Multiple Sklerose: Cannabishaltige Medikamente auf Rezept – Informationen für Patienten

Seit der Gesetzesänderung im Jahr 2017 ist medizinisches Cannabis in Deutschland für Patienten mit bestimmten Erkrankungen leichter zugänglich. Insbesondere Menschen mit Multipler Sklerose (MS) können von cannabishaltigen Medikamenten profitieren, um Symptome wie Spastik zu lindern. Dieser Artikel bietet einen umfassenden Überblick über die Verordnung, Anwendung und Kostenübernahme von medizinischem Cannabis bei MS.

Rechtliche Grundlagen und Zugang zu medizinischem Cannabis

Der Gesetzgeber hat 2017 entschieden, dass medizinisches Cannabis für einige Patienten gesundheitliche Vorteile haben könnte. Seitdem können sich Patienten Cannabis auf Rezept oder Privatrezept verschreiben lassen und einen Antrag auf Kostenübernahme durch die Krankenkasse stellen. Die rechtliche Grundlage hierfür bildet § 31 Abs. 6 SGB V ("Cannabisgesetz").

Voraussetzungen für eine Verordnung

Grundsätzlich entscheidet der Arzt, ob ein Therapieversuch mit medizinischem Cannabis sinnvoll ist. Folgende Voraussetzungen müssen erfüllt sein:

  • Schwerwiegende Erkrankung: Es muss eine schwerwiegende Erkrankung vorliegen, die erhebliche Beeinträchtigungen der Lebensqualität oder Gesundheit verursacht.
  • Fehlende Therapiealternativen: Andere medizinische Behandlungen müssen ausgeschöpft sein oder aufgrund von Nebenwirkungen nicht in Frage kommen.
  • Aussicht auf Besserung: Arzt und Patient müssen sich eine realistische Chance auf eine spürbare Verbesserung des Krankheitsverlaufs oder der Symptome versprechen.

Da das Gesetz keine konkreten Anwendungsfälle (Indikationen) für die Verwendung von medizinischem Cannabis nennt, bietet die Formulierung eine Menge Auslegungsspielraum.

Cannabis bei Multipler Sklerose

Cannabis kann bei MS vor allem zur Linderung von Spastik eingesetzt werden. Mit Sativex® ist seit Mai 2011 ein Cannabinoid-basiertes Arzneimittel speziell für MS zugelassen, welches zur symptomatischen Therapie der Spastik verwendet werden soll. Hierbei handelt es sich um einen Cannabisextrakt als Mundspray, welches eine Kombination aus THC und Cannabidiol (CBD) enthält. Es gibt aber auch Hinweise, dass Cannabis bei Nervenschmerzen (Neuropathie) wirksam sein kann.

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Formen von medizinischem Cannabis

Medizinisches Cannabis ist in verschiedenen Formen erhältlich:

  • Cannabisblüten: Die Blüten sind in verschiedenen Sorten mit unterschiedlichen THC- und CBD-Gehalten verfügbar. Sie können verdampft und inhaliert (z.B. mit einem Vaporizer) oder zu Extrakten weiterverarbeitet werden.
  • Cannabisextrakte: Extrakte werden aus den Blüten gewonnen und können als Öle oder in anderen Darreichungsformen eingenommen werden. Sie ermöglichen eine kontrollierbare Dosierung.
  • Fertigarzneimittel: Es gibt verschiedene Fertigarzneimittel mit den Wirkstoffen Dronabinol (THC), Nabilon (ein synthetisches Cannabinoid) und Nabiximols (eine Mischung aus THC und CBD). Diese sind als Kapseln, Tropfen oder Mundspray erhältlich.

Cannabinoide: THC und CBD

Cannabis enthält mehr als 100 Wirkstoffe, von denen THC (Tetrahydrocannabinol) und CBD (Cannabidiol) die bekanntesten sind. THC wirkt psychoaktiv und kann euphorisierend wirken, während CBD nicht psychoaktiv ist und entzündungshemmende und angstlösende Eigenschaften haben kann. Beide Stoffe können schmerzlindernd wirken.

Im Unterschied zu Cannabis Präparaten enthalten CBD Präparate kaum oder gar kein THC.

Antrag auf Kostenübernahme bei der Krankenkasse

Wenn Ihnen medizinisches Cannabis verschrieben wurde, können Sie einen Antrag auf Kostenübernahme bei Ihrer Krankenkasse stellen. Die Krankenkasse prüft jeden Antrag individuell und leitet ihn gegebenenfalls an den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) zur Begutachtung weiter.

Antragstellung und Genehmigungsvorbehalt

Grundsätzlich müssen Krankenkassen die erstmalige Verordnung von Cannabis prüfen. Patient:innen müssen also einen Antrag auf Kostenübernahme bei ihrer Krankenkasse stellen, der vor Beginn der Therapie genehmigt werden muss. Die Krankenkasse kann die Genehmigung in Ausnahmefällen ablehnen, muss dies aber schriftlich begründen. Laut Genehmigungsvorbehalt dürfen Krankenkassen den Antrag ablehnen.

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Chancen auf Kostenübernahme

Die Chancen auf eine Kostenübernahme sind höher, wenn der Antrag vollständig ist und die medizinische Notwendigkeit der Therapie glaubhaft dargelegt wird. Es ist wichtig, dass Arzt und Patient gemeinsam argumentieren, dass die gesetzlichen Voraussetzungen erfüllt sind und eine realistische Chance auf eine Verbesserung des Krankheitsverlaufs besteht.

Ablehnung des Antrags

Knapp ein Drittel der Anträge auf Kostenübernahme werden abgelehnt, obwohl eine ärztliche Verschreibung vorliegt. Gründe für eine Ablehnung können fehlende medizinische Voraussetzungen oder fehlerhafte Anträge sein. Es ist daher ratsam, sich bei der Antragstellung von einem Arzt oder einer Beratungsstelle unterstützen zu lassen.

Einen Genehmigungsvorbehalt gibt es bei privaten Krankenkassen übrigens nicht. Hier könnten die Chancen für eine Kostenübernahme von medizinischem Cannabis also höher sein. Entscheidend ist jedoch der Vertrag, der zwischen dem oder der Versicherten und der privaten Krankenkasse geschlossen wurde.

Arztfragebogen

Vorlagen für den Arztfragebogen finden Sie auf der Seite des Medizinischen Dienstes des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen.

Selektivverträge als zukunftsweisendes Modell?

Das derzeitige Modell mit Genehmigungsvorbehalt führt neben Unklarheiten auch zu bürokratischem Aufwand und langen Wartezeiten für Patient:innen. Auf Initiative der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin e.V. Diese erarbeitet derzeit mit der AOK Rheinland/Hamburg einen sogenannten Selektivvertrag, der ohne Genehmigungsvorbehalt auskommen soll. Ärzt:innen, die daran teilnehmen wollen, müssten dann, bevor sie Cannabis verschreiben, eine spezielle Weiterbildung absolvieren, in der sie zu Themen wie suchtmedizinischen Aspekten oder Nebenwirkungen geschult werden. In Zukunft plant die DGS ähnliche Verträge mit anderen Landesverbänden der AOK sowie weiteren Krankenkassen. Während über die Kostenübernahme zur Zeit noch aus der Ferne entschieden wird, könnte damit stattdessen das unmittelbare Urteil der Ärzt:innen den Ausschlag geben.

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Risiken und Nebenwirkungen

Obwohl Cannabis vielen Patientinnen und Patienten hilft, ist es nicht frei von Risiken. Mögliche Nebenwirkungen sind:

  • Psychische Beeinträchtigungen: Müdigkeit, Konzentrationsschwäche, Stimmungsschwankungen, Schwindel, Angstzustände, Halluzinationen
  • Herz-Kreislauf-Probleme: Herzrasen, plötzlicher Blutdruckabfall, Herzbeschwerden
  • Abhängigkeitspotenzial: Nach langfristigem oder unsachgemäßem Gebrauch können Entzugserscheinungen auftreten.

Es ist wichtig, dass Patienten sich vor Beginn der Therapie über die Risiken und Nebenwirkungen informieren und diese mit ihrem Arzt besprechen.

Cannabis und Fahrtüchtigkeit

Für den Großteil der Patienten, die medizinisches Cannabis einnehmen, kommt Autofahren, z.B. wegen eines sehr schlechten körperlichen Allgemeinzustands, von vornherein nicht in Frage. Nach Angaben des Deutschen Bundestags ist das Autofahren jedoch grundsätzlich möglich, denn bei bestimmungsgemäßer Einnahme fahren die Patienten nicht im Rauschzustand. Im Gegenteil: Erst der Einsatz des medizinischen Cannabis befähigt sie zur Teilnahme am Straßenverkehr.

Aktuelle Entwicklungen und Teillegalisierung

Anfang April 2024 wurde Genuss-Cannabis teil-legalisiert. Unabhängig davon finden Cannabis und cannabishaltige Produkte seit vielen Jahren Einsatz in der Medizin. Dabei handelt es sich um sogenanntes Medizinalcannabis bzw. Cannabis zu medizinischen Zwecken. Seit 1. April 2024 können Ärzte medizinisches Cannabis per elektronischem Rezept - wie andere Arzneimittel auch - verordnen. Mit der Teil-Legalisierung von Cannabis unterliegt die Verordnung von Cannabisarzneimitteln nicht länger dem Betäubungsmittelgesetz.

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