demenzdiagnose auf kognitiven Tests beruht, beschützt akademische Erfahrung vor einem pathologischen Testresultat und verringert das Risiko einer Demenzdiagnose ("Kognitive Reserve"). Obwohl deshalb möglicherweise eine Diagnose verzögert wird, wird die Geschwindigkeit der kognitiven Verschlechterung und der Veränderungen im Gehirn davon weitgehend nicht beeinflusst.
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Die Plausibilität der vorgeschlagenen Interventionen ist kein Beweis für ihre praktische Bedeutung. Ein Beispiel ist die Maxime "use it or lose it", die aus der Krankengymnastik stammt, die bei der Demenz aber völlig fehl am Platz ist. Patienten wollen gerne wissen, welche kognitiven Übungen die Verschlechterung ihrer Demenz aufhalten, oder sogar verhindern können. Es gibt aber keine verlässliche Evidenzbasis für solche Interventionen bei Demenz oder in ihrer Prävention. Dass Schulbesuch, Erhöhung des sensorischen (audio-visuellen) Inputs, Sport, eine soziale und freundliche Umgebung durch eine Bereicherung der Hirnaktivität einer Demenz vorbeugen können, ist unbewiesen. Die gefundenen Korrelationen können ebenso durch negative Effekte vordiagnostischer Demenz auf die erwähnten Aktivitäten oder die Anhäufung solcher Aktivitäten in sowieso privilegierten und deshalb gesünderen Teilen der Bevölkerung erklärt werden.
Prävention von Demenz: Hoffnung trotz Einschränkungen
Es wäre falsch aus dem Vorhergehenden zu schließen, dass Demenz nicht verhindert werden kann. Das stärkste Argument dafür ist die 13-prozentige Verringerung der Demenzinzidenz pro Jahrzehnt, die in der Forschungsliteratur dieses Jahrhunderts beschrieben wurde. Die wahrscheinlichste Erklärung für dieses Phänomens ist der allgemein bessere Gesundheitszustand der nachkommenden Altersjahrgänge, möglicherweise durch die Einwirkung größeren Wohlstands, besserer Geburtshilfe und Gesundheitspflege, inklusive der erwähnten gezielten Prävention von Herz-Kreislauferkrankungen und deren Risikofaktoren, zum Beispiel hohem Blutdruck und Rauchen. Die berechnete Zahl von 45 Prozent verhinder- oder verzögerbarer Demenzfälle ist deshalb ein Maximalwert, dessen tatsächliche Erzielung sehr unwahrscheinlich scheint. Die wahre Zahl wird eher um zehn Prozent pro Dekade liegen, aber nur, wenn die Rahmendaten für Wohlstand und die Qualität der allgemeinen Gesundheitspflege sich weiter verbessern.
Weitere wichtige Aspekte aus dem Lancet-Report
Zwei weitere Empfehlungen über die Behandlung von Demenz - insbesondere der Alzheimer-Krankheit - im Lancet-Bericht sind bemerkenswert und meiner Meinung nach voll vertretbar:
- Die Autoren rechtfertigen eine konservative Aufnahme der neueren Behandlungen mit monoklonalem Antikörper gegen Amyloid-Beta, mit ihrer begrenzten Evidenzbasis und Effektivität, ihren bedeutsamen Nebenwirkungen und unbekannten Langzeitwirkungen. Sie betonen die Kosten für Personal, bildgebende Untersuchungen und spezielle Blutuntersuchungen und die Notwendigkeit der Langzeitüberwachung auf Nebenwirkungen.
- Ähnlich: "Biomarker in der Zerebrospinalflüssigkeit oder im Blut sollten klinisch nur bei Menschen mit Demenz oder kognitiven Beeinträchtigungen eingesetzt werden, um eine Alzheimer-Diagnose zu bestätigen oder auszuschließen." Demenz selbst wird ausschließlich klinisch diagnostiziert, das heißt nach einer persönlichen Untersuchung mit kognitiven Tests und einer Beurteilung der Unabhängigkeit des Patienten im täglichen Leben.
Demenz: Mehr als nur eine Alterserscheinung
Demenz ist keine eigene Krankheit, sondern ein Syndrom. Sie tritt zwar bei Personen im hohen Alter besonders häufig auf, aber sie ist keine normale Alterserscheinung. Die Symptome einer Demenz können von ganz unterschiedlichen Krankheiten hervorgerufen werden. Man spricht dabei von "Demenzformen".
Formen und Arten von Demenz
Innerhalb der primären Demenzen lassen sich Formen und Arten von Demenz nach dem Auslöser unterscheiden:
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- Neurodegenerative Demenz: Ausgelöst durch das Absterben von Nervenzellen im Gehirn. Alzheimer betrifft mehr als 60 Prozent aller Demenzerkrankten und ist damit mit Abstand die häufigste Form von Demenz.
- Vaskuläre Demenz: Hier gehen nicht die Nervenzellen selbst zurück, sondern das Hirngewebe wurde durch Durchblutungsstörungen nachhaltig geschädigt.
- Sekundäre Demenzen: Werden indirekt durch äußere Einflussfaktoren wie Medikamente, Alkoholmissbrauch (Korsakow-Demenz) oder schädliche Umwelteinflüsse ausgelöst.
In der Praxis haben die meisten Demenz-Patienten Mischformen von Demenz, oft zum Beispiel eine neurodegenerative Form und gleichzeitig eine vaskuläre Demenz.
Ursachen und Risikofaktoren
Obwohl eine Demenz auch in jungen Jahren auftreten kann, ist Demenz vor allem eine Alterserkrankung. Ab einem Alter von 65 Jahren steigt das Demenz-Risiko mit jedem weiteren Jahr deutlich an. Auffällig ist auch, dass Frauen häufiger betroffen sind als Männer. Studien zeigen, dass bis zu 45 Prozent aller Erkrankungen durch die gezielte Beeinflussung von 14 Risikofaktoren verhindert oder zumindest hinausgezögert werden könnten.
Diagnose und Behandlung
Eine frühe Diagnose von Demenz erleichtert den Umgang mit der Krankheit und bietet größere Chancen, das Fortschreiten der Krankheit aufzuhalten oder zu verlangsamen. Die Medizin kann die einzelnen Formen von Demenz genau beschreiben, diagnostizieren und bis zu einem gewissen Grad auch behandeln. Alzheimer-Demenz, Frontotemporale Demenz, Lewy-Körper-Demenz, Parkinson-Demenz und Vaskuläre Demenz sind bis heute leider nicht heilbar. Dennoch ist die Behandlung von Demenz wichtig, weil sie die Lebensqualität der Betroffenen im weiteren Verlauf erheblich steigert.
Umgang mit Demenz
Die Pflege und Betreuung von Menschen mit Demenz ist eine echte Herausforderung. Wichtig ist ein würdevoller und wertschätzender Umgang, auch in schwierigen Situationen. Demenzgerechte Raumgestaltung und Beschäftigung können den Alltag erleichtern.
Luftverschmutzung als Risikofaktor
Eine umfassende Meta-Analyse in der Fachzeitschrift Lancet Planetary Health hat gezeigt, dass Feinstaubbelastung das Risiko, an Demenz zu erkranken, erhöht. Die Autoren benennen konkret drei Substanzen, die das Demenzrisiko befördern: Feinstaubpartikel (PM2,5), Stickstoffdioxid und Ruß.
Die verunreinigte Luft kann Entzündungsprozesse sowie "oxidativen Stress" auslösen; beides trägt dazu bei, dass Zellen, Proteine und DNA geschädigt werden. Die Verschmutzungspartikel aus der Luft können zum Teil direkt ins Gehirn eindringen oder sogenannte stille Entzündungen im Körper verursachen, welche sich wiederum negativ auf die Hirnfunktion auswirken.
Lancet-Kommission 2020: Erweiterte Liste der Risikofaktoren
Die Lancet Commission Livingston et al. (2020) geht davon aus, dass rund 40% der weltweiten Demenzerkrankungen durch die Vermeidung folgender Risikofaktoren vorgebeugt werden kann:
- Geringe Bildung
- Bluthochdruck
- Hörbeeinträchtigungen
- Rauchen
- Übergewicht
- Depression
- Körperliche Inaktivität
- Diabetes
- Geringe soziale Kontakte/Teilhabe
- Exzessiver Alkoholkonsum
- Kopfverletzungen
- Luftverschmutzung
- Hohe Cholesterinwerte (LDL)
- Sehverlust
Die Autoren betonen eindringlich, dass es im Verlauf des Lebens niemals zu früh und niemals zu spät für eine Demenzprävention ist. Eine kontinuierliche Aufrechterhaltung eines aktiven und gesunden Lebensstils bis ins hohe Alter reduziert diverse oben genannte Risikofaktoren und damit auch das Risiko an einer Form der Demenz zu erkranken.
Medikamentöse Prävention
Studien belegen, dass moderne Antidementiva aus der Wirkgruppe der Acetylcholinesterase-Hemmer und Glutamat-Antagonisten nicht nur bei der Demenz vom Alzheimer-Typ (DAT), sondern auch bei der vaskulären Demenz (VD) die Krankheitsprogression verlangsamen. Bei Langzeiteinsatz von nichtsteroidalen Antiphlogistika (NSAP), Cholesterinsenkern oder Antihypertensiva fand man Hinweise auf ein vermindertes DAT-Risiko. Protektiv wirksam sind auch die Einnahme der Vitamine E und C, leichter bis mäßiger Alkohol- oder Kaffeekonsum, regelmäßige körperliche und geistige Aktivität sowie ausreichende soziale Kontakte.
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