Multiple Sklerose (MS) ist eine chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems, die sowohl das Gehirn als auch das Rückenmark betrifft. Charakteristisch für MS sind multiple Entzündungsherde, die an verschiedenen Stellen im Gehirn und Rückenmark auftreten. Diese Entzündungen führen zu Funktionsstörungen der betroffenen Nerven, wodurch Nervenimpulse nicht mehr oder nur noch verlangsamt weitergeleitet werden können. Die Folge sind vielfältige neurologische Symptome wie Sehstörungen oder Taubheitsgefühle.
Entzündungsprozesse und ihre Folgen
Bei MS kommt es zu überschießenden Reaktionen des Immunsystems, die Entzündungen verursachen und die Nerven sowie deren Ummantelung schädigen. Diese Ummantelung, auch Myelin genannt, ist entscheidend für die schnelle Weiterleitung von Informationen. Durch die Entzündungen entstehen an den Nervenfasern Schäden, die als Plaques bezeichnet werden.
Remyelinisierung und axonale Schäden
Der Körper verfügt über Reparaturmechanismen, die eine Regeneration des Myelins (Remyelinisierung) ermöglichen. Dadurch kann sich die Signalweiterleitung verbessern, und nach einem MS-Schub bilden sich die körperlichen Beschwerden teilweise oder vollständig zurück. Bei ausgedehnten Entzündungen kann es jedoch zur Bildung von Narbengewebe und zu dauerhaften Schäden an den Nervenfasern (Axonen) kommen, was als „axonaler Schaden“ bezeichnet wird.
Neuronale Plastizität und kognitive Reserve
Das Gehirn besitzt die Fähigkeit, auf Veränderungen in seiner Umgebung zu reagieren und sich anzupassen. Diese Eigenschaft wird als neuronale Plastizität bezeichnet. Bei MS werden durch das Entzündungsgeschehen Nervenzellen im Zentralnervensystem (ZNS) beschädigt, was die Weiterleitung von Nervenimpulsen stört. Das Gehirn sucht jedoch immer wieder neue Wege, um Informationen ans Ziel zu befördern.
Kognitive Reserve als Schutzmechanismus
Der Abbau von Hirnvolumen ist ein normaler Alterungsprozess. Die sogenannte kognitive Reserve oder Plastizitätsreserve schützt das Gehirn vor dem Sichtbarwerden neurologischer Schäden und gleicht gestörte kognitive Fähigkeiten aus. Wissenschaftler gehen davon aus, dass das Gehirn eine Plastizitätsreserve hat, die je nach Bedarf eingesetzt wird. Die Größe dieser Reserve hängt von genetischen Faktoren, Krankheitssymptomen und dem eigenen Verhalten ab.
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Muss das Gehirn durch den Krankheitsprozess bei Multipler Sklerose viel von der Plastizitätsreserve einsetzen, wird diese verbraucht. Übersteigt der Bedarf die vorhandene Reserve, treten Symptome auf. Kognitiv stimulierende Aktivitäten können die Reserve im Laufe der Zeit aufbauen und aufrechterhalten.
Symptome der Multiplen Sklerose
Die Symptome der Multiplen Sklerose können sehr unterschiedlich sein, da die Erkrankung das gesamte Gehirn und Rückenmark betreffen kann. Zu den häufigsten Symptomen gehören:
- Gefühlsstörungen: Missempfindungen auf der Haut, wie Ameisenkribbeln oder Taubheitsgefühle.
- Lähmungen: Muskelschwäche und verlangsamte Bewegungsabläufe.
- Sehstörungen: Entzündung des Sehnervs (Optikusneuritis), die sich durch Schmerzen beim Bewegen der Augen und eine Sehverschlechterung bemerkbar macht.
- Gleichgewichtsstörungen: Unkontrollierte Augenbewegungen (Nystagmus).
- Müdigkeit (Fatigue): Körperliche oder psychische Erschöpfung, extreme Abgeschlagenheit und anhaltende Müdigkeit.
- Spastik: Erhöhte Muskelspannung, die mit Verkrampfungen und Steifigkeit der Muskeln einhergeht.
Ursachen und Risikofaktoren
Die Multiple Sklerose kann nicht auf eine bestimmte Ursache zurückgeführt werden. Vielmehr ist eine ganze Reihe von Faktoren an der Entstehung beteiligt. Genetische Faktoren spielen eine Rolle, aber auch Umweltfaktoren haben einen entscheidenden Einfluss. Zu den Umweltfaktoren, die eine Entstehung von Multipler Sklerose begünstigen können, gehören:
- Vitamin-D-Mangel: Ausreichend Bewegung an der frischen Luft ist wichtig und trägt zu einem gesunden Vitamin-D-Spiegel im Blut bei.
- Rauchen: Rauchen kann das Risiko für Multiple Sklerose erhöhen.
Diagnose und Verlauf
Die Diagnose der Multiplen Sklerose ist nicht einfach, da es nicht den einen „MS-Test“ gibt. Entscheidend ist der Nachweis unterschiedlich alter Entzündungsherde an mehreren Stellen im Gehirn oder Rückenmark. Dafür wird eine Magnetresonanz-Tomographie (MRT) des Kopfes durchgeführt. Weitere wichtige Untersuchungen sind die Untersuchung des Nervenwassers mittels einer Lumbalpunktion sowie Messungen von Sehnerven (VEP) und Nervenbahnen (SEP).
Der Verlauf der MS ist individuell und schwer vorherzusagen. Es gibt verschiedene Verlaufsformen:
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- Schubförmige MS: In den meisten Fällen (ca. 85 %) tritt die MS in Schüben auf. Ein Schub ist gekennzeichnet durch episodisches Auftreten und vollständige oder teilweise Rückbildung neurologischer Symptome innerhalb von Tagen bis Wochen.
- Sekundär progrediente MS: Bei etwa 15 % der Betroffenen geht die schubförmige MS später in eine sekundär progrediente Multiple Sklerose über. Die Symptome zwischen den Schüben bilden sich nicht mehr zurück oder verstärken sich über die Zeit.
- Primär progrediente MS: Bei etwa 15 % der Betroffenen gibt es von Beginn an keine Schübe, sondern eine langsame Zunahme der Beschwerden.
Behandlungsmöglichkeiten
Die Multiple Sklerose ist nicht heilbar, aber es gibt verschiedene Behandlungsmöglichkeiten, um den Verlauf der Erkrankung zu beeinflussen und die Symptome zu lindern:
- Schubtherapie: Zur Behandlung eines akuten Schubes wird meist Cortison als Infusion oder Tablette eingesetzt.
- Immuntherapie: Die Immuntherapie beeinflusst das fehlgesteuerte Immunsystem, indem sie es verändert (immunmodulierend) oder dämpft (immunsuppressiv). Es gibt mittlerweile gut 20 Immuntherapie-Mittel, die individuell auf den Patienten abgestimmt werden können.
- Symptomatische Therapie: Hier steht die Linderung von Symptomen im Zentrum der Behandlung. Dazu gehören physiotherapeutische, logopädische und ergotherapeutische Therapien.
Bedeutung eines gesunden Lebensstils
Ein gesunder Lebensstil kann die Multiple Sklerose günstig beeinflussen:
- Regelmäßige körperliche Aktivität: Sport und Bewegung sind ein wirksames Gegenmittel gegen Müdigkeit und Muskelschwäche.
- Gesunde Ernährung: Selbst zubereitete Mischkost mit viel Obst und Gemüse, Fisch und Vollkornprodukten, aber wenig Zucker und Salz, tierischen Fetten und Zusatzstoffen hat positive Effekte.
- Nichtrauchen: Rauchen ist ein Risikofaktor und sollte vermieden werden.
Forschungsergebnisse zur grauen Hirnsubstanz
Lange Zeit wurde MS als Erkrankung der weißen Hirnsubstanz angesehen. Neuere Forschungsergebnisse zeigen jedoch, dass auch die graue Hirnsubstanz betroffen ist. Wissenschaftler der Universitätsmedizin Göttingen haben herausgefunden, dass Immunzellen die graue Hirnsubstanz angreifen und zerstören können. Diese Entdeckung ist für das Verständnis der MS und anderer neurologischer Erkrankungen von Bedeutung.
Beta-Synuclein-erkennende T-Zellen
Die Forscher fanden heraus, dass Immunzellen, die gegen das in Nervenzellen vorkommende Eiweiß beta-Synuklein gerichtet sind, gezielt in das Steuerzentrum des Gehirns eindringen und vor Ort eine Entzündungsreaktion auslösen. Dadurch werden die hochspezialisierten und zarten Nervengeflechte geschädigt, was zu einem Schrumpfen des Gehirns und nicht reparierbaren neurologischen Ausfällen führt.
Ultrastrukturelle Veränderungen in der weißen Substanz
Ein deutsch-niederländisches Forschungsteam hat herausgefunden, dass ultrastrukturelle Veränderungen in gesunden Bereichen der weißen Substanz von MS-Patienten das Gewebe anfälliger machen für Entzündungen und die Bildung von Läsionen. In der normal aussehenden weißen Substanz von MS-Erkrankten sind die Myelinscheiden auffällig verändert und das Myelin weniger kompakt. Auch sind die Ranvierschen Schnürringe desorganisiert.
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Brain Health und MS
Brain Health - die Gesunderhaltung des Gehirns - spielt eine wichtige Rolle bei MS. Ein gesundes Gehirn ist wichtig für die Wahrnehmung, das Gedächtnis, die Konzentration, das Lernen und die allgemeine kognitive Leistungsfähigkeit. Forscher haben festgestellt, dass sich bei Betroffenen von Multipler Sklerose das Hirnvolumen verändert, was zu kognitiven und motorischen Einschränkungen führen kann.
Hirnatrophie
Hirnatrophie beschreibt den langsamen Rückgang von Hirngewebe. Bei jedem Menschen schrumpft das Gehirn in natürlichem Maße mit dem Älterwerden. Bei MS kommt es unbehandelt jedoch zu einer schnelleren und stärkeren Abnahme des Hirnvolumens. Die Folge daraus können dauerhafte kognitive sowie motorische Einschränkungen sein.
Kognitive Reserve und Hirnatrophie
Bereits von Anfang an kommt es bei MS zu einem erhöhten Rückgang des Hirngewebes (Hirnatrophie), welcher oftmals nicht gleich bemerkt wird. Grund hierfür ist die sogenannte kognitive Reserve unseres Gehirns. Sie beschreibt die Fähigkeit des Gehirns, Nervenschäden bis zu einem gewissen Maß auszugleichen. Ist die kognitive Reserve jedoch verbraucht, kann sich der Verlust von Hirngewebe in dauerhaften Beeinträchtigungen bemerkbar machen.