mRNA-Therapie gegen Multiple Sklerose: Ein Hoffnungsschimmer am Horizont?

Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, von der in Deutschland schätzungsweise 220.000 bis 250.000 Menschen betroffen sind. Die Krankheit äußert sich durch vielfältige Symptome wie motorische Störungen, Gefühlsstörungen der Haut, Blasenfunktionsstörungen, Lähmungserscheinungen, Erschöpfung und Schwindel. Bisher ist MS nicht heilbar, aber die medizinische Forschung arbeitet intensiv daran, wirksame Therapien zu entwickeln. Im Fokus stehen dabei innovative Ansätze wie die mRNA-Technologie, die bereits bei der Entwicklung von COVID-19-Impfstoffen eine entscheidende Rolle gespielt hat.

Die Rolle von mRNA in der Therapie von Autoimmunerkrankungen

Autoimmunerkrankungen wie MS entstehen, wenn das Immunsystem körpereigenes Gewebe angreift. Bei MS richtet sich die Immunreaktion gegen die Myelinscheiden, die Nervenfasern im Gehirn und Rückenmark umhüllen. Dies führt zu Entzündungen und Schädigungen, die die Nervenleitfähigkeit beeinträchtigen und die genannten Symptome verursachen.

Die mRNA-Technologie bietet einen vielversprechenden Ansatz, um das Immunsystem bei Autoimmunerkrankungen gezielt zu beeinflussen. Im Gegensatz zu herkömmlichen Impfstoffen, die das Immunsystem aktivieren, um Krankheitserreger zu bekämpfen, zielt die mRNA-Therapie bei MS darauf ab, das Immunsystem zu tolerieren und die Autoimmunreaktion zu unterdrücken.

Wie funktioniert die mRNA-basierte Toleranzinduktion?

Die mRNA-basierte Toleranzinduktion beruht auf der Verabreichung von Boten-RNA (mRNA), die den genetischen Bauplan für ein spezifisches Autoantigen enthält - also ein Protein, das vom Immunsystem fälschlicherweise als Bedrohung erkannt wird. Die mRNA wird in den Körper eingebracht und von Zellen aufgenommen, die dann das entsprechende Autoantigen produzieren.

Dieser Prozess ahmt auf kontrollierte Weise die natürliche Toleranzentwicklung des Immunsystems nach. Unter normalen Umständen lernt das Immunsystem, körpereigene Strukturen zu tolerieren, indem es ihnen in einer nicht-entzündlichen Umgebung begegnet. Die mRNA-Therapie versucht, diesen Mechanismus zu nutzen, um das Immunsystem gegenüber den bei MS relevanten Autoantigenen zu desensibilisieren.

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BioNTechs Ansatz: Ein entzündungshemmender mRNA-Impfstoff

Das Unternehmen BioNTech, das bereits maßgeblich an der Entwicklung eines COVID-19-Impfstoffs beteiligt war, verfolgt einen innovativen Ansatz zur Behandlung von Autoimmunerkrankungen mithilfe der mRNA-Technologie. In einer präklinischen Studie wurde ein entzündungshemmender Nanopartikel-mRNA-Impfstoffkandidat entwickelt, der für ein MS-assoziiertes Antigen kodiert.

Der Impfstoff wurde Mäusen mit experimenteller Autoimmun-Enzephalomyelitis (EAE) verabreicht, einem Tiermodell, das Aspekte der MS beim Menschen widerspiegelt. Die Ergebnisse der Studie waren vielversprechend:

  • Der Impfstoff konnte in allen untersuchten EAE-Mausmodellen eine symptomatische Krankheit verhindern oder das Fortschreiten der Krankheit aufhalten.
  • Bei Mäusen mit bestehender Krankheit im Frühstadium konnte der Impfstoff die motorischen Funktionen wiederherstellen.
  • Die Infiltration von entzündungsfördernden Immunzellen in Gehirn und Rückenmark wurde deutlich reduziert, ebenso wie die Demyelinisierung des Rückenmarks.
  • Die Effekte wurden durch die Induktion von regulatorischen T-Zellen (Treg) erzielt, die sich spezifisch gegen das Impfstoff-kodierte Antigen richten.
  • Die Treg-Zellen induzierten einen immunsuppressiven "Bystander"-Effekt, der auch Immunreaktionen gegen andere Autoantigene unterdrücken konnte.

Ein wichtiger Vorteil des Impfstoffkandidaten von BioNTech ist, dass er keine Immunreaktionen gegen andere, nicht-Myelin-Antigene unterdrückt. Dies ist entscheidend, um eine allgemeine Schwächung des Immunsystems zu vermeiden. Zudem führte der Impfstoff auch nach wiederholter Verabreichung nicht zur Entstehung von Autoantikörpern gegen das Zielantigen.

Einschränkungen und Herausforderungen

Trotz der vielversprechenden Ergebnisse gibt es noch einige Herausforderungen und Einschränkungen bei der Entwicklung von mRNA-basierten Therapien gegen MS:

  • Unbekannte Zielantigene: Im Gegensatz zu Tiermodellen sind die spezifischen Autoantigene, die beim Menschen MS auslösen, nicht vollständig bekannt. Dies erschwert die Entwicklung von zielgerichteten Therapien.
  • Komplexität der Immunregulation: MS gilt als komplexe Störung immunregulatorischer Netzwerke. Bisher ist kein antigen-spezifischer Therapieansatz in der MS erfolgreich gewesen.
  • Übersetzbarkeit von Tiermodellen: Was in Tiermodellen funktioniert, lässt sich nicht immer einfach auf den Menschen übertragen. In der Vergangenheit haben antigenspezifische Therapieansätze beim Menschen sogar teilweise zu einer Verstärkung der Entzündung im Gehirn geführt.

MoveS-it-Studie und weitere Forschung

Die MoveS-it-Studie, die voraussichtlich in der zweiten Hälfte des Jahres 2024 abgeschlossen und veröffentlicht wird, untersucht einen weiteren Impfstoffansatz gegen MS. Dieser Ansatz kann leicht auf individuelle krankheitsassoziierte Antigene von Patienten zugeschnitten werden und bewirkt eine sogenannte antigenspezifische Immuntoleranz.

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Inverse Impfung: Ein weiterer vielversprechender Ansatz

Neben der mRNA-Technologie wird auch an einer sogenannten inversen Impfung gegen MS geforscht. Das Ziel dieser Methode ist es, das Immunsystem "umzuerziehen" und toleranter gegenüber körpereigenem Gewebe zu machen.

Wie funktioniert die inverse Impfung?

Bei der inversen Impfung werden die körpereigenen Antigene, die MS auslösen, als unschädlich gekennzeichnet. Sie erhalten ein Etikett, das dem Immunsystem signalisiert, dass sie keine Bedrohung darstellen.

US-amerikanische Forscher haben in Tiermodellen erfolgreich gezeigt, dass sie dem körpereigenen, schädlichen Antigen einen Zucker anheften können, der vom Immunsystem immer toleriert wird: N-Acetyl-Galactosamin (pGal).

ANK-700: Ein inverser Impfstoff in der klinischen Prüfung

Der Schweizer Biotech-Entwickler Anokion SA hat einen inversen Impfstoff namens ANK-700 entwickelt, der in Tiermodellen vielversprechende Ergebnisse gezeigt hat. Sowohl bei Nagern als auch bei Primaten funktionierte die Methode, selbst wenn die Tiere erst nach Beginn der Erkrankung geimpft wurden.

Derzeit läuft eine Phase-1-Studie mit MS-Patienten, um die Sicherheit und Verträglichkeit von ANK-700 zu prüfen. Vorläufige Daten deuten darauf hin, dass der Impfstoff sicher und gut verträglich ist und eine antigenspezifische Immuntoleranz induziert.

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Offene Fragen und zukünftige Forschung

Auch bei der inversen Impfung gibt es noch viele offene Fragen:

  • Ist die Methode vom Tier auf den Menschen übertragbar?
  • Wie stark ist die Wirkung beim Menschen?
  • Welche Nebenwirkungen hat die Impfung?
  • Wie lange hält die Wirkung an?
  • Welche Wechselwirkungen gibt es mit anderen MS-Medikamenten?

Es bleibt abzuwarten, ob sich die positiven Ergebnisse aus den Tierstudien auf den Menschen übertragen lassen. Dennoch ist die inverse Impfung ein vielversprechender Ansatz, der möglicherweise eine bessere Therapie für MS darstellen könnte als die derzeit verfügbaren.

Retigabin: Ein Medikament gegen Epilepsie als Hoffnungsträger bei MS?

Ein weiteres Forschungsteam um Prof. Dr. Dr. Sven Meuth von der Uniklinik Düsseldorf verfolgt einen anderen Ansatz zur Behandlung von MS. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass eine Übererregbarkeit von Nervenzellen eine Hauptursache für MS-bedingte Ausfallerscheinungen sein kann.

Wie schützt Retigabin die Nervenzellen?

Die Forscher haben festgestellt, dass das ursprünglich gegen Epilepsie entwickelte Medikament Retigabin das Potenzial hat, die Nervenzellen zu schützen. Retigabin reduziert die Übererregbarkeit von Nervenzellen, indem es Kaliumionen aus den Zellen ausleitet. Kalium spielt eine wichtige Rolle bei der Regulierung des Erregungszustands der Zellen. Bei hoher Erregung sammelt sich Kalium in der Zelle an, was zu Funktionsverlust führen kann.

Dieser Mechanismus ist besonders relevant in den Schubphasen der MS, wenn bereits bekannte oder neue Symptome auftreten. Retigabin könnte dazu beitragen, die Phase bis zum Zelltod zu verlängern und die Nervenzellen vor Schäden zu bewahren.

Optimierung von Retigabin für die MS-Therapie

Ein Vorteil von Retigabin ist, dass es bereits als Medikament zugelassen ist. Allerdings konnte es sich in der Epilepsie-Behandlung nicht durchsetzen, da es mit einer Leberwerterhöhung einherging. Für den Einsatz bei MS soll die Substanz nun optimiert werden, um die Verträglichkeit zu verbessern.

Bis zum Ende der vorklinischen Entwicklung ist es laut Prof. Meuth nicht mehr weit. Anschließend muss die kostenintensive klinische Entwicklung folgen, einschließlich Studien an gesunden Probanden und MS-Patienten.

Ernährung und Mikrobiom: Weitere Forschungsansätze bei MS

Neben medikamentösen Therapien rückt auch der Ernährungsbereich zunehmend in den Fokus der MS-Forschung. Es gibt Hinweise darauf, dass das Mikrobiom im Darm Auswirkungen auf die Entstehung und den Verlauf der Erkrankung hat.

Weitere Forschung ist notwendig, um die genauen Zusammenhänge zwischen Ernährung, Mikrobiom und MS aufzuklären und gezielte Ernährungsempfehlungen für MS-Patienten zu entwickeln.

Live-Stream zum Welt-MS-Tag

Um die Öffentlichkeit über die neuesten Entwicklungen in der MS-Forschung zu informieren, bietet die Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Düsseldorf gemeinsam mit der Selbsthilfeorganisation aMStart einen Live-Stream zum Welt-MS-Tag am 30. Mai an. Interessierte können sich auf YouTube über Multiple Sklerose informieren und Fragen stellen.

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